Morgarten

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Morgarten
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Silvia Hess

Inhalt

Prolog

Ortstermine Morgarten, 2015

Einleitung

«Wie eine lebendige Urkunde» – Fragestellung

Geschichtsgebrauch vor Ort

Merkwürdige Schweizer Geschichte, 1780–1830

Reiseführer, Reiseberichte und Anleitungen, wie man richtig reist

Klassische Stelle Morgarten

Eine Fahne und ihre Inszenierungen

Fazit

Gasthaus Morgarten, 1880–1908

Die Herstellung des Orts Morgarten

«Gruss aus Morgarten»

Feste, lebende Bilder und ein Fassadenbild

Fazit

«Hier wohnt das Erbe der Väter», 1915–1945

Tourismus im Ersten Weltkrieg

Zentenarfeier 1915: Gedenken in Zeiten des Kriegs

Der Wille zur historischen Stätte

Tourismus und Morgarten im Zweiten Weltkrieg

Fazit

Schulreise nach Morgarten, 1965

Die Schuljugend und die Schauplätze der Geschichte

Der Sternmarsch im Fernsehen

Rückblick: Die junge Nation am Morgarten

Anything goes? 1991–2014

Fazit

Schluss

Von der «klassischen Stelle» zum «Originalschauplatz»

Touristischer Geschichtsgebrauch: Thesen

Steine, Hellebarden und Hirtenhemden: Konjunkturen dreier Zeichen

Epilog

Das Morgartenspektakel 2015

Anhang

Quellen

Sekundärliteratur

Bildnachweis

Dank

Prolog: Ortstermine Morgarten, 2015

24. Januar 2015. Das Gedenkjahr zum 700-sten Jahrestag der Schlacht am Morgarten wird mit einer Fachtagung des Historischen Vereins der Zentralschweiz in Goldau eröffnet. Der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt – ungefähr 250 Personen hören den Aufruf des Eröffnungsredners, sich vor vermeintlichen Wahrheiten über Morgarten zu hüten. Aus Zeitgründen können keine Fragen gestellt werden. Ich überlege mir, was in den Köpfen des Publikums vor sich geht. Der ältere Herr neben mir mustert mich misstrauisch: «Sind Sie von der Presse?»

18. Juni 2015. Die Boulevardzeitung Blick erscheint mit einem grossen Aufmacher: «Die Schlacht am Morgarten ist bewiesen». Sondengänger hätten bereits im Frühjahr im Auftrag der Kantone Schwyz und Zug im Gebiet Schornen mit Metalldetektoren nach Überbleibseln der Schlacht am Morgarten gesucht und dabei zwei Dolche und zwei Pfeilspitzen gefunden, die aus der Zeit um 1315 stammen. Der Blick präsentiert die Funde als «Sensation». Ein Online-Kommentar zum Artikel klagt, Historiker seien elitäre «Nestbeschmutzer», die die Archäologie vernachlässigen würden – 1383 Likes.

19. Juni 2015. Die ehrenamtliche Helferin am «Volksfest für alle», bei der ich mein Eintrittsticket bezahle, trägt ein weisses Hirtenhemd, bestickt mit dem Festlogo und mit Sponsorenschriftzügen. 50 000 Personen besuchen an diesem regnerisch-kühlen Wochenende das dreitägige Volksfest im Ägerital. Ein Mittelaltermarkt bietet Handwerkskunst, Bogenschiessen, Geissen und Met-Ausschank. Am Eingang zum Festgelände stecken Holzhellebarden im Gras, von Schülern farbig bemalt. Darüber donnern F/A-18 Kampfflugzeuge in Schauformation. Die Armee ist auch zu Boden präsent: Im Ausstellungszelt der Armee, wo diese ihre Berufe und Lehrstellen vorstellt, klettern Kinder auf Panzern herum. In der Mitte des Festgeländes sind grosse Holzfiguren dreier bärtiger Männer aufgestellt. Diese «Helden von Morgarten» seien, wie ein Schild zu ihren Füssen verkündet, an den Meistbietenden zu verkaufen.

19. Juni 2015, nachmittags. Im Weiler Schornen wird das «älteste Holzhaus Europas», 2001 in Schwyz abgerissen, als Zeuge des 14. Jahrhunderts neu aufgebaut. Es ermögliche, ins Mittelalter einzutauchen, lese ich auf der Schautafel. Machen das «Schwyzerhaus» und das neue «Informationszentrum Morgarten» das Schlachtgelände, das bisher ohne materielle Überreste auskommen musste, zum Original-Schauplatz, auf dem sie sozusagen die «Möblierung» darstellen?


