Czytaj książkę: «Tamy»

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Ich widme dieses Buch Charlotte und Heinz. Ihr fehlt mir für immer.

Impressum

Alle Angaben In diesem Buch wurden vom Autor nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und von ihm und dem Verlag mit Sorgfalt geprüft.

Inhaltliche Fehler sind dennoch nicht auszuschliessen. Daher erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder Autor noch Verlag übernehmen Verantwortung für etwaige Unstimmigkeiten.

Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2018

Werd & Weber Verlag AG, Gwattstrasse 144, 3645 Thun/Gwatt

Autorin: Simone Kosog, 86934 Reichling, Deutschland

Illustrationen: Ludek Martschini, 6006 Luzern, www.martschini.ch

Fotos: Luc Braquet (S. 188), Alessandro Lucioni/IMAXTREE.COM (S. 190 links), PIXELFORMULA/SIPA (S. 190 rechts), Mark Von Holden (S. 191 links), Courtesy of Press Office (S. 191 rechts), Fabien Baron (S. 199), Pierpaolo Ferrari (S. 206/207), Sylwina (S. 208), Nadja Damaso (S. 209), Tamy Glauser (restliche Bilder)

Gestaltung/Satz: Monica Schulthess Zettel, Werd & Weber Verlag AG

Bildbearbeitung: Adrian Aellig, Werd & Weber Verlag AG

Lektorat: Alain Diezig, Werd & Weber Verlag AG

Korrektorat: Lisa Inauen, Werd & Weber Verlag AG

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

E-Book ISBN 978-3-03922-047-2

www.weberverlag.ch www.werdverlag.ch

INHALT

Intro

«Du bist eben anders!»

«Das, was ich bin, kannte ich nicht!»

New York, Heaven and Hell

«She is ready, give her all the castings!»

Auf dem höchsten Level der Fashionindustrie

Tamynique

Why not?

Bilder

Danksagung

Autorenbiographie


INTRO

Es war März 2015, ich gab mir noch diese eine letzte Pariser Fashion Week. Wenn es dann nicht klappen würde, wäre es das gewesen mit dem Modeln, dann würde ich eben etwas anderes machen. Ich war schon dabei, Pläne zu schmieden.

Es lief nichts! Kein Anruf, kein Casting bis kurz vor den Shows, als sich plötzlich meine Agentur meldete. «Wo bist du gerade? Du musst sofort kommen!» – Okay!

In der Agentur wurde ich ins Besprechungszimmer gebeten, einen kleinen Raum mit rundem Tisch, so ziemlich der einzige Platz, an dem man ungestört und ohne Zuhörer sprechen kann. Normalerweise werden hier Treffen mit Kunden abgehalten oder es finden die Teamsitzungen der Booker statt. Als Model betritt man den Raum eher selten. Beim letzten Mal, als ich hier gewesen war, hatten sie mir gesagt, dass mein bisheriger Booker soeben fristlos entlassen worden war. So viel war schief gelaufen in diesem Jahr. Ich fragte mich, was jetzt kommen würde, als die Bookerin schon mit der Nachricht rausplatzte: «Louis Vuitton will dich sehen!»

Louis Vuitton, das war High Class, die Krönung der Branche! Nie im Leben hätte ich gedacht, dass sie dort auch nur das geringste Interesse an mir haben könnten. In der Agentur waren alle aus dem Häuschen, sie coachten mich: «Geh früh ins Bett, sei du selbst, zieh dich an wie immer, Skinny Jeans, du weisst schon, glaub an dich.» All diese Sätze.

Am nächsten Tag betrat ich das Headquarter von Louis Vuitton in der Rue du Pont Neuf, ein sechs oder sieben Stockwerke hohes, von aussen nicht sehr prunkvolles Haus, an dem man leicht vorbeigehen könnte. Sobald man allerdings die Tür öffnet, ist man mitten drin im Louis-Vuitton-Luxus.

