Auf dem hohen Berg

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Auf dem hohen Berg
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Stefan König

Auf dem hohen Berg
Eine Liebesgeschichte.
Anno 1906 auf der Zugspitze

BERG & TAL Verlag

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Nachsatz

Kapitel 1

Im Oktober des Jahres 1906, früh am Morgen eines wundervollen, aber kalten Herbsttages, machte sich im Werdenfelser Reinthal eine aus Menschen und Tieren zusammengesetzte Gruppe auf den Weg. Fünf Männer, sechs Maultiere und ein Meteorologe. Bei Letzterem handelte es sich um Anselm Straub, der erst vor wenigen Wochen seinen siebenundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Er war bestimmt dazu, als Wetterwart den bevorstehenden Winter auf der Zugspitze zu verbringen.

Ganz allein auf Deutschlands höchstem Berg, zweitausendneunhundertvierundsechzig Meter hoch.

In diesen Hochlagen dauert der Winter lange. Erst Mitte Juni des darauffolgenden Jahres sollte der Wetterwart abgelöst werden. Straub würde also acht Monate lang die Temperaturen und den Luftdruck überwachen, die Windgeschwindigkeiten und die Schneehöhen. Er würde die Wolken studieren und die Fernblicke vermessen. Und er würde Buch führen über das Wesen des Wetters und der Natur.

Seine wichtigste Aufgabe freilich war, täglich Wetterprognosen ins Tal zu melden. Dafür gab es ein Telefon; die Leitung war 1896 von Garmisch herauf mühsam verlegt und seither mehrfach ausgebessert und dem neuesten Stand telegraphischer Technik angepasst worden.

Die kleine Expedition war am Tag zuvor in Partenkirchen aufgebrochen. Angeführt vom alten Dengg, der jede Spitze und jede Falte seines Gebirges kannte, und der deshalb keine Kraxe zu schultern und kein Muli zu treiben hatte. Seine Aufgabe bestand darin, vorneweg zu gehen und auf die nicht unerheblichen Gefahren des Gebirges zu achten. Er hatte als Führer einen guten Ruf, bärbeißig, aber zuverlässig. Mürrisch, aber erfahren und dazu ausgestattet mit einem Riecher für den richtigen Weg.

»Mir sind spät dran«, murrte er. »Oktober ist spät fürs Naufgehen zum Zugspitz.«

Dengg fürchtete einen Wetterumschwung, gar einen plötzlichen Winter­einbruch.

Aber der Meteorologe hatte ihn nachsichtig lächelnd beruhigt. Er war nicht nur ein Mann der Wissenschaften, er war, trotz seiner Jugend, gesegnet mit besten Instinkten, zumindest was das Wetter betraf.

»Wenn Schnee käme«, hatte er zum alten Dengg gesagt, »dann würde ich es beim Pissen spüren. Und zwar eine Woche im Voraus.«

Die Maultiere waren mit all dem beladen worden, was Straub in den kommenden Monaten in seiner völligen Abgeschiedenheit benötigen würde. Lebensmittel, Kleidung, Wäsche, Hygieneartikel. Ein zweites Paar Bergstiefel (das andere trug er an den Füßen), Stulpenstiefel, Hauspantoffel und ganz normale Haferlschuhe. Medizin, Schnaps, Pfeifentabak. Schreibzeug für seine persönlichen Aufzeichnungen. Bücher zu Studienzwecken und Bücher zur Unterhaltung. Außerdem den Jahrgang 05 der Deutschen Alpenzeitung, weil er noch viele Beiträge lesen wollte, zu deren Lektüre ihm immer die Zeit gefehlt hatte. Nicht zu vergessen das Grammophon, das ihm seine Mutter gekauft und ihm bei der Abreise, gleichsam als Überraschung, gut verpackt unter den Arm geklemmt hatte. »Auf die Scheiben musst du besonders aufpassen, mein Junge«, hatte sie gesagt. »Die brechen ja so leicht.«

Zuerst war ihm dieses liebevolle Geschenk gar nicht genehm gewesen. So viele Umstände, Unkosten. Wegen ihm! Und transportiert werden musste das ja auch. Ob das wohl gut ginge! Doch dann hatte er begonnen, sich allmählich anzufreunden mit dem Gedanken, dort droben, im Alleinsein, jederzeit Musik genießen zu können.