Abb. 1: Das Gedenkjahr erhöht die Nachfrage nach Überresten und nach wissenschaftlichen Untersuchungen. Die Fotografie zeigt eine Auswahl aus den Fundstücken, die 2015 im Gebiet Schornen archäologisch ausgegraben und dem Mittelalter zugeordnet wurden (von links oben): ein Kästchenbeschlag mit Rosette, zwölf Silberpfennige aus dem 13. Jahrhundert, der Radsporn eines Reiters, zwei Pfeilspitzen, ein Ortband, zwei Dolche, ein Messer, eine Gürtelschnalle und ein Mondsichelhufeisen.1


Abb. 2: Einer der drei «Helden von Morgarten» aus Holz, die am Volksfest im Juni 2015 in der Mitte des Festgeländes in Oberägeri standen.


Abb. 3: Mit Hellebarde, Hirtenhemd und ernster Miene vor der Kulisse des Ägerisees – der «Festführer» zum Volksfest vom Juni 2015.

20. Juni 2015. Am Informationsstand des Volksfests liegt der Festführer zum Mitnehmen auf, eine umfangreiche Broschüre mit grossem Inseratenteil. Die Fotografie auf der Titelseite zeigt einen ernst blickenden Mann mittleren Alters, der beim Ägerital, etwas oberhalb der Ortschaft Morgarten, steht. Er trägt ein weisses Hirtenhemd und hält eine über die Schulter gelegte Hellebarde. Im Hintergrund färbt ein leichtes Abendrot graue Wolken ein. In der Broschüre erläutern Politiker die «Besinnung auf unsere Schweizer Wurzeln» (ein Bundesrat), «Geschichte zum Erleben» (zwei Regierungsräte) oder das «historische Ereignis» (ein Gemeindepräsident), und es wird ein «Zusammenstehen und Zusammenhalten» beschworen (ein zweiter Gemeindepräsident). Wir könnten aus unserer Geschichte lernen, heisst es weiter, nämlich wer wir seien und wie wir unsere Zukunft zu gestalten hätten.

21. Juni 2015. Während ich am Dorfrand von Oberägeri bei kühlem Wetter den Umzug anschaue, von dem mir vor allem die alten Traktoren in Erinnerung bleiben werden, geht mir die Aussage des Historikers Bruno Meier durch den Kopf. Meier weist in der NZZ am Sonntag vom 21. Juni 2015 auf eine Ambivalenz beim neu gebauten Morgarten (im Weiler Schornen) hin. Zwar würde die neue Besucherinfrastruktur den neusten Forschungsstand vermitteln, und beim neuen Ensemble seien auch nicht, wie beim Rütli und der Hohlen Gasse, patriotische Aufwallungen gestaltgebend. Morgarten werde aber eher nach touristischen Gesichtspunkten aufgerüstet, so Meier, und die neugebaute Landschaft zementiere damit die traditionellen Vorstellungen. Stimmt es, dass das neue Ensemble Geschichtsbilder bestätigt, obwohl das Informationszentrum diese in Frage stellt? Und wie verändert die touristische im Gegensatz zu einer patriotisch-politischen Ausrichtung die Gestaltung der Denkmaltopografie Morgarten?

15. November 2015. Bei obligat kühl-regnerischem Novemberwetter findet der Schlachtfeiertag mit den üblichen Festelementen statt: einem Marsch von Sattel zur Schlachtkapelle, einem Gottesdienst in der Schornen – es spricht der Armeechef – und dem «Morgartenschiessen» beim Denkmal. Auf dem Umzug zwischen Sattel und Schornen spricht mich ein Herr mittleren Alters an: «Sind Sie von der Presse?» Ich falle als Frau ohne Begleitung an Morgartenanlässen auf. Wir spazieren nebeneinander zur Schlachtkapelle und unterhalten uns über neue Bücher zur Schweizer Geschichte.

 

Januar 2016. Die Archäologen des Kantons Zug veröffentlichen ihren Forschungsbericht über die Fundstücke. Sie ordnen die Funde als aufschlussreich, aber ohne zwingenden Zusammenhang mit der Schlacht ein. Die Medien berichten in kleinen Artikeln. Das Gedenkjahr ist vorbei.

Wahrscheinlich wird man nie belegen können, wo genau die Schlacht am Morgarten stattgefunden hat. Den historischen Ort Morgarten gibt es dennoch. Es gibt sogar mehrere historische Orte Morgarten. Sie werden von vielen Akteuren gestaltet, verändert und werden gerade auf diese Weise zu echten historischen Orten – indem sie genutzt, abgebildet und Teil von persönlichen Erlebnissen werden.

Einleitung

«Wie eine lebendige Urkunde» – Fragestellung

Ungefähr im Jahr 1895 ereilte den Wirt und Politiker Karl Bürkli am Ägerisee eine Offenbarung. Mehrmals war Bürkli an diesen Ort gereist, ein Pilger mit sozialistischer Gesinnung auf den Spuren der Alten Eidgenossen. An der Schlacht am Morgarten begeisterte den damals 72-jährigen Bürkli die Vorstellung von demokratisch gesinnten Urschweizern und von Verbannten, die dank ihrem entscheidenden Einsatz Gnade erlangen. Doch die Schlachtberichte hatten nicht hergegeben, was er nun im Terrain, einen Doppelmeter in der Hand, in «voller Klarheit» vor sich sah: das Bild der Schlacht – und den einzig richtigen Standort für ein Denkmal. So sehr man die Erkenntnisse aus Bürklis Offenbarung anzweifeln kann, ihr Mittel erfreut sich bis heute ungebrochener Zustimmung: Der Besuch von historischen Orten als huldigende Pilgerfahrt, als kritische Untersuchung vor Ort, als wissenschaftliches Argument und als touristischer Ausflug. «Wie eine lebendige Urkunde», hält Bürkli fest, so könne man aus dem Terrain die Geschichte lesen und die Schlacht sehen.2

Die Schlacht am Morgarten von 1315 hat in der nationalen Geschichtsschreibung und Geschichtskultur der Schweiz eine wichtige Rolle gespielt. Das Reise- und Ausflugsziel «Schlachtfeld» war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein stark national und militärisch aufgeladen. Für die Feierlichkeiten zum 700. Jahrestag der Schlacht am Morgarten im Jahr 2015 wurde die Region, die bereits seit über 200 Jahren als Schlachtfeld von Morgarten besucht wurde, mit neuen Besucherangeboten ausgestattet. Welche Motive haben das Schlachtbild geprägt und wie haben sie sich verändert? Wie wurde die Schlacht am Morgarten im 19. und 20. Jahrhundert vor Ort präsentiert und gebraucht? Welche Angebote wurden für Touristen gemacht oder von Touristen genutzt?

In diesem Buch geht es um die Geschichte eines historischen Orts. Bezeichnungen für Orte, an denen historisch bedeutsame Ereignisse stattgefunden oder an denen solcher Ereignisse gedacht wird, waren und sind vielfältig. In der Tourismuswerbung sind gegenwärtig Begriffe wie «Schauplatz der Geschichte», die das visuelle Erlebnis ansprechen, verbreitet. Der Begriff «Schauplatz» ruft ebenso wie der Begriff «Stätte» eine bedeutungsvolle Ereignisgeschichte hervor. Geschichtsdidaktiker wählen hingegen oft die Bezeichnung «historischer Ort», weil diese geografisch weiter gefasst ist als «historische Stätte». Der Begriff «Stätte» wiederum lädt den Ort mit einer sakralen Verehrung auf.3

Das Historische an einem «historischen Ort» ist nicht auf ein Ereignis begrenzt, sondern schliesst auch die Inszenierung von Geschichte an diesem Ort ein.4 Die Bezeichnung «historisch» ist eine Zuschreibung und weist auf einen Geschichtsgebrauch hin, der sich auf den Ort bezieht oder an diesem stattfindet. Wie, von wem und mit welchen Inhalten wurden historische Orte in der Vergangenheit und in der Gegenwart ausgestattet?

Es geht hier auch um das Verhältnis zwischen Tourismus und Geschichte. In einem weit gefassten Verständnis ist Tourismus ein kulturelles Phänomen und eine Dienstleistungsindustrie, die im Kontext ihrer Zeit steht. Der Besuch von historischen Orten kann als eine Form von Tourismus verstanden werden. Die Begriffe «Tourismus» und «Touristen» werden in diesem Buch nicht wertend, sondern beschreibend genutzt. Dienstleistungsangebote, die für Touristen hergestellt werden, werden unter die Lupe genommen: Von Transportmitteln und Unterkünften über Postkarten, Reiseführer, Souvenirs und Erinnerungsbilder bis hin zu Veranstaltungen. Der Tourismus wird hier also über seine Angebote wie auch über seine Praktiken untersucht.

Wer sind Touristen? Die Touristin oder der Tourist sind Rollen, in die man schlüpfen kann.5 Personen schlüpfen in die Rolle von Touristen, indem sie sich in ihrer Freizeit an einen Ort begeben, wobei ihre Nachfrage oder ihr potentielles Interesse bewirkt, dass Akteure eine Infrastruktur für sie aufbauen. Bereits die Möglichkeit, dass Touristen einen Ort besuchen könnten, beeinflusst dessen Gestaltung und Darstellung. Felix Girke und Eva-Maria Knoll nennen dies den «touristischen Schatten»: «Auch wo noch keine Touristen sind, denkt man an sie.»6 Ein imaginatives Einbeziehen von möglicher touristischer Vermarktung sei demnach omnipräsent und wirke auch transformativ nach innen, auf die Wahrnehmung der Akteure.7

In diesem Buch wird Tourismus als Imaginationsraum betrachtet, für den die Geschichte zentrale Inhalte bereitstellt und in welchem mit modernen Mitteln vormoderne Geschichte dargestellt wird. Mit der Einheit des Orts stellen Gestalter und Besucher ein besonderes räumliches Dispositiv her, um Geschichte zu evozieren und zu repräsentieren.

Geschichtsgebrauch vor Ort
Geschichtsbilder und Geschichtsgebrauch

Der Begriff des touristischen Geschichtsgebrauchs basiert auf dem Konzept der «Gebrauchsgeschichte» des Historikers Guy P. Marchal.8 Marchal versteht darunter die vielfältige Nutzung von Geschichte.9 Schweizer Gebrauchsgeschichte ist von Vorstellungen des Mittelalters geprägt, wie Marchal am Geschichtsbild der «Alten Eidgenossen» zeigt, welches zwischen dem 15. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs immer wieder umgedeutet wurde. Ein Geschichtsbild ist ein gesellschaftlich geteilter Vorstellungskomplex, den Marchal als «Historiengemälde im Kopf»10 beschreibt. Geschichtsbilder lösen, wenn sie aufgerufen werden, bei ihren Trägern Gefühle und Assoziationen aus und sind einem ständigen Veränderungsprozess unterworfen. Dabei ist es gemäss Marchal nicht etwa die Geschichtsforschung, welche diese Veränderungen hervorruft, sondern die allgemeine Befindlichkeit der Gesellschaft, also deren soziale, kulturelle, politische und ökonomische Situation.11 Dazu gehört auch der Tourismus.

Der Historiker Roger Sablonier schreibt, dass die traditionellen eidgenössischen Geschichtsbilder nach 1848 und besonders nach 1891 «als eigentliche Kulturgeneratoren» gewirkt hätten: in «Erinnerungsorten und Denkmälern, in der musealen Konservierung und Präsentation, sogar in der Rekonstruktion historischer Landschaften».12 Eine patriotische Kulturtätigkeit habe in Festspielen, Bilderbüchern und Postkarten ihren Ausdruck gefunden, wobei literarische Werke für die Vermittlung eine grosse Rolle gespielt hätten. Obwohl die meisten Kulturprodukte, die Sablonier aufzählt – Erinnerungsorte, Denkmäler, Museen, Landschaften, Festspiele und Postkarten –, auch Produkte eines touristischen Anverwandelns von Geschichte sind, ist die Präsentation von Geschichte im touristischen Kontext und die Nutzung der Geschichte vor Ort in der Forschung zum Geschichtsgebrauch weitgehend ein blinder Fleck geblieben.

Touristischer Geschichtsgebrauch

Wirtschaftlich orientierter Geschichtsgebrauch ist in den letzten zehn Jahren vermehrt zu einem Thema der Geschichtswissenschaften geworden. Ein Beispiel ist das von Wolfgang Hardtwig und Alexander Schug 2009 herausgegebene Buch History sells!, in welchem zwar touristisch orientierte Angebote thematisiert, jedoch selten so benannt werden.13 Hardtwig und Schug wenden den Begriff der «Aufmerksamkeitsökonomie» auf die Geschichtswissenschaft an und äussern Bedenken, wie die Geschichtsschreibung damit umgehen könne, dass Unterhaltung zu einem Hauptantrieb der Auseinandersetzung mit Geschichte werde.14 Seit den 2000er-Jahren wird auch der Begriff «Geschichtsmarkt» verwendet, um die ökonomisch gewinnbringende Präsentation von Geschichte zu bezeichnen.15

Im Buch Vergangenheitsbewirtschaftung, das Christoph Kühberger und Andreas Pudlat 2012 herausgegeben haben, schreiben mehrere Autoren explizit über Tourismus, allerdings mit einem starken Fokus auf touristische Angebote zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, beispielsweise zur Berliner Mauer.16 In den Beiträgen von Sibylle Frank zur Berliner Mauer und von Hanno Hochmuth zum Berlin-Tourismus kommen unterschiedliche Positionen zur Sprache. Frank appelliert an eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung der Historiker mit touristisch-wirtschaftlich orientierter Geschichtsvermittlung und plädiert für ein staatliches Engagement in diesem Bereich: Das touristische Feld dürfe nicht profitorientierten Angeboten überlassen werden.17 Hochmuth spricht im selben Band der touristischen Geschichtsvermittlung zu, lehrreich und unterhaltsam zu sein, aufklärerisch zu wirken und zur politischen Bildung beizutragen. Er kritisiert hingegen Präsentationen, die Geschichte dramatisieren und so den Besucher «überwältigen» würden.18 Zeitgeschichte steht bislang im Fokus von Studien, welche Public History, das heisst nicht-akademischen Geschichtsgebrauch untersuchen.19 In der Forschung zu touristischen Darstellungen des Mittelalters werden weniger Fragen staatlicher Steuerung oder aufklärerischen Nutzens diskutiert, als vielmehr der Gebrauch im Sinne einer «Living History» beispielsweise an Mittelaltermärkten.

Der Gebrauch von Geschichte im Tourismus wurde bislang in mehreren kleinen Studien untersucht. Der Tourismushistoriker John K. Walton verwies 2009 darauf, dass touristische Destinationen ihre Geschichte – das heisst, spezifische Versionen von ihr – als besonderes Merkmal und Verkaufsargument vermarkten würden. Walton untersucht «the ways in which tourism itself tries to use history, through marking, marketing and exploitation of traces, stories, heritage, authenticity, and, ultimately, distinctiveness».20 «Marketing», «traces», «stories», «heritage», «authenticity» – Forscher, die sich mit dem Gebrauch von Geschichte für Touristen befassen, arbeiten mit Begriffen, die einer Erklärung bedürfen. Wie wurde in bisherigen Studien zum touristischen Geschichtsgebrauch der Untersuchungsgegenstand bezeichnet? Ian McKay und Robin Bates konstruierten in ihrem Buch The Province of History von 2010 den Begriff «tourism/history», den sie als «new kind of history» und Nachfolger des Begriffs «heritage» beschreiben.21 1990 prägte Regina Römhild den Begriff «Histourismus».22 Bernd Mütter veröffentlichte 2009 die Monografie HisTourismus. Geschichte in der Erwachsenenbildung und auf Reisen, die sich damit befasst, wie man auf Reisen Geschichte lernen kann.23 Der Begriff «Histourismus» hat sich jedoch nicht durchgesetzt, und er bietet auch keine Ansatzpunkte für dieses Buch, weil er konzeptionell den Tourismus als Maschine versteht, die das Material lediglich filtert, aber mögliche Wechselwirkungen nicht in Betracht zieht. Besser etabliert hat sich der Begriff des «Histotainment», der die Kombination von Geschichtsvermittlung und Unterhaltung verspricht. Allerdings wurde auch dieser wiederholt kritisch diskutiert.24

In neueren Publikationen ist die Wortbildung «Geschichtstourismus» anzutreffen25 – ein Begriff, den jedoch auch die Anbieter selber benutzen. Als analytischer Begriff wenig geeignet ist er auch, weil er nicht dazu auffordert, nach Akteuren zu fragen und zwischen Produzenten und Rezipienten zu unterscheiden.

Dieses Buch verwendet die Formulierung «touristischer Geschichtsgebrauch», deren Vorteil darin besteht, dass die touristische Form des Geschichtsgebrauchs mit anderen Formen gut vergleichbar ist. Dies ist wichtig, weil Geschichte oft mehrfach motiviert gebraucht wird, sodass beispielsweise sowohl politische als auch touristische Interessen der Akteure einen Geschichtsgebrauch bestimmen. Den «rein» touristischen Geschichtsgebrauch gibt es möglicherweise nicht.

 

Erinnerungskulturen und -orte

Ein Ausgangspunkt dieses Buches ist die Feststellung, dass in den Debatten zu Erinnerungs- und Gedächtniskