Czytaj książkę: «Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer»
für Natalie
Vorworte
Vorwort von Theo Haas
Mit der vorliegenden Studie, die auf einer Dissertation basiert, wird endlich ein Thema geschichtswissenschaftlich aufgearbeitet, das in unserem Kanton jahrzehntelang kaum ausgeleuchtet wurde: das Verhältnis von Politischen Gemeinden (bzw. Einwohnergemeinden) und Bürgergemeinden.
Die intensiven Vorarbeiten für das Projekt begannen schon 2011. Im Jahr darauf konnten der Verband Bündnerischer Bürgergemeinden und das Institut für Kulturforschung Graubünden gemeinsam den Historiker Simon Bundi aus Trun dafür gewinnen, die Entwicklung dieses besonderen Aspekts moderner bündnerischer Staatlichkeit eingehend und tiefschürfend zu erforschen. Das Resultat in Form des vorliegenden wertvollen Buchs schliesst nun eine grosse Lücke in der wissenschaftlichen Aufarbeitung und Einordnung des Gemeindedualismus in Graubünden.
Die von Simon Bundi untersuchte Phase zwischen 1874 und 1974 war von stetigen Positionskämpfen zwischen den beiden Gemeindetypen geprägt. Die Nachgeschichte dieser 100-jährigen Abgrenzungsgeschichte brachte einen fundamentalen Wandel in den Beziehungen: In den meisten Orten, wo heute Bürgergemeinde und Politische Gemeinde nebeneinander bestehen, werden nützliche und durchaus erfolgreiche Kooperationen gepflegt. Durch ihr ideelles und finanzielles Engagement kann die Bürgergemeinde die Politische Gemeinde bei Aufgaben entlasten, welche nicht zu den ersten Pflichten gehören, für das dörfliche Leben aber doch wichtig sind. Das Sinnvolle bewahren, ohne sich den notwendigen neuen Herausforderungen zu verschliessen, heisst die Devise der aktiven Bürgergemeinden! Im Fokus der – aufseiten der Bürgergemeinden – fast durchwegs ehrenamtlichen Arbeit steht heute eindeutig das Wohl der gesamten lokalen Bevölkerung.
Zum Abschluss einer intensiven Projektzeit danken wir Simon Bundi für die ausgezeichnete Arbeit, die er während der letzten drei Jahre geleistet hat, und gratulieren ihm herzlich zur Promotion. Ferner danken wir dem ehemaligen Stiftungsratspräsidenten des Instituts für Kulturforschung Graubünden, Regierungsrat Dr. iur. Christian Rathgeb, dem heutigen Stiftungsratspräsidenten Hans Peter Michel, den Mitgliedern des Stiftungsrats sowie dem Institutsleiter Dr. phil. Marius Risi und seinem Team herzlich für die wertvolle Zusammenarbeit sowohl in inhaltlichen, organisatorischen wie finanziellen Belangen. Besonders danken möchten wir den Stiftungen, Privatpersonen, Unternehmungen, dem Amt für Gemeinden Graubünden, dem Bürgerverein Chur und den zahlreichen Bürgergemeinden in unserem Kanton, die dieses Forschungsprojekt mit ihren Beiträgen finanziell ermöglicht haben. Unser Dank gilt auch den Institutionen für die geschätzten Druckkostenbeiträge. In cordial engraziament schliesslich der Geschäftsführerin und Verlegerin Madlaina Bundi und ihrem Team des Verlags Hier und Jetzt für die sehr sorgfältige Gestaltung und Produktion dieses Buchs.
Die vorliegende Arbeit ist eine spannende Reise in die Vergangenheit verschiedener Bündner Bürgergemeinden. Sie trägt letztlich dazu bei, die Gegenwart und die Zukunft besser zu verstehen. Viel Vergnügen bei der Lektüre!