Arien von Caruso. Den Chor aus Nabucco. Wiener Walzer. Märsche. Und Klaviermusik von einem gewissen Scott Joplin. »Ist auch was für junge Leute dabei«, hatte seine Mutter gesagt.

Dort droben könnte er zu jeder Tages- und Nachtzeit Musik hören, hatte er überlegt. Laut, wenn er wollte. Musste auf niemanden Rücksicht nehmen. Ja, sogar tanzen konnte er, wenn ihm der Sinn danach stand. In Bergstiefeln und langen Unterhosen, wenn es ihm so gefiel.

Straub musste lächeln bei dieser Vorstellung.

Die Träger und Treiber waren junge kräftige Männer. Sie waren es gewohnt, im Wald und auf den Höfen zu arbeiten. Sie waren stark und genügsam, ausdauernd und wortkarg. Die Tour auf die Zugspitze war für sie Zubrot. Während der Sommermonate versorgten sie mit ihren Mulis die Hütten im Reinthal und auf dem Gipfel. Und nun, seit 1900 der erste Meteorologe auf der Zugspitze Quartier genommen hatte, auch noch das Observatorium. Ihre Gesichter waren vom Wetter gegerbt, einer hatte rote Wangen wie ein kleines Kind. Die anderen trugen wolkige Bärte und ihre Hände waren groß und schmutzig.

Wahrscheinlich waren auch ihre Gedanken schmutzig.

Straub dachte an den Abschied am Vortag, als Elisabeth, seine Verlobte, und ihr Vater am Ende des Ortes umgekehrt waren, immer wieder sich umschauend nach ihm und seiner Truppe, immer noch einmal winkend, dann aber feste ausschreitend, um den Ein-Uhr-Zug nach München noch zu erreichen. Er dachte an den Moment, da sein Schwiegervater in spe, der Amtsgerichtsrat Hofbauer, ihn an beiden Schultern gepackt und ihn für einen kurzen Moment an sich gezogen hatte. In seinem Blick lag Anerkennung, lag Respekt, lag Vertrauen und auch die Zusicherung, dass er ihm, nach seiner Rückkehr vom hohen Berg, die Tochter überlassen würde. Und der Amtsgerichtsrat hatte es sodann gestattet, dass seine Tochter ihren Versprochenen zart auf die Wangen küsste, errötend dabei, weil die derben Mulitreiber ungeniert zusahen und zu grinsen anfingen und zwischen den buschigen Bärten ihre Zähne zeigten.

Elisabeth hatte ihm mit dem Daumen ein Kreuzzeichen auf die Stirn gemalt, und wahrscheinlich hatten sich die Kerle derweil vorgestellt, wie sie wohl nackt aussehen würde. Was die natürlich einen Dreck anging. Wusste er es doch selbst nicht, und er kannte sie jetzt immerhin schon fast zwei Jahre. Aber alle Zusammentreffen hatten im Beisein des Amtsgerichtsrates oder seiner Gemahlin stattgefunden, und es hatte immer nur wenige Minuten der ungestörten Zweisamkeit gegeben, gerade lang genug, um ihr mit der Zunge die Lippen auseinander zu schieben oder einige flüchtige Augenblicke lang den von mehreren Lagen der Bekleidung bedeckten Busen zu betasten oder auch, was sehr selten vorkam, ihre prüfende Hand ein paar Sekunden zwischen seinen Beinen zu spüren. Elisa­beth würde keinen Grund haben, unzufrieden zu sein, da war er sich gewiss.

Unterm Kochelberg, dort wo die Partnach das flache, mit unzähligen Heustadeln bestückte Wiesen- und Weideland erreichte, waren sie aufgebrochen. Am Bach entlang, der jetzt, anders als zur Zeit frühsommerlicher Schneeschmelze, fast schon gemächlich daherkam.

Bald war es steil hinaufgegangen. Unter sich hörten sie das Wasser in der engen Klamm tosen, über ihnen wurden allmählich die Berge frei. Schon bei der stillen Partnachalm und dann auf dem Weiterweg zur Einöde des Reinthaler Hofs hatten sie unverstellte Ausblicke gehabt auf den Höhenzug des Wettersteinkammes und zu den Dreithorspitzen, die sich markant über dem Schachen erhoben.

Da drüben war ich auch schon, hatte er sich erinnert. Beim Königshaus, vor Jahren.

Er war nämlich schon einige Male in diesem Gebirge unterwegs gewesen, alleine oder mit Kommilitonen, war auf den Wank gestiegen und hinauf zum »Bauern am Eck«, er war zum Schachen gewandert und hatte von dort ins lange Reinthal hinuntergesehen. Ja, selbst die Zugspitze hatte er sich schon erobert, und zwar von Norden her, auf dem kühnen und abenteuerlichen Weg durch das Höllenthal. Damals noch nicht ahnend, dass der Gipfel einmal für längere Zeit seine Heimstatt werden würde.

Auch anderswo war er bergsteigerisch herumgezogen, im Karwendel zum Beispiel, in den Berchtesgadenern und im Allgäu. Aber kein anderes Gebirge hatte ihn je so zu faszinieren vermocht wie eben jener Wetterstein, dieses wuchtige Massiv zwischen Mittenwald im Osten und Ehrwald im Westen, zwischen Telfs im Süden und Garmisch und Partenkirchen im Norden. Der Anblick, der sich vor ihm aufgetan hatte, wann immer er mit der Bahn von München her angereist kam, war für ihn einfach unvergleichlich. Die elegante Pyramide der Alpspitze, der aufstrebende Grat über die Höllenthalspitzen zur Zugspitze und die vorgelagerten Wehrtürme der Waxensteine. Wer das zu sehen bekam und ein kräftiger Kerl war, der konnte doch gar nicht anders, als da hinaufzuwollen, ganz hinauf bis dorthin, wo die Gipfelfelsen den kalten blauen Himmel berührten.

 

Weil Straub seinen Gedanken und Erinnerungen so sehr nachgehangen hatte – vielleicht lag es aber auch an dem schwerfälligen Trott, den die üppig beladenen Maultiere der Gruppe als Marschgeschwindigkeit vorgaben –, bemerkte er zunächst gar nicht, dass sie wieder an die Ufer der Partnach gekommen waren. Ihr Weg, recht ordentlich angelegt und normalerweise mit nicht allzu viel Beschwer zu begehen, hatte fortan immer tiefer talein geführt: zur Linken der Bach, zur Rechten dichter Mischwald, der sich bis an ihren Steig herandrängte.

»Nächst’s Jahr wird man den Weg ausholzen müssen«, hatte der Führer Dengg gesagt. Und die Maultiertreiber hatten genickt.

»Drecksarbeit«, hatte einer gemault.

Immer wieder klatschten den Männern die Äste von Büschen ins Gesicht, und bisweilen erforderte es einige Mühen, einen im letzten Herbststurm entwurzelten Baum zu umgehen oder zu übersteigen. Das Schlimmste aber war nicht der Zustand des Weges. Das Schlimmste waren die Mücken, die sich in dieser noch so talniedrigen Region entlang des Wildbaches und seiner Zuflüsse versammelt hatten und ausgehungert und gierig auf die wenigen Menschen warteten, die in diesem Jahr noch zur Angerhütte oder zur Knorrhütte gingen beziehungsweise von diesen weltentlegenen Häusern herunterkamen. Überall schienen diese Biester zu lauern, um in surrenden Attacken die nackten Stellen an den Körpern der Männer anzugreifen.

Ständig war das Klatschen zu hören gewesen, wenn sich wieder einer mit der flachen Hand in den Nacken, auf die Stirn oder die Wange schlug. Meist freilich war es vergeblich.

Aber der Anstieg war nicht nur mühsam. Er bot immer wieder auch berückende Momente. So beispielsweise beim moosbedeckten Quellenboden der »Sieben Sprünge«, wo auf einer Tafel ein Gedicht zu Verweil und Besinnung mahnte: »Halte Rast, Du fröhlicher Geselle, der Du dem höchsten Ziele strebest zu! Es lädt der Felsen, es lädt die Quelle, Dich ein zu süßer, träumerischer Ruh …«

Was freilich außer Straub keinen aus der Gruppe interessierte. Achtlos zogen sie weiter, gar nicht bemerkend, dass ihnen der Meteorologe kurzzeitig abhanden gekommen und dann wieder mit großen Schritten nachgehastet war.

»Ist von einem Stadterer, das Versl«, wusste Dengg immerhin zu sagen.

»Das Taferl steht schon ein paar Jahr’ dort. War einfach auf einmal da.«

Ein anderer Höhepunkt des Marsches war das Erreichen der Blauen Gumpe bald nach dem lyrischen Intermezzo an den Quellen. Hier staute sich die junge Partnach zu einem kleinen See, der je nach Lichteinfall seine Farbe von tiefem Blaugrün bis zu leuchtendem Azur veränderte. Ein Wasser wie aus den Märchen der Kindheit.

Vielleicht würde ein Bad darin Unsterblichkeit oder zumindest Unverwundbarkeit verleihen – wenn es nicht gar so kalt wäre. Vielleicht waren die Fische verzauberte Sünder und die Frösche, die nah dem Ufer quakten, verwunschene Prinzen. Vielleicht kam des nachts das wundersame Einhorn hierher, um mit diesem kostbaren Nass seinen Durst zu löschen.

Unsinn, dachte Straub, der alles in allem ein mehr technischer denn romantischer Mensch war. Und doch hätte er hier gerne bleiben wollen, eine halbe Stunde wenigstens, lieber noch mehr. Die Blau- und Grüntöne der Gumpe, die Gelb-, Braun- und Rosttöne der Laubbäume ringsumher – von dieser Stelle ging ein Zauber aus, der einen träumen machte, der einen nicht mehr weiterziehen lassen wollte.

Aber Dengg drängte zur Eile. Der Weg war immer noch weit. Und um diese Jahreszeit waren die Tage kürzer, als ihnen jetzt lieb sein konnte.

Als sie die kleine Hütte am Reinthalanger erreicht hatten, waren schon erste Sterne am dämmernden Himmel gestanden und es war empfindlich kalt geworden. Dass Dengg zwei junge Burschen vorausgeschickt hatte, beide gewiss nicht älter als fünfzehn Jahre, stand nun als Beweis für seine Umsicht und Führerqualität. Der Ofen in den Stube war geheizt und verströmte wohlige Wärme. Das Mus aus Milch, Butter, Mehl, Käse und kleingehacktem Brot, das bald schon in der großen Pfanne garte, machte die Bäuche voll. Und die Flasche mit klarem Schnaps, die anschließend von Mund zu Mund ging – nur die beiden Buben, die sich mittlerweile auch um die Tiere gekümmert, sie trocken gerieben und ihnen zu Fressen gegeben hatten, bekamen nichts davon ab – sorgte dafür, dass die Müdigkeit schneller einsetzte, als der Mond über dem gewaltigen Hochwanner aufsteigen konnte. Bald lagen sie alle dicht an dicht im engen Lager, ruhten auf strohgefülltem Bettzeug und unter kratzigen Decken. Bald schnarchten die Treiber und Träger, und bald auch der alte Dengg. Nur Straub hatte sich unruhig hin und her geworfen, müde vom langen Anstieg, müde vom Alkohol, aber schlaflos im Lärm des Schnarchens und im bangen Vorgefühl, was ihn von nun an erwarten würde. Erst gegen Morgen war er in einen traumreichen Schlaf gefallen, hatte das ganze Tal in silbernen Tönen gesehen und dazu das Einhorn, weiß, wie es stolz und scheu zugleich zwischen silbern glänzenden Farnwedeln und Millionen von nachtnassen Schachtelhalmen einherschritt.

So begann er denn auch seinen Tag mit schweren Lidern und mit Gänsehaut unter der so warmen Joppe. Eigentlich hatte er sich waschen wollen am kalten Gebirgsbach, der in nur ein paar Fuß Entfernung an der leicht erhöht stehenden Angerhütte vorbeirauschte. Aber als er den Atem der Männer in kleinen Wölkchen aufsteigen sah, als er sah, dass die Leiber der Maultiere in der morgendlichen Kälte zu dampfen schienen, verkniff er sich diesen Vorsatz. Keiner wusch sich, warum hätte er es tun sollen.

Er ging als Letzter der Gruppe, die dem Pfad durch ein schier endlos breites, steiniges, trockenes Bachbett folgte. In einer langen Linie wand sich der Tross Richtung Talschluss, wo es dann gelten würde, einen steilen Aufschwung hinauf zur Knorrhütte zu meistern.

Zwei der Maultiere waren mit Briketts beladen, um auf der Station die Vorräte an Heizmaterial aufzustocken. Einer der Männer trug auf seiner Kraxe eine mit Leinen überdeckte Vogelvoliere. Zwei Zierfinken wurden durch das Tuch gegen Kälte und Zugluft geschützt, aber auch vor allzu großen Aufregungen, die eine solche Bergtour für sie bringen würde und die ihre winzig kleinen Herzen vielleicht nicht auszuhalten vermochten.

Es war der Wunsch seines Vorgesetzten gewesen, die Vögel mitzunehmen. Das sei gut gegen die Einsamkeit, hatte er gemeint. »Beobachten Sie die Tiere«, hatte er gesagt. »Achten Sie auf ihr Verhalten, wenn starke Wetterwechsel bevorstehen. Ich bin mir ganz sicher, Straub, dass selbst diese gezüchteten Ziervögel noch über hinreichend Instinkt verfügen und wir noch was lernen können von ihnen …«

Der Aufstieg zur Knorrhütte war mühsam. In steilen Serpentinen wand sich der Steig zwischen hingeduckten Krüppelkiefern und ausgewaschenem Kalkgestein empor. Die Maultiere gingen in stoischer Gelassenheit, wiegten dabei ihre Lasten hin und her, schienen vor der zunehmenden Tiefe keinerlei Angst zu haben.

Die Männer wischten sich mit ihren schmutzigen Sacktüchern immer wieder die Stirn. Trotz der Frische des Spätherbstes war der steile Aufstieg dazu angetan, ihnen den Schweiß aus den Poren zu treiben.

Bei einer kurzen Rast im Stehen nutzte Straub die Gelegenheit, zurückzublicken.

Der Reinthalanger lag weit unter ihnen, winzig die Hütte, in der sie die Nacht verbracht hatten. Gewaltige Felsberge standen dem Tal Spalier. Still und einsam lag es da, keine Menschenseele war unterwegs. Außer ihnen natürlich.

Sie waren viele Stunden in dieses Tal hineinmarschiert, hatten die Zivilisation völlig hinter sich gelassen. Von Garmisch und von Partenkirchen war kein Hausdach und kein Kirchturm mehr zu sehen. Sie befanden sich inmitten einer hochalpinen Wildnis. Mochten auch im Sommer hier die Bergsteiger unterwegs sein, auf den Steigen hinauf zur Zugspitze die meisten, die Verwegeneren von ihnen aber auch in den felsigen Wänden und oben auf den schmalen Graten, so herrschte nun, so kurz vor dem unvermeidlich bevorstehenden Wintereinbruch, vor allem das Gefühl völliger Weltabgeschiedenheit.

Alles war leer jetzt. Die Berghütten unbewirtet und ohne Besucher. Die Wände und die Grate vereinsamt. Die Schluchten und Täler bereit zum Winterschlaf. Wie schon in der Nacht, überkam ihn jetzt die Furcht vor der langen Zeit, die vor ihm lag.

Ludwig hat das gemocht, dachte Straub. Ihn scheint dieses Alleineinsein erfreut zu haben. Fort von der Stadt, fort von der Politik, fort von den Regierungsgeschäften.

Irgendwo, da draußen im Norden, rechterhand auf einer Anhöhe, musste ja das Königshaus stehen. Ein hoher Thron über dem Reinthal. Fürstlich und spartanisch zugleich.

Es waren schöne Tage, an die Straub sich gern erinnerte. Im Frühsommer vor drei Jahren. Oder waren es vier? Jedenfalls ausgesprochen schöne Tage.

Er musste sich losreißen, musste an etwas anderes denken. Das Gefühl der Verlorenheit, das in ihm wie eine böse Kälte aufstieg, musste er verscheuchen.

Doppelt energisch schritt er nun aus, gab einem Muli im Vorbeigehen einen Klaps, versuchte bei der Rast an der winterfest gemachten Knorr­hütte mit den wortkargen Männern wenigstens ein bisschen ins Gespräch zu kommen, und ließ sich dann auch von der Wüste aus Geröll, Sand, Stein und Schnee, über die ihr Weiterweg führte, nicht mehr ins Bockshorn jagen.

Er hatte seine Entscheidung getroffen, gegen so manchen Rat wohlmeinender Freunde. Er hatte sich entschieden, wie ein dem Schweigegelübde verpflichteter Mönch für Monate allein und in Abgeschiedenheit zu leben.

Jetzt war es so weit. Auch wenn er noch in Begleitung von Dengg und den anderen Männern war, so handelte es sich doch nur mehr um knappe zwei Tage, ehe er ganz auf sich gestellt sein würde.

Ich bin bereit, dachte er. Und wie zur Bekräftigung sagte er es sich auch noch leise vor: »Ich bin bereit!«

Kapitel 2

Bei Frau von Berneis, Witwe des ehemals im ganzen Reich bekannten und angesehenen Großkaufmannes Fritz von Berneis – Hauptsitz in Dresden, Dependancen in Hamburg, Prag und Wien – begann wieder jene Unruhe, die in gewisser Regelmäßigkeit von ihr Besitz ergriff.

Nicht etwa, dass sie ansonsten als ruhig oder gar besonders ausgeglichen zu bezeichnen gewesen wäre. Weit gefehlt! Sie hatte das Temperament ihrer argentinischen Mutter geerbt – und dazu die Sturheit ihres Vaters, der beharrlich, verbissen und rücksichtslos gegen andere wie gegen sich selbst eine kleine Reederei in Warnemünde zu einigem Erfolg gebracht hatte.

Als ihr Gemahl starb – vor nunmehr fast sieben Jahren – da war sie gerade erst fünfunddreißig. Er hinterließ ihr ein enormes Vermögen, eine herrschaftliche Villa samt Personal an den Elbwiesen östlich der Stadt Dresden und, wie es schien, jede Menge Langeweile. Die Ehe war ja kinderlos geblieben. Die Ärzte hatten nie herausfinden können, woran es lag. Ob sie unfruchtbar war? Ob er mit seinen mehr als sechzig Jahren nicht mehr zeugungsfähig war? Aber, ich bitte Sie, Herr von Berneis, Sie sind doch in den allerbesten Jahren. Vielleicht, so vermutete einer der zu Rate gezogenen Spezialisten, vertrugen sich einfach ihre Säfte nicht wie es erforderlich wäre, um das harrende Ei zu befruchten.

Die Firma war an den Bruder gegangen, und das war ihr nur Recht gewesen. Sie wollte mit alldem auch gar nichts zu tun haben. Aber, was wollte sie tun?

Es war ihr unruhiges Gemüt, das ihr die Entscheidung, fortan einen ganz erheblichen Teil des Jahres auf Reisen zu verbringen, leicht machte. So besah sie sich die großen Städte Spaniens, war in Madrid und Barcelona, in Malaga und Sevilla. Sie verbrachte Wochen in Rom, in der Toskana und, von der Spiritualität des Ortes tief beeindruckt, am Fuße des umbrischen Monte Subasio, wo der heilige Franz von Assisi gewirkt hatte. Sie fuhr mit dem Schiff auf dem Rhein von der Schweiz bis nach Holland, ohne je das Verlangen zu haben, irgendwo zu bleiben. Am ehesten noch stellte sich dieses Empfinden ein, wenn sie in den Bergen war, tief im südlichsten Bayern, im sogenannten Werdenfelser Land.

 

Noch zu Lebzeiten ihres Mannes war es üblich, einmal im Jahr nach Partenkirchen zu reisen und dort, in der heimeligen Villa Alpenblick, zwei oder drei Wochen zur Sommerfrische zu residieren.

Oh, es gab mondäne Hotels in Partenkirchen und im Nachbarort Garmisch. Es gab Kurhäuser und Residenzen. Aber ihr Gemahl bevorzugte zumindest während dieses Erholungsaufenthaltes einen etwas reduzierten Komfort, ein etwas weniger öffentliches Leben. Zu gut Deutsch: Er wollte seine Ruhe haben. Was er so ähnlich gern auch zum Ausdruck brachte: »Weißt du, meine Liebe«, pflegte er zu sagen, »ich bin so froh, endlich mal meinen Frieden zu haben.«

Auch nach seinem überraschenden Tod hatte Frau von Berneis – Lidia, wie sie mit vollem Namen hieß, oder, noch genauer gesagt: Lidia Anna Mercedes – die Tradition der Alpenreise an den Fuß des wuchtigen Zugspitzmassivs fortgesetzt. Sie mochte diese Berge, denn sie waren wie der geahnte Hauch einer Erinnerung an die argentinischen Anden und, vielleicht mehr noch, an die Felstürme des patagonischen Hochlandes, das sie, als Kind noch, bei einer weiten Reise mit Eltern und Hauspersonal zu sehen bekommen hatte.

Als ihr Gemahl noch lebte, hatten sie sich manchmal einen heimischen Bergführer engagiert und waren in das Wettersteingebirge vorgedrungen. Nicht auf die kühnen Gipfel! Das wäre Herrn von Berneis nun doch zuviel gewesen. Zu mühsam und letztlich auch zu gefährlich. Sie, die junge Gemahlin, wäre freilich schon gerne so wo hinauf, um alles einmal von oben zu sehen.

Aber es hatte nicht sollen sein. Der Führer hatte sie zum Schachen geführt, durch die Höllenthalklamm zur Hütte und aus dem Höllenthal heraus übers Kreuzeck, einmal auch durch die Partnachklamm und über den »Bauern am Eck« und das Bergbauernnest Wamberg wieder hinab nach Partenkirchen. Alles schön, alles faszinierend – aber das besondere Prickeln, diese Momente der Spannung fehlten doch fast völlig.

Seit sie allein hierher kam, hatte sie sich keinen Bergführer mehr genommen. Sie erachtete es als unschicklich. Und außerdem hätte sie sich nicht wohlgefühlt in der alleinigen Begleitung eines solch grobschlächtigen Menschen. Sie hatte kleinere touristische Ausflüge auf eigene Faust unternommen, war vor allem dort wieder entlanggewandert, wo sie mit Mann und Führer vor Jahren schon gewesen war, hatte zudem den unschwierigen Wank bestiegen, um von dort eine wirklich unvergleichlich schöne Aussicht zu genießen, und war sogar bis Mittenwald marschiert, ganz allein mit sich, der Sonne, dem Wind, den Düften des Waldes und ihren Träumen, die Welt ganz tief begreifen zu können.

An ruhigeren Tagen wie dem heutigen genoss sie das Frühstück in der Villa. Durch die Fensterscheiben wärmte selbst die Herbstsonne noch sehr angenehm. Und Lidia von Berneis gab sich der Muße hin, im Loisachboten nicht nur Neues aus aller Welt zu lesen, sondern auch »Vermischtes« aus dem Leben und der Gesellschaft in der Provinz.

Danach rüstete sie sich für einen ausgiebigen Spaziergang. Wie so oft, ganz ohne eigentliches Ziel. Sie schlenderte durch die Ludwigstraße mit den Geschäften und den paar Wirtshäusern zur Rechten und zur Linken, blieb, wie jedes Mal, vor den Auslagen der Buchdruckerei Ostler & Bierprigl stehen, und bog bei der Pfarrkirche in die Ballengasse ein. Sie staunte über die grindigen Bauernhäuser mitten im Ort, über die Kargheit des Lebens, das man den Kindern hier ansehen konnte: Barfuß stapften sie durch Matsch und Kuhdreck, aus ihren Hosen waren sie herausgewachsen, die Jacken saßen zu knapp, und dass ihnen der Rotz aus der Nase hing und allmählich in den Mund lief, das schien niemanden zu kümmern.

Sie spazierte auf St. Anton zu, ließ das hoch gelegene Wallfahrtskirchlein dann aber sein, machte mehr oder weniger eine Spitzkehre und nahm den gar nicht so kurzen Weg nach dem Nachbarort Garmisch.

Wie ein Magnet schien der Bahnhof auf sie zu wirken. Er zog ihre Schritte an, sodass sie Partenkirchen verließ und durch abgemähte Wiesen hinüberwanderte, um wenigstens eine Viertelstunde lang den einfahrenden und viel mehr noch den abfahrenden Zügen zuzusehen.

War es Fernweh? Oder lag es einfach nur daran, dass sie den Dampf, den Rauch und den Ruß der Lokomotiven so liebte?

Fernweh allein konnte es gar nicht sein. Schließlich fuhren die Züge von Garmisch aus nicht gerade in die große ferne Welt. Hier hielt kein Orient-Express. Nach Murnau fuhren sie. Und nach München.

Und doch: Sie ertappte sich immer wieder dabei, lustvoller auszuschreiten, je näher sie dem Bahnhofe kam. Sie mochte es, die Fahrpläne zu studieren. Und es machte ihr Freude, jene Menschen zu beobachten, die oft mit viel Gepäck aus den Abteilen stiegen und sich in der neuen Umgebung erst einmal mit gewisser Hilflosigkeit umsahen. Gern besah sie sich die Frauen, ihre üppigen Kleider, ihren Kopfputz und ihre Besorgnis, sich beim Verlassen eines Waggons irgendwo schmutzig zu machen.

Natürlich hatte sie auch ein heimliches Auge für die Männer, die mit den Zügen ankamen oder abreisten. Die strammen und stolzen und dabei doch in ihrer Eitelkeit unerträglichen Herren Offiziere zum Beispiel. Die Sommerfrischler aus den flachen Regionen des Landes, von denen sich manche den Aufenthalt im Gebirge von der Suppe abgespart hatten. Hin und wieder auch Herren von Stand. Bisweilen erschienen ihr gerade die unfreiwillig komisch. Kaum einer aber entlockte ihr ein zweites Hinsehen, gar den Gedanken, wie so ein Herr wohl ohne sein teures Gewand, ohne die zünftige Lodenhose, ohne das Jägerjackett und ohne den Hut samt prächtiger, steil aufgerichteter Feder aussehen würde.

Gern sah sie die Bergsteiger, die mit ihren nägelbeschlagenen Schuhen über den Perron klackerten, pralle Leinenrucksäcke und derbe Hanfseile über den Schultern. Ihre Gesichter und ihre ganzen Erscheinungen legten Zeugnis davon ab, dass diese Welt voller Abenteuer war – man musste nur aufbrechen, hinaus und hinauf.

Und ganz besonders gern beobachtete sie die Kinder. Wenn sie voller Begeisterung ankamen oder wenn sie beim Losfahren die Gesichter gegen die Scheiben drückten und irgendjemandem winkten. Ja, dachte sie dann, für die Kinder ist alles noch Abenteuer.

Und dann war sie immer ein wenig traurig, dass ihre Ehe kinderlos geblieben war.

Ein Kind wenn ich hätte, dachte sie. Aber sie führte diesen Gedanken nie bis zu einem Ende. Nur einfach: Ein Kind wenn ich hätte …

Auch heute nicht.

In melancholischer Stimmung spazierte sie weiter. Die mondänen Quartiere, die in Garmisch entstanden waren, interessierten sie nicht. Das alles hatte sie andernorts bis zum Überdruss genossen. Sie schaute zu den Bergen, die heute nicht ganz klar vor einem milchig bedeckten Himmel standen. Selbst auf den höchsten Gipfeln lag noch kaum Schnee. Die Zugspitze war von Norden her weiß angezuckert, da hatte beim letzten Unwetter Schnee die Felsen verpappt. Aber mehr war es noch nicht. Sie hatte die Berge schon mal im August winterlicher gesehen als nun im vorgerückten Herbst.

Sie musste daran denken, wie am Tag zuvor der Wetterwart verabschiedet worden war. Ein ganz fescher junger Mann. Die Blasmusik hatte gespielt. Der Bürgermeister von Partenkirchen hatte gesprochen und ein Herr von der Meteorologischen Zentralstation München. Die Reden waren langweilig. Aber die Musik war schmissig. Und wenigstens war überhaupt etwas los.

Als der Tross losgezogen war, der Wetterwart, der Bergführer, die Träger und ihre Maultiere, da hatte sie die Männer beneidet um den Aufstieg zur Zugspitze. Ja, da wäre sie am liebsten mit. Wie sie überhaupt nur zu gerne einmal auf die Zugspitze, die höchste Erhebung des ganzen Reiches, hinaufgestiegen wäre. Einmal das Land von ganz oben sehen, wo nichts Höheres mehr ist.

»Wer weiß«, hatte Karl Schaffler, ihr Hauswirt, am Morgen gesagt, »wie lange der Winter noch hinterm Berg hält. Der Himmel … ich weiß net … er macht mir den Eindruck, als wenn der Herbst jetzt bald vorbei wäre.«

Am frühen Nachmittag trank sie ein Kännchen Tee. Sie konnte dabei windgeschützt auf der Veranda sitzen, wo auch einige andere Gäste der Villa Alpenblick die Sonne des späten Jahres auskosteten.

Der Blick war herrlich: Das ganze Massiv lag als malerisch ausgebreitetes Gebirgspanorama vis-à-vis: Die formschöne Alpspitze, die hohe Zugspitze, ein markanter, geradezu Ehrfurcht gebietender Anblick.

»Darf man fragen, gnä Frau, was Sie heut noch vorhaben?«, fragte die immer neugierige, dabei aber gründlich verschwiegene Frau Schaffler.

Lidia von Berneis hatte gar nichts gegen eine kleine Konversation mit den Hausleuten. Schließlich kannte man sich seit etlichen Jahren. Hierher zu kommen war für sie – und für die Schafflers auch – immer mit einer ehrlichen Wiedersehensfreude verbunden.

»Ich werde mir nun endlich mal diese Villa Orient ansehen«, gab Lidia lächelnd zurück. »Seit Jahren weiß ich davon, hab oft davon reden gehört. Und jetzt, am Bahnhof, da hing sogar ein Plakat.«