Ich fuhr mit dem Aufzug in den zweiten Stock, stellte mich vor und musste erst einmal warten. Ein paar andere Kandidatinnen sassen auch schon da. Alle anderen um mich herum waren beschäftigt. Die Models, die schon gebucht waren, probierten Kleider an, Mitarbeiter liefen gestresst hin und her, weil die Show in einer Woche beginnen würde und noch nichts fertig war. Irgendwann kam eine Frau auf mich zu und erklärte, was zu tun sei: «Hinter diesem Vorhang ist ein langer Raum mit einem Tisch am Ende, an dem ein paar Leute sitzen. Du läufst vor, wieder zurück und noch einmal vor.» Sie wiederholte das bestimmt 15 Mal – Yes, I got the message… Aber gut: Die Mädchen kamen von überall her und einer 16-jährigen Russin, die schlecht Englisch spricht, musste man das vielleicht so oft sagen. Mich machte es eher nervös. Ich wartete, die Frau schaute durch den Vorhang. «Noch nicht…» Sie schaute immer wieder. Dann plötzlich: «Now, now, now!» Ich war dran, ging hinein, machte meinen Job, die Designer wechselten ein paar freundliche Worte mit mir, aber das heisst nichts: Bis heute gelingt es mir nicht, einzuschätzen, ob sie wirklich Interesse an mir haben und ob ein Casting erfolgreich war. Anfangs dachte ich, das geht nur mir so, aber inzwischen weiss ich, dass die anderen Models nach Castings genauso schwimmen.

Und dann war ich auch schon wieder draussen.

Zurück in der Agentur wollten sie alles ganz genau wissen: «Wer war dabei?» Ich hatte keine Ahnung. «Wie sahen sie aus? Beschreib mal.» – «So ein kleiner Mann zum Beispiel mit auffallend blauen Augen.» Sie lachten – das war der Designer Nicolas Ghesquière. Ich erfuhr, dass ausserdem der Art Director, die Stylistin und die Schmuckdesignerin mit am Tisch gesessen hatten. Wir sprachen noch eine Weile weiter, bis sie mir schliesslich sagten: «Du bist gebucht!» Und nicht nur das: Louis Vuitton wollte mich exklusiv. Ich würde bei den Shows ausschliesslich für sie arbeiten!

Ich stand nur noch da und mir liefen die Tränen herunter. Ich war so kurz davor gewesen, aufzuhören – und jetzt Louis Vuitton!

Tatsächlich buchten sie mich dann nicht nur für diese, sondern für die nächsten sechs Shows und plötzlich kamen auch wieder andere Aufträge. Zum ersten Mal wurde ich für die Vogue gebucht und sogar für die italienische, in der Branche das wichtigste Blatt überhaupt. Es lief!


«DU BIST EBEN ANDERS!»

Manchmal sagte Charlotte diesen Satz zu mir. Ich wusste nie genau, was sie damit meinte.

Meistens fiel der Satz an einem der Tage, an denen ich aufgelöst nach Hause kam, entweder, weil ich den Viertklässlern, die mich gejagt hatten, gerade so entkommen war, oder weil sie mich dieses Mal tatsächlich verprügelt hatten. Beides kam regelmässig vor.

Mal waren es die Mädchen, mal die Jungs. Klar war, dass sie sich aus all den Erstklässlern genau mich herausgepickt hatten, kein Versehen. Ich kannte das schon aus dem Kindergarten. Bereits am allerersten Tag war es losgegangen. Ich hatte für dieses besondere Ereignis ein rosa Röckchen ausgewählt, das ich in einem Geschäft gesehen hatte und unbedingt haben wollte. Abgesehen von einem Tutu, ebenfalls in Rosa und ebenfalls heiss begehrt, war das der einzige Rock, den ich je freiwillig angezogen habe. Ich fand ihn wunderschön – die anderen Kinder fanden das ganz offensichtlich nicht. Sie nutzten die erstbeste Gelegenheit, mich draussen, als kein Erwachsener zusah, hin- und herzuschubsen und in den Matsch zu werfen. Als ich nach Hause kam, weinte ich. Das rosa Röckchen war dreckig und zerrissen, ich zog es nie wieder an.

Auch jetzt, während der Schulzeit, kamen sie immer zu mehreren, mal warfen sie mich in einen Dorfbrunnen, mal klauten sie mein Fahrrad und warfen es in eine Mülltonne, mal traten, schubsten oder schlugen sie mich.

Auf meinem Schulweg lag ein grosses Feld, über das ich meist nach Hause ging. Eine Abkürzung, denn gleich dahinter begann unser Grundstück. Für meine Widersacher war das der perfekte Ort, mir klarzumachen, was sie von mir hielten. Ich weiss noch, wie ich einmal an einem Wintertag dort entlang ging, als ich sie schon von weitem kommen sah. Ich rannte so schnell ich konnte, nicht zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, um mein Leben zu rennen. Aber die anderen, dieses Mal waren es zwei Mädchen, waren doppelt so gross und doppelt so schnell. Doppelt so stark waren sie auch: Sie warfen mich in den Schnee, drückten mich nach unten und schaufelten mir mit den Händen Schnee ins Gesicht, immer wieder, bis mein Gesicht vollständig bedeckt war. Ich konnte nichts mehr sehen und bekam keine Luft mehr. Zum Glück hatte unser Gärtner gerade draussen gearbeitet, er rannte los und schrie. Die beiden liefen weg. Nochmal davongekommen.