Theo Haas, Präsident Verband Bündnerischer Bürgergemeinden
Vorwort von Marius Risi
Eine analytische Beschäftigung mit der Bürgergemeinde als politische und soziale Organisationsform fand in Graubünden bislang ausschliesslich exemplarisch und lokal statt. Das vorliegende Werk des Historikers Simon Bundi leistet erstmals eine Gesamtschau. Sie setzt mit der Ausbildung der ersten, von den Einwohnergemeinden institutionell abgegrenzten Bürgergemeinden kurz nach Inkraftsetzung des Niederlassungsgesetzes von 1874 ein und schliesst mit der Annahme des über Jahrzehnte erdauerten Gemeindegesetzes 1974 ab. Diese Zeitperiode von genau 100 Jahren stand im Zeichen einer fortwährenden, oftmals sehr umstrittenen Verstetigung des Gemeindedualismus. An ihrem Ende hatten die Bürgergemeinden ihren festen Platz im modernen Staatsgebilde des Kantons Graubünden errungen. Es ist Simon Bundis grosses Verdienst, diesen Prozess in allen seinen politik-, rechts- und sozialhistorischen Facetten erfasst, erforscht und dargestellt zu haben. Seine Studie enthält eine Fülle von akribisch zusammengetragenen Informationen aus den unterschiedlichsten Quellen, die der Autor gekonnt zu einer Geschichte der bürgergemeindlichen Selbstbehauptung zusammenzufügen vermochte. Damit ergänzt er nicht zuletzt die in den letzten Jahren erstarkte Forschung über städtische Bürgergemeinden (allen voran jene in Bern) um die Dimension des Alpin-Ländlichen und Kleinstädtischen. Weil es in Graubünden auch Talschaften und Regionen gibt, in denen die Installierung eines Gemeindedualismus bis heute ausblieb, werden die massgeblichen Faktoren einer innerkommunalen Abgrenzungsgeschichte hier besonders gut greifbar. Frappant ist in Bundis Rückblick, mit welcher Zähigkeit im Bergkanton um die hoheitlichen Kompetenzen gestritten wurde. So kann man die Genese des Gemeindedualismus auch als ständigen Aushandlungsprozess zwischen Anhängern zweier verschiedener kommunaler Organisationsmodelle verstehen. Dabei kam den regierungs- und grossrätlichen Gerichtsurteilen, die in dieser Sache fallbezogen gesprochen wurden, eine erstaunliche Wirkungslosigkeit zu. Es waren vielmehr die lokalen Akteure in den Gemeinden, die immer wieder Tatsachen vor Ort schufen, auch wenn sie mit der gültigen Rechtssprechung nicht wirklich kompatibel waren. Die Etablierung der Bürgergemeinden als Resultat einer durchsetzungskräftigen kantonalen Politik zu sehen, ginge jedenfalls zu weit. Vielmehr zeigt sich auch hier eine Spielart der in Graubündens Geschichte stark verankerten Gemeindeautonomie.
Marius Risi, Leiter des Instituts für Kulturforschung Graubünden
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Eine kommunale Abgrenzungsgeschichte im nationalen Kontext
1.2 Aufbau der Untersuchung
1.3 Zugänge zur Kultur der Politik
1.4 Blinde Flecken der Bündner Geschichte
1.5 Die Quellenlage
2 Vom Kommunalismus zur altrepublikanischen Gemeinde
2.1 Gemeindebildung im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit
2.2 Die Nachbarschaften und der Ausschluss der Hintersassen
2.3 Die alte Gemeindeautonomie gegen den modernen Kanton
3 Vom Niederlassungsgesetz 1853 zum Niederlassungsgesetz 1874
3.1 De jure ein Status quo
3.2 Churer Spiessbürger in Bedrängnis
3.3 Der Bruch mit der Hegemonie der Gemeindebürger
3.4 Aneignungen des Niederlassungsgesetzes. Eine kantonale Übersicht
3.4.1 Gemeindedualismus und abgestufte Gemeindeeinheit
3.4.2 Kontinuitäten, Eigeninteressen und Nächstenliebe
3.5 Eine instabile Rechtsnorm: die ersten Eingaben und Rekurse
4 Die kurze Reaktion der 1890er-Jahre
4.1 Mit den «alten Rechten» gegen den «Allerweltskulturstaat»
4.2 Die «reaktionäre Avantgarde» und die Gemeindeautonomie
4.3 Die gescheiterte «Bürgerinitiative» und das Potenzial eines Fahnenworts
5 Der Gemeindedualismus als Rechtsproblem nach 1900
5.1 Zwischenspiel: das Gemeinderecht als privates Problem
5.2 Das Zirkulieren des juristischen Wissens
5.3 Die erste Kulmination: der St. Moritzer Rechtsstreit der 1930er-Jahre
5.4 Zurück zur abgestuften Gemeindeeinheit: Thusis und die Erpressung in St. Moritz
6 Unter Heimatschutz: die Verteidigung von Bodenständigkeit und Tradition
6.1 Zwei komplementäre Bewegungen
6.2 Das «Bodenständige» als zirkulierendes Kollektivsymbol
6.3 Das kantonale Gemeindegesetz von 1945
6.3.1 Gemeindeautonomie: Hochkonjunktur eines Fahnenworts
6.3.2 Die «Aktion Gemeindegesetz» und die Verbandsgründung: Selbstorganisation einer liberalen Rechten statt Organisationskatholizismus
6.4 Die Geister, die man rief: ein langer Weg zum Gemeindegesetz von 1974
6.5 Tradition, Expertenwissen und Geselligkeit: die Bürgervereine Chur und Igis
7 Gemeinden, die «nur ungern neue Bürger aufnehmen»: die Politik mit dem Bürgerrecht 1875 bis 1960
7.1 Einbürgerungspolitik fernab von Bund und Kanton: Bürgerrechtspolitik in Graubünden 1875 bis 1917
7.1.1 Die hohen Einkaufsgebühren der Gemeindebürger
7.1.2 Eugenik, Religion und der Einbürgerungstourismus
7.2 Die «reaktionäre Avantgarde» und die Fremdenabwehr: Einbürgerungspolitik von 1917 bis 1945
7.2.1 Die «persönliche Qualifikation» als neues Ausschlusskriterium in Chur
7.2.2 Die Verfestigung zweier Extreme: das Bürgerrecht als Garant kultureller Einheit und als Geldquelle
7.3 «Sorgfältige Auslese»: Einbürgerungspolitik im Zeichen von Bund und Kanton nach 1945
8 Zeiten der Industrialisierung: Bodenverkäufe und Wasserkraftwerke 1897 bis 1960
8.1 Igis und Chur: Bodenlieferanten mit einem neuen Selbstverständnis
8.2 Domat/Ems: die Geburt der Bürgergemeinde aus der Spätindustrialisierung
8.3 Thusis, Sils im Engadin/Segl und Bondo: Zukunftssorgen in einem eigenartigen Kräfteausgleich
9 Eine andere Abgrenzungsgeschichte: Vereine, Wirtschaft und Bräuche 1875-1965
9.1 Gemeindebürger als Nukleus der bürgerlichen Gesellschaft
9.2 Hegemonie in der Praxis der Bräuche
10 Resümee
11 Anhang
Ein Kontinuum
Quellen und Darstellungen
Archive
Fragebogen
Rekurspraxis
Verhandlungsprotokolle des Kleinen und Grossen Rates
Eidgenössische Volkszählungen
Jahresberichte
Periodika (Mehrfachbelege)
Gedruckte Quellen
Internet
Darstellungen
Gemeinderegister
Bildnachweis
1 Einleitung
«Hier besteht nämlich eine sogenannte Burgergemeinde innerhalb der eigentlichen Commune.»1
Friedrich Engels über die Stadt Bern, 1848
Der 9. Juni 1979 muss ein schöner Tag auf dem Crap Sogn Gion gewesen sein. Der Schweizerische Verband der Bürgergemeinden hatte zur Generalversammlung hoch über Laax geladen, wo die 320 Delegierten von der «prächtigen Bergwelt» begeistert waren.2 Vor dieser Kulisse sprach Regierungsrat Donat Cadruvi zur Lage der Bündner Bürgergemeinden. Cadruvi, Anwalt, CVP-Politiker, Schriftsteller und Tourismusförderer ebendieses Crap Sogn Gion, begann seine Ausführungen mit einer Feststellung. Es gäbe Leute, so Cadruvi, die kaum noch wüssten, «dass es in unserem Land oder in Graubünden noch Bürgergemeinden gibt». Andere wiederum hätten reichlich diffuse oder gar keine Vorstellungen über den Sinn, die Bedeutung und die Funktion dieser Gebilde. Dies sei eigentlich erstaunlich, wenn man wisse, «welchen Fleiss Doktoranden und andere schreibfreudige Juristen» an den Tag gelegt hätten, um entweder nachzuweisen, dass es Bürgergemeinden mit gesetzlich geordneten Aufgaben gibt, oder um nachzuweisen, dass es sie nicht gibt.3 Seinen Zuhörern konnte Cadruvi eine Definition der Bürgergemeinden natürlich schuldig bleiben. Noch heute aber sind diese öffentlich-rechtlichen Personalkörperschaften, deren Angehörige das gleiche Bürgerrecht besitzen,4 vielerorts mehr oder minder unbekannt.
Bürgergemeinden können «neben» oder «innerhalb» der in Graubünden als Politische Gemeinden bezeichneten Einwohnergemeinden (das heisst den Gesamtgemeinden) bestehen und sind auch von den Kirchgemeinden oder Schulgemeinden zu unterscheiden.5 Da sich die rechtliche Organisation der Gemeinden in der Schweiz seit der Zeit der Helvetischen Republik nicht überall gleich entwickelte, hat sich die Bedeutung der im 19. Jahrhundert entstandenen Bürgergemeinden bis heute sehr unterschiedlich herausgebildet.
Die Entstehung von Einwohnergemeinden ist eine Folge der Aufklärung mit ihrer Forderung nach egalitär-demokratischen Partizipationsrechten. Als diese auf naturrechtlicher Gleichheit und Volkssouveränität basierende neue Art von Demokratie 1798 auf dem Gebiet der heutigen Schweiz das erste Mal erprobt wurde, musste ein Kompromiss geschaffen werden. Es ging darum, die bestehenden Privilegien der bisher ausschliesslich partizipationsberechtigten Stadtbürger, Dorfnachbarn oder Landsmänner mit den neuen Partizipationsmöglichkeiten von Hinter- und Beisassen oder Untertanen in Einklang zu bringen. Deshalb schuf man einerseits eine alle Schweizer umfassende Einwohnergemeinde, die als allgemeiner Wahl- und Abstimmungskörper funktionierte. Andererseits behielten die bisher rechtlich privilegierten Stadtbürger, Dorfnachbarn oder Landsmänner in einem eigenen Wahl- und Abstimmungskörper die Verwaltung des nur ihnen gehörenden Gemeindevermögens und der Armenpflege.6 Während der Mediation und der Restauration blieb dieser Gemeindedualismus in einigen Kantonen bestehen, während in anderen wieder allein die Alteingesessenen oder jene Einwohner, die sich in das lokale Stadt- oder Dorfrecht eingekauft hatten, die politischen Geschicke bestimmten.7 Einem zwingenden Mitbestimmungs- und Mitnutzungsrecht aller niedergelassenen Schweizer musste sich diese privilegierte Gruppe von Gemeinde- und Stadtbewohnern (seit der Moderne spricht man von Bürgern oder Gemeindebürgern – ich komme auf die Terminologie zurück) erst mit der revidierten Bundesverfassung von 1874 unterwerfen. Allerdings hielt auch diese Verfassung fest, dass der «Mitanteil an Bürger- und Korporationsgütern sowie das Stimmrecht in rein bürgerlichen Angelegenheiten» davon ausgenommen seien, ausser die kantonale Gesetzgebung würde etwas anderes beschliessen.8 Damit waren nicht nur die bis heute bestehenden Einwohnergemeinden aus der Zeit der Helvetischen Republik (wieder-)geboren, sondern ebenso ein möglicher Gemeindedualismus von Einwohner- und Bürgergemeinde.
Bürgergemeinden in der heutigen Schweizer Gemeindelandschaft
Noch heute sind in der Schweiz die Kantone zahlreich, in denen die Gemeindebürger in einer selbstständigen Personalkörperschaft organisiert sind. Dazu gehören die Kantone Aargau, beide Basel, Bern, Fribourg, Graubünden, Jura, Luzern, Obwalden, St. Gallen, Solothurn, Tessin, Thurgau, Uri, Wallis und Zug.9 In den einzelnen Kantonen sind dabei nicht nur unterschiedliche Bezeichnungen für die hier summarisch «Bürgergemeinden» genannten Personalkörperschaften gebräuchlich;10 ebenso unterscheiden sie sich hinsichtlich Aufgaben und Kompetenzen beträchtlich.11 Zu ihren wesentlichen Aufgaben gehören die Verwaltung und das Verfügungsrecht über Teile des Gemeindevermögens oder Liegenschaften, Einbürgerungen, soziale und kulturelle Leistungen sowie die Vergabe ermässigter Nutzungstaxen an die Gemeindebürger.12 Am Ende dieses Kontinuums findet man das Waadtland und die Kantone Genf und Neuenburg, wo bei Wahlen, Abstimmungen und den Nutzungsrechten de facto schon seit dem 19. Jahrhundert keine Unterschiede zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen bestehen.13 Im Kanton Zürich wurden die noch bestehenden Bürgerverbände im Laufe des 20. Jahrhunderts aufgehoben.14
In Graubünden gehören heute Chur, Bonaduz, Domat/Ems, Landquart oder St. Moritz zu den wichtigsten Bürgergemeinden: An diesen Orten nehmen die Gemeindebürger mit eigenen Organen in erster Linie Einbürgerungen vor, verwalten ihr eigenes Vermögen (die Bürgerlöser15 und nach 1874 erworbene Liegenschaften), entscheiden über dessen Veräusserung und haben bei allen Geschäften, die das Nutzungsvermögen der Gemeinden (meist Wälder, Alpen und Weiden) betreffen, ein Mitspracherecht. Die Eigentumsverhältnisse an diesem sogenannten Nutzungsvermögen sind nicht überall gleich. In Domat/Ems oder Chur ist es im Besitz der Bürgergemeinde, in Bonaduz überwiegend im Besitz der Politischen Gemeinde, das heisst der Einwohnergemeinde.16 Einige der grösseren Bürgergemeinden im Kanton unterstützen darüber hinaus gemeinnützige Projekte, Sportvereine oder Musikschulen.17 Die Bürgergemeinde Chur besitzt beispielsweise noch das Bürgerheim Chur und das Gasthaus Gansplatz, die Bürgergemeinde Bonaduz das Seniorenzentrum Bongert.18 Weitere Gemeinden, die sich in neuerer Zeit als Bauherren betätigt haben, sind Domat/Ems, Landquart oder Lostallo.19
Andernorts sind die Bürgergemeinden in Graubünden bedeutend weniger aktiv. Teilweise machen sie kaum von ihren Rechten Gebrauch.20 Zudem sinkt ihre Zahl seit Mitte der 1990er-Jahre stetig.21 Im Zuge der um das Jahr 2000 begonnenen Gemeindefusionen nimmt sie noch rapider ab als jene der Politischen Gemeinden.22 Aufgelöst wurden zum Beispiel die Bürgergemeinden in Trun in der Surselva (1999),23 in Donat im Schamsertal (2003),24 in Mutten im Albulatal (2010),25 in der Val Müstair (2010)26 oder im Bergell (2010).27 Darüber hinaus gibt es in Graubünden Orte wie Vals (Surselva),28 Rongellen (Schamsertal)29 oder die ehemalige Heinzenberger Gemeinde Portein,30 an denen nie eine Bürgergemeinde institutionalisiert wurde. Schliesslich entstand dieser «sonderbare Dualismus zwischen Bürger- und Politischer Gemeinde»31 nicht überall als Ausbildung zweier getrennter Institutionen. Vielerorts ist historisch vielmehr eine abgestufte Gemeindeeinheit zu erkennen, bei der die Gemeindebürger ihre Geschäfte einfach nach den Versammlungen der politischen Gemeinde behandelten und nicht über eigene Statuten oder Vermögensinventare verfügten.
1.1 Eine kommunale Abgrenzungsgeschichte im nationalen Kontext
Dieses Buch gilt also einem Thema, das erklärungsbedürftig ist und auf den ersten Blick vielleicht sogar wenig brisant erscheinen mag. Dabei geben bereits diese wenigen Beobachtungen Anlass zur Annahme, dass die unterschiedlichen politischen Rechte innerhalb der meisten Schweizer Gemeinden historisch sehr wohl ein bedeutender Faktor für das Funktionieren des politischen Systems der Schweiz gewesen sind – und teilweise gilt das bis heute. Es liegt nicht nur an der Schweizer Gemeindeautonomie, dass man die politische Geschichte der Schweiz nicht einfach aus der Perspektive der Verfassung, gleichsam von «Bern» aus, ja nicht einmal als Summe aller Kantonsgeschichten schreiben kann. Ebenso wichtig sind die verschiedenen Partizipationsrechte in den Gemeinden und der Anspruch vieler Gemeindebürger, sich rechtlich stetig von den übrigen Schweizern abzugrenzen.
An dieser Abgrenzungsgeschichte der Gemeindebürger wird gleichzeitig erkennbar, dass die politische Kultur der Schweiz aus einer «merkwürdigen Mischung von archaischem und modernem Republikanismus»32 besteht. Dies gilt mitnichten nur für die kommunale Ebene. Die Schweiz wurde zwar 1848 als liberaler Bundesstaat gegründet und entwickelte sich in den nächsten Jahrzehnten im Sinne der Aufklärung in Richtung einer modernen Republik mit naturrechtlich-gleichberechtigten Bürgern. Hingegen beruhte die im Gebiet der heutigen Schweiz bis um 1800 praktizierte «archaische» Form von Republik auf der Vorstellung souveräner Städteorte und Kleinstaaten.33 Im Gegensatz zu einer modernen Auffassung von Demokratie betrachtete man politische Rechte ausschliesslich als ein historisches Privileg, das ein Kollektiv durch eigene Leistung erworben hatte und weitervererbte. Im Freistaat der Drei Bünde, in den Walliser Zenden und den eidgenössischen Landsgemeindeorten Uri, Schwyz, Obwalden, Nidwalden, Glarus, Zug und Appenzell umfasste dieses Kollektiv einen grösseren Teil der waffenfähigen Männer. Dieser war mit einem Landrecht oder Dorfrecht ausgestattet und de jure an wichtigen politischen Entscheidungen einschliesslich der Vergabe dieser Partizipationsrechte an die später zugezogenen Hintersassen beteiligt. In den eidgenössischen Städteorten war dieses Privileg hingegen auf eine kleine Minderheit beschränkt, die in den Räten sass.34
Züge dieser vormodernen Form von Republikanismus blieben in der modernen Schweiz gerade auf Bundesebene ein wirkmächtiges Konzept. Charakteristische Merkmale dieser vor-aufklärerischen Vorstellung von Republikanismus sind in erster Linie der Föderalismus und das Milizsystem, der Ständerat und das Ständemehr. Zudem war die politische Partizipation in der Schweiz de facto lange an wehrdienstfähige und autarke Männer gebunden, was die späte Einführung von Frauenstimmrecht und Zivildienst erklärt. Bis heute politisch eingesetzt werden das Schlagwort der direkten Demokratie, die Skepsis gegenüber dem Völkerrecht und der nationale Partikularismus, der sich unter anderem in der Ablehnung der EU manifestiert. Zu diesem Spektrum gehören auch Formen einer historisch begründeten, patriotischen Zivilreligion wie die Bauernstaatsideologie und die immer noch präsenten Rekurse auf 1291, Morgarten und Marignano statt auf 1848. Dazugehören kann auch eine xenophobe Gesinnung unter Betonung der nationalen Eigenart.35 Letzteres zeigt sich nicht zuletzt im Bürgerrecht, das immer noch kommunal verankert ist und lange über Plebiszite vergeben wurde: In Graubünden entschied noch Anfang der 1990er-Jahre das Kollektiv der Bürgerversammlung über Einbürgerungen von Ausländern und Schweizern, heute übernimmt dies der Bürgerrat.36
Die bis heute bestehenden Partizipationsprivilegien der Gemeindebürger sind als Teil dieses altrepublikanischen Erbes der Schweiz einzuordnen. Insofern kann auch der vor allem in Graubünden über Jahrzehnte ausgetragene Streit um die Eigentumsrechte und Kompetenzen der Gemeindebürger mit den Konflikten, die es auf nationaler Ebene teilweise bis heute zwischen den erwähnten altrepublikanischen Merkmalen und liberalen oder linkspolitischen Veränderungsbestrebungen gibt, in eine Analogie gesetzt werden. So wie der Rekurs auf die nationale Eigenstaatlichkeit der Schweiz oder das Milizmilitär bleiben auch die Bürgergemeinden mit ihren altrepublikanischen Prinzipien bis in die Gegenwart «ein Integrationsfaktor für eine uneinheitliche Nation».37
Donat Cadruvi spielte 1979 auf dem Crap Sogn Gion mit seiner Bemerkung über «Doktoranden und andere schreibfreudige Juristen» bereits auf die staatsrechtlich unsichere Lage an, in der sich die demokratischen Privilegien der Bündner Gemeindebürger in den 100 Jahren zwischen dem Erlass des kantonalen Niederlassungsgesetzes 1874 und dem Gemeindegesetz des Kantons Graubünden von 1974 befunden hatten. Es ist zunächst dieser Streit um Eigentumsrechte und Kompetenzen, um den es in dieser Untersuchung geht. Er begann bereits Mitte des 19. Jahrhunderts und konturierte den Bündner Gemeindedualismus seit 1874 auf kantonaler Ebene bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus immer wieder neu.
Diese Konfliktgeschichte erfasst aber nicht das ganze Spektrum an Institutionen und Praktiken, mit denen die Gemeindebürger ihre Sonderstellung gegenüber den Nichtgemeindebürgern stabilisiert haben. Dazu gehören auch die Bürgervereine Chur und Igis oder Aspekte der Tagespolitik der Bürgergemeinden, das heisst die von den Politischen Gemeinden abgesonderten, oben kurz umrissenen Kompetenzen. Der Blick auf diese Bürgervereine, vor allem aber auf die Boden- und Energiewirtschaftspolitik soll die Geschichte des Streits um Eigentumsrechte und Kompetenzen in den Bündner Gemeinden ergänzen. Die Bürgerrechtspolitik kanalisierte einerseits den Zugang zum (Schweizer) Bürgerrecht und hielt so oft eine Abgrenzung zwischen Gemeindebürgern und Nichtgemeindebürgern beziehungsweise zwischen Schweizern und Ausländern aufrecht. Andererseits konnte eine bestimmte Einbürgerungspolitik zur Selbstbehauptung der eigenen, von den Nichtgemeindebürgern distinkten Institution eingesetzt werden. Ähnlich konnten sich gewisse Bürgergemeinden mit der Boden- und Wasserrechtspolitik als behördliche Entscheidungsinstanz durchsetzen und gleichzeitig ein eigenes Selbstverständnis als Boden- und Wassereigentums- sowie als Wasserveräusserungsinstanz formulieren.
Am Ende wagt die Untersuchung einen Blick über die im engeren Sinn politischen Institutionen hinaus. Die besondere Stellung der Gemeindebürger konnte auch in der (relativen) Dominanz der Gemeindebürger in mehreren Vereinen, unter der Churer Unternehmerschaft oder bei verschiedenen Bräuchen eine Integrationsfunktion erfüllen, weil die Gemeindebürger selbst unter Gleichen «feine Unterschiede» aufrechterhielten.
Mit dem Streit um Eigentumsrechte und Kompetenzen, mit den Bürgervereinen, der Boden- und Energiepolitik, der Einbürgerungspraxis und den Distinktionsmechanismen ausserhalb gemeindebürgerlicher Institutionen soll am Gegenstand der Bündner Gemeindebürger dargestellt werden, dass altrepublikanische Demokratievorstellungen nicht nur als Gemeindeautono – mie, sondern auch in der Frage der politischen und wirtschaftlichen Partizipationsrechte innerhalb der Gemeinden eine wirkmächtige politische Tradition bildeten. Den Gemeindebürgern Graubündens gelang es, ein eigenes Selbstverständnis aus dem vormodernen Freistaat der Drei Bünde über die historischen Bruchlinien der Moderne hinaus zu erhalten. Zu zeigen, wie, wo und warum dies möglich war, ist das Ziel dieser Untersuchung. Gleichzeitig kann es in einer ersten Monografie zum Thema nicht darum gehen, möglichst alle Aspekte des historischen Phänomens Bürgergemeinde abzudecken. Gänzlich unberücksichtigt bleibt in dieser Untersuchung der neben der Bürgerrechtsverleihung und der Boden- und Wasserrechtspolitik wichtigste Zweig ihrer Kompetenzen: die Armenpolitik. Zum einen kann man diese Auswahl als willkürlich bezeichnen, weil sie auch aus arbeitsökonomischen Gründen erfolgt. Zum anderen ist zumindest der Umgang mit Fahrenden als Teil der Armenpolitik Graubündens bereits gut erforscht.38