Zuhause sprach ich wenig von den Übergriffen, aber dennoch liess es sich nicht vermeiden, dass meine Pflegeeltern etwas davon mitbekamen. «Du bist eben anders!», sagte Charlotte, meine Pflegemutter. Der Satz sollte mich trösten, so viel verstand ich immerhin. Anders zu sein war in ihren Augen nichts Negatives, sondern hob mich hervor aus dem Gewöhnlichen und machte mich für sie zu einem sehr speziellen, liebenswerten Menschen. Ich vermutete damals, dass ihre Worte auf meine besondere Lebenssituation anspielten. Meine leibliche Mutter lebte weit weg in den USA und arbeitete mit lauter berühmten Menschen zusammen. Ich konnte nicht mit ihr zusammenleben, sondern war bei Charlotte und Heinz zuhause.

Aber je älter ich wurde, desto deutlicher offenbarte sich mir, dass Charlotte neben all dem und wahrscheinlich sogar in erster Linie mein Aussehen meinte, oder besser: meine ganze Art zu sein.

Ich hatte eine dieser dicken Brillen, die die Augen riesig machen, und nicht nur das: Sie hatte kreisrunde Gläser und der Rahmen war Weiss, Lila und Rosa gemustert. Meine Hautfarbe war viel dunkler als die der anderen Kinder, viel dunkler auch, als sie heute ist. Mein Grossvater mütterlicherseits stammt aus Nigeria, und damals sah man deutlich, dass es da irgendeinen Einschlag gab, wenngleich er nicht wirklich zuzuordnen war. Die Kinder riefen mir «Brillenschlange» hinterher und: «Wasch dich mal, deine Haut ist dreckig!»

Ausserdem war ich jungenhaft, hatte kurze Haare, trug Hosen, nie Röcke, nach dem Kindergarten-Debakel erst recht nicht mehr, bewegte mich auch wie ein Junge. Manchmal beglückwünschten die Leute meine Pflegeeltern oder, in den seltenen Momenten, wo wir zusammen waren, auch meine Mama zu ihrem «hübschen Sohn», was sowohl meine Pflegeeltern als auch meine Mama schnell korrigierten, während es mich nie störte. Eigentlich fand ich es sogar ganz cool.

Meistens zog ich morgens irgendwelche Klamotten aus dem Schrank. Am wichtigsten war es mir, dass ich mich wohlfühlte. Es gab ein paar Anziehsachen, die ich besonders gerne mochte, aber die gefielen den anderen Kindern selten, was sie regelmässig mit Spott und fiesen Bemerkungen kommentierten.

Ich fand mich nicht besonders schön. Ehrlich gesagt, fand ich mich sogar hässlich, aber es machte mir nicht viel aus. Mein Aussehen war keine wichtige Kategorie für mich, es war nichts, worüber ich mir besonders viele Gedanken machte.

Kein Kind bei uns im Dorf war so.

In meiner Klasse kam ich noch halbwegs klar. Ich war nicht wirklich eine Aussenseiterin und zum Beispiel immer gut im Sport, sodass ich nie in die erniedrigende Situation kam, als letzte gewählt zu werden. Aber man fand mich definitiv nicht cool und wollte ganz sicher nicht mit mir befreundet sein.

Ausserhalb der Klasse reizte allein meine Anwesenheit die Kinder offenbar so sehr und entfachte ihre Wut und Ablehnung dermassen, dass sie regelmässig alle ihre Hemmungen vergassen. Ich glaube nicht, dass sie mit dieser Haltung auf die Welt gekommen waren. Ganz früh, als ich noch die Krippe besuchte, waren die Kinder unbekümmert auf mich zugekommen, hatten mich selbstverständlich akzeptiert. Sie hatten damals weder ihre eigene Persönlichkeit noch die der anderen mit vorherrschenden Rollenbildern abgeglichen. Aber bald schon begannen Eltern, Nachbarn, Freunde, Werbeplakate und Medien damit, ihre Botschaften zu hinterlassen. Meine Mitschüler wussten bereits sehr genau, was die Gesellschaft für ein Mädchen vorgesehen hatte, wie es sich anzuziehen, zu bewegen, zu verhalten, und wofür es sich zu interessieren hatte. Davon abzuweichen, war nicht vorgesehen.

Doch egal wie bedrohlich die Situation war, egal wie erdrückend die Übermacht: Mich unterzuordnen und die Schläge über mich ergehen zu lassen war nie eine Option. Vielmehr hatte ich das Gefühl, die Stellung halten zu müssen. Ich wehrte mich, so gut ich konnte, schlug und trat zurück. Das war keine Haltung, die ich mir angeeignet hatte, sondern einfach meine Art zu reagieren. Ich habe keine Ahnung, wem meiner Vorfahren ich diese Stärke zu verdanken habe oder woher diese Energie sonst kommt, aber ich bin sehr dankbar dafür. Es war wohl diese Art zu reagieren, die mich davor bewahrte, ein trauriges Kind zu werden. Denn abgesehen von diesen unberechenbaren Überfällen, die sich durch meine gesamte Grundschulzeit zogen, ging es mir gut in meiner Welt, so verdreht sie für andere auch ausgesehen haben mag.

Dass mein Leben nicht unbedingt gradlinig verlaufen sollte, zeichnete sich schon bei meiner Geburt ab. Es war Ende Dezember 1984, als sich meine Mama und ihre Freunde in einen alten Fiat Panda quetschten, um nach Paris zu fahren und dort Silvester zu feiern. Meine Mama war damals 21 Jahre alt und neugierig auf das Leben. Mit 18 hatte sie angefangen zu modeln und war das erste farbige Model überhaupt, dass von der Agentur Elite unter Vertrag genommen wurde, ohne dass sie allerdings viel Aufhebens darum gemacht hätte. Das war für sie einfach kein Thema. Sie arbeitete unter anderem für Jean Paul Gaultier und Givenchy, Labels, für die auch ich später modeln sollte.

Im Gegensatz zu mir hatte meine Mutter durch ihr Aussehen nie Probleme und wurde wegen ihrer Herkunft nicht infrage gestellt. Zwar war ihre Haut dunkler als die der anderen Schweizer Kinder, aber sie war ein Mädchen, das von allen als süss und exotisch wahrgenommen wurde, und wenn doch mal jemand komisch guckte, waren drei enge Freunde zur Stelle, um sie zu verteidigen. Später, als junge Frau, zog meine Mutter dann ganz andere Blicke auf sich mit ihren schwarzen Haaren, den vollen roten Lippen und ihrem hellen Teint. Sie erzählte mir oft, dass sie eine Prinzessin sei, da ihr Vater in Nigeria den Status eines Königs habe. Meine Oma hatte ihn während des Studiums in Oxford kennengelernt, wo er aber, so geht die Geschichte weiter, nicht bleiben konnte, weil er zurück nach Nigeria musste, um über sein Volk zu regieren. Ich war mir nie sicher, ob das alles stimmte, bis ich viele Jahre später bei meiner Mutter eine edle, aufwendig geschnitzte und verzierte Holzkiste entdeckte, in der sich eine Urkunde befand, auf der sie tatsächlich als Prinzessin bezeichnet wurde. Damals jedenfalls sah meine Mutter aus wie die Sängerin Sade, die ja auch einen nigerianischen Vater hat.

Als sie mit den anderen auf dem Weg zu der Silvesterparty war, wohnte sie bereits wieder in Bern. Das Modeln hatte sie mehr oder weniger aufgegeben. Dass sie hochschwanger war, wusste keiner, auch nicht der junge Mann, von dem sich später rausstellen würde, dass er mein Vater ist, und der ebenfalls mit dabei war.

Meine Mama war eine schlanke Frau und ihr Bauch wohl auch nicht riesig, sie hatte gerade mal 2,5 Kilo zugenommen. Es war ihr gut gelungen, das zu kaschieren.

Über die Silvesterfeier sprach später niemand mehr, dafür umso mehr über die Bauchschmerzen, die meine Mutter am 2. Januar plötzlich bekam. Es mag an der holprigen Fahrt über viele Stunden im Fiat gelegen haben, dass die Wehen früher einsetzten als errechnet. Ihre Freunde, immer noch ahnungslos, brachten sie ins nächste Spital, das vor allem aus einer Unfallchirurgie bestand. Eine Geburtsstation gab es nicht, umso mehr freuten sich die Ärzte und Schwestern, dass sie dieses Mal keinen Verletzten zu versorgen hatten, sondern ein kleines Mädchen zur Welt bringen durften. Leiter der Abteilung war ein schwarzafrikanischer Arzt, was damals noch äusserst selten war. Ich finde das im Nachhinein irgendwie magisch.

Wie alle anderen mitgereisten Freunde besuchte auch mein Vater meine Mutter im Krankenhaus, allerdings ohne mich zu sehen. Dazu würde es erst später in der Schweiz kommen. Es sollten viele Jahre vergehen, bis wir beide uns wirklich kennenlernen würden.

Die Mannschaft bepackte den Fiat Panda und machte sich bereit für die Rückfahrt nach Bern, allerdings ohne meine Mama. Sie würde noch ein paar Tage im Spital bleiben, damit ich gut versorgt wäre, und später mit mir im Zug hinterherfahren.

Wir wohnten zunächst in der Berner Altstadt, anschliessend zogen wir 40 Kilometer weiter in die Stadt Biel, so viel kann ich sagen. Wie es dann genau mit meinem Leben weiterging, erzählt meine Mutter anders, als es meine Pflegeeltern erzählen. Die Geschichten gehen auseinander und später würde mein Vater eine weitere Variante in den Topf werfen. Man weiss ja, dass jede Erinnerung stark persönlich gefärbt ist und bereits kurz nach einem Ereignis entscheidend von der Realität abweichen kann. Wer was glauben möchte, ist in meinem Fall durchaus entscheidend: Laut meiner Mama habe ich erst mit sechs Jahren dauerhaft bei meinen Pflegeeltern gelebt, in der Version meiner Pflegeeltern dagegen war ich bereits viel früher bei ihnen. Es gibt tatsächlich Fotos von mir als Baby, die mich in ihrem Haus zeigen, aber das sagt noch nicht viel: Dass sie schon, als ich klein war, regelmässig auf mich aufgepasst hatten, bestätigte auch meine Mama. Damals gehörte der Sohn meines Pflegevaters zu ihrem Freundeskreis und begeistert hatten sein Vater Heinz und dessen Frau Charlotte Unterstützung angeboten: «Ihr seid jung, zieht ruhig los, wir passen auf die kleine Tamy auf.»

Immer öfter blieb ich abends bei ihnen, bald auch über Nacht und irgendwann dann noch viel länger. Auch mein damals noch potenzieller Vater war für meinen Pflegevater kein Fremder. Die Familien kannten sich schon lange, und als kleiner Junge hatte mein Vater sogar hin und wieder in dem Haus gespielt, in dem ich später aufwachsen sollte.

Aber noch war sein Status nicht geklärt. Der Vater einer Freundin meiner Mutter, Professor im Inselspital in Bern, bot an, einen Vaterschaftstest durchzuführen. Da es damals noch nicht möglich war, die DNA abzugleichen, wurde unser beider Blut untersucht. Das Ergebnis war vor allem für meinen Vater immer noch nicht eindeutig genug: Es lag irgendwo bei 90, aber eben nicht bei 100 Prozent.

Dann ging meine Mutter nach Köln, um dort eine Ausbildung zur Maskenbildnerin zu machen. Übereinstimmend sagen die Geschichten, dass ich ab diesem Zeitpunkt bereits unter der Woche bei meinen Pflegeeltern lebte. Meine Mutter sah ich an den Wochenenden. Für mich war das in Ordnung. Ich jammerte nicht, vermisste sie nur selten. Als Kind nahm ich meine Welt so selbstverständlich hin, wie sie sich mir bot, und meine Pflegeeltern waren grossartige Menschen, bei denen es mir gut ging.

Auch nach meinem Vater fragte ich nicht. Als ich zwei Jahre alt war, führten die ersten Labore in London DNA-Analysen durch und mein Pflegevater unternahm einen weiteren Anlauf und schickte Genmaterial von mir und meinem Vater dorthin. Mein Vater würde später erzählen, wie er kurz darauf in die Kanzlei seines Anwalts kam und dieser eine Flasche Champagner auf dem Schreibtisch stehen hatte. Mein Vater habe sich gesetzt und gesagt: «Okay, entweder stossen wir darauf an, dass ich nicht Vater bin, oder darauf, dass ich Vater bin.» Diesmal war das Ergebnis eindeutig: Stefan Hofer, Student aus gutem Hause, 27 Jahre alt, war zu 99,98% mein Vater.

Seine Gefühle waren wohl eher gemischt. Vor allem war da Freude, erzählte er mir später. Andererseits war er mitten im Studium, hatte Karrierepläne und ansonsten selbst noch keinen festen Stand im Leben. Wie sollte das gehen?

Mein Pflegevater wusste eine Lösung. Er schlug ihm einen Deal vor: Er, Dr. Heinz Winzenried, würde die Verantwortung übernehmen und für mich sorgen. Es würde mir an nichts fehlen, dafür garantiere er. Die teuflische Seite des Pakts: Im Gegenzug sollte sich mein Vater dazu verpflichten, sich aus meinem Leben rauszuhalten. Er dürfte keinerlei Kontakt zu mir aufnehmen, solange ich nicht selbst danach fragen würde. Heinz hatte mit seiner ersten Frau drei Kinder gehabt, von denen zwei an einer Nervenkrankheit gestorben waren, und auch um ihren dritten Sohn hatten sie lange gebangt, bevor sie daran zu glauben wagten, dass er überleben würde. Jetzt wollte Heinz sichergehen, dass er dieses weitere Kind, das so unerwartet zu ihm und Charlotte gekommen war, nicht ebenfalls wieder verlieren würde. Wie Heinz hatte auch Charlotte bereits einen erwachsenen Sohn aus erster Ehe, und für beide war die Möglichkeit, gemeinsam für mich sorgen zu dürfen, ein Wunder.

Mein Vater willigte ein.

Natürlich war das der bequemste aller Wege für ihn, aber ich glaube nicht, dass es ihm nur darum ging. Er sah auch, dass ich bei Heinz und Charlotte ein Leben haben würde, dass er mir in seiner aktuellen Situation nie hätte bieten können. Bereits nach kurzer Zeit habe er seine Entscheidung bereut, erzählte er mir später. Aber er war schon damals jemand, dem Prinzipien wichtig waren. So eine Abmachung ging man nicht leichtfertig ein, sondern hielt sich auch gefälligst daran. Ein Mann – ein Wort.

Ich war noch klein, vielleicht vier Jahre alt, als Heinz und Charlotte mit mir in den Schweizerhof zum Essen gingen. Mit uns am Tisch sassen mehrere ältere Herren, darunter auch der Politiker Adolf Ogi. Einer der Männer sah mich ständig an und küsste mich dann auch noch auf den Kopf. Ich fand das merkwürdig, höchst irritierend. Auf dem Rückweg erzählte mir Charlotte, dass dies mein Grossvater gewesen sei. Jetzt war ich erst recht entsetzt: Warum hatten sie mir das nicht vorher gesagt?

Er war in dieser Zeit der einzige Anknüpfungspunkt zu meinem Vater, aber vor allem war er einer der ganz wenigen Blutsverwandten in meinem Leben. Sonst gab es da nur noch meine Mutter und ihre Tante. Allein schon deshalb waren die Treffen mit ihm, von denen es im Abstand von einigen Jahren mehrere gab, auch für mich besonders. Ich fand es spannend, war neugierig, und, wie er mich, musterte ich ihn. Er erzählte mir auch von meinem Vater: Was er so machte, wie er war, wie er wohnte. Über ein mögliches Treffen sprachen wir nie. Er fragte mich nicht danach und ich ihn nicht. Inzwischen weiss ich, dass mein Grossvater meinem Vater nach diesen gemeinsamen Essen jedes Mal von mir erzählte.

Dann, als ich sechs Jahre alt war, fuhr meine Mama nach Los Angeles, zunächst für drei Monate. Als sie zurückkam, war sie voller Begeisterung, wollte dort leben, die Chancen ergreifen, die sich ihr dort in Fülle boten – aber mit einem kleinen Kind?

Meine Pflegeeltern und meine Mama fanden, dass es das Beste für mich wäre, wenn ich bei Charlotte und Heinz bliebe. Es wäre nicht gut für mich, im amerikanischen Schulsystem gross zu werden, hier in der Schweiz hätte ich viel bessere Voraussetzungen. Und wie sollte meine Mutter sich um mich kümmern und sich gleichzeitig ein Leben aufbauen? «Du weisst, dass ich dich mehr lieb hab als alles andere auf der Welt», beteuerte meine Mama.

Ich glaubte ihr und bin mir auch heute noch sicher, dass sie das wirklich so meinte, und ich wollte eine gute Tochter sein, also nickte ich und war tapfer. Ich kannte das ja auch schon, dass meine Mama oft nicht da war. Gemeinschaftlich lobten sie mich für mein Verständnis; betonten, wie vernünftig ich doch schon sei. Meine Mutter muss damals das Gefühl gehabt haben, ihr Leben, das durch meine ungeplante Ankunft plötzlich so limitiert gewesen war, doch noch ausleben zu können. Gleichzeitig sah sie, dass Heinz, Charlotte und ich mehr als ein gutes Team waren. Die beiden liebten mich und ich fühlte mich wohl bei ihnen, wir passten zusammen. Im Laufe der Jahre war viel Verbundenheit und Vertrauen entstanden. Ohne diese Basis hätte meine Mutter einen solchen Schritt niemals gemacht.

So wurde eine weisse Villa mit Pool, Garten und eigenem Wald endgültig mein Zuhause. Heinz und Charlotte wurden auch offiziell meine Pflegeeltern – das war schon deshalb wichtig, damit sie entscheidungsbefugt waren, zum Beispiel, wenn ich mal zum Arzt musste oder sonst etwas war. Wir wohnten im Dorf Stettlen im Worblental, Kanton Bern, umgeben von Feldern, Hügeln und Bergen. Aus unseren Fenstern sahen wir Wiesen, Apfel- und Kirschbäume und die Kühe unseres Nachbarn. Im Garten lagen unsere beiden Neufundländer. Unter den 1800 Einwohnern nahm mein Pflegevater eine bedeutende Rolle ein. Ihm gehörte die Kartonfabrik Deisswil, die grösste Europas, die das Dorf schon allein durch das riesige Fabrikgelände prägte. Heinz Winzenried war ein charismatischer Mann, Politiker und ein Fabrikant alter Schule mit autoritärem Führungsstil, aber auch grossem Verantwortungsgefühl gegenüber seinen Arbeitern. In Stettlen und den Dörfern der Umgebung hatte er Häuser für Firmenangehörige bauen lassen. Er hat viel dazu beigetragen, dass der kleine Ort weitaus mehr zu bieten hat als alle anderen Dörfer dieser Grösse. Damals schon hatten wir einen Kindergarten, zwei Schulen, zwei Turnhallen und eine Schwimmhalle. Auch einen Kinderhort und einen Jugendtreff hat Heinz bauen lassen. Ich kenne kein anderes Dorf in dieser Grösse mit so einer Ausstattung.

Während jeder in Stettlen meinen Pflegevater kannte, wussten nur diejenigen, mit denen wir direkt zu tun hatten, wer ich war und dass ich bei ihm wohnte, und so kam es vor, dass die Leute über «den Winzenried» redeten, während ich daneben stand. Ich hörte, wie sie mit Respekt darüber sprachen, was er alles für seine Arbeiter getan hatte, wie menschennah er sei oder wie einfach und bescheiden er sich kleide. Seine Manchesterhosen überstanden viele Jahrzehnte und er zog sie auch dann noch an, wenn der Stoff an einigen Stellen schon sichtlich abgetragen war.

Und ich hörte, wie sie über die Motive seiner Wohltaten argwöhnten – Kritik, Misstrauen und Neid klangen mit – und darüber fantasierten, wie diese Reichen denn wohl wohnen würden.

Was Letzteres angeht, hätten sie ziemlich viele ihrer Vorstellungen bestätigt gefunden. Die Villa, in der mein Pflegevater bereits seit 1942 lebte, bestand aus vier Stockwerken. Unten waren unser Wohnzimmer, die Küche, das Büro von Heinz, mein Spielzimmer, die Bibliothek, das Sitzungszimmer, das kleine Esszimmer und das grosse Esszimmer, in dem Banketts abgehalten wurden. Über eine breite Treppe mit rotem Teppich, ziemlich oldschool, kam man nach oben, zu unseren Schlafzimmern. Meines war riesig, das grösste Zimmer, in dem ich je gewohnt habe. Ich hatte ein eigenes Bad, an das gleich das Bad der Angestelltenwohnung grenzte. Hier lebte ein älteres Paar aus Italien, Michele und Guiseppina, das sich um das Haus kümmerte. Micheles Arbeitskleidung bestand aus einem weissen Hemd, einem schwarzen Smoking und weissen Handschuhen. Er hätte eins zu eins den Buttler in einem englischen Film spielen können. Guiseppina war nicht weniger formvollendet angezogen, sie trug täglich ein schwarzes Kleid mit weisser Schürze. Auf unserem Esstisch hatten wir ein goldenes Glöckli stehen, mit dem wir immer klingelten, wenn wir mit einem Gang fertig waren, sodass Michele und Guiseppina kamen, abräumten und den nächsten Gang servierten. Ich stellte immer sicher, dass ich diejenige war, die klingeln durfte.

Oft passten die beiden auch auf mich auf; es gibt Videos, auf denen ich mit ihnen fliessend Italienisch spreche. Wenn ich mir das heute anschaue, verstehe ich kein Wort mehr von dem, was ich sage.

Heinz, Charlotte und ich mochten Michele und Guiseppa sehr und fühlten uns mit ihnen verbunden. Oft begleiteten sie uns auf Reisen oder wir besuchten ihre Familie in Norditalien, wo Heinz ihnen ein Haus gekauft hatte, das gross genug war, um drei Generationen zu beherbergen. Solche Dinge tat er immer wieder für die Menschen in seinem Umfeld. Er schlug Michele und Guiseppina auch vor, normale, bequeme Kleidung zu tragen, aber das lehnten sie freundlich ab.

Wir hatten einen Gärtner, einen Chauffeur, wir reisten First Class um die ganze Welt, Bali, Seychellen, Mauritius, Kenia. Oft waren wir auch auf Sardinien, wo wir ein grosses Haus an der Costa Smeralda hatten, und wenn es irgendwie ging, waren wir einmal im Jahr in den USA. Meine Mutter hatte keine offizielle Aufenthaltsgenehmigung, sodass sie, wenn sie ausgereist wäre, kaum wieder hineingelassen worden wäre, und so war die einzige Möglichkeit, sie zu sehen, zu ihr zu gehen. Mal trafen wir uns in Florida, mal auf Hawaii. In den Wochen davor hielt ich es kaum aus. Wir blieben dann meist so zwischen fünf Tagen und zwei Wochen und fuhren dann zurück. Es konnte auch mal vorkommen, dass wir ein Jahr aussetzen mussten, weil Heinz zu beschäftigt war, dann sah ich meine Mama erst im nächsten Jahr wieder.

L.A. hatte für sie all das gehalten, was es versprochen hatte. Sie hatte damit begonnen, ihre Träume tatsächlich umzusetzen, Musik zu studieren und gleichzeitig eine Ausbildung zur Pilotin zu machen. Das klang auch für mich als Kind fantastisch. Und obwohl sie, nachdem sie ihr Studium abgeschlossen hatte, nie als Musikerin arbeitete und nach der bestandenen theoretischen Pilotenprüfung die praktische nicht mehr machen konnte, weil ihr das Geld dafür fehlte, ging es ihr blendend und sie fand dennoch ihren Platz auf der grossen Bühne. Bald schon arbeitete sie wieder als Maskenbildnerin, aber diesmal mit den besten Teams und grössten Stars.

Natürlich hätte ich meine Mutter gerne öfter gesehen und es gab Phasen, da vermisste ich sie sehr, aber ich nahm ihr das nie übel. Was hätte sie denn tun sollen? Wir telefonierten jeden Sonntag um 18 Uhr und erzählten uns aus unserem Leben. Manchmal fragte sie mich dann, ob sie lieber nach Hause kommen solle. «Nein, Mama, ist schon okay!», antwortete ich jedes Mal. Ich wollte nicht, dass sie für mich etwas aufgeben müsste. Ob sie zurückgekommen wäre, wenn ich ja gesagt hätte? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich hab keine Ahnung. Die Telefonate bedeuteten uns beiden viel, wir waren uns trotz allem sehr nah – das machte es nicht unbedingt einfacher. Meistens brauchten wir ewig, um uns zu verabschieden, und sie wollte immer, dass ich diejenige war, die auflegte. Also ging das hin und her: «Hab dich lieb.» – «Ich dich auch.» – «Tschüss, bis nächste Woche.» – «Tschüss, machs gut…» Tausend Küsschen hin und her, Tausend mal ich vermiss dich, ich vermiss dich auch. Das konnte locker eine halbe Stunde dauern. Lustigerweise sollten wir dieses Ritual auch später beibehalten. Auch heute noch verabschieden wir uns überschwänglich mit vielen Liebesbeteuerungen – meine Freunde finden das sehr amüsant.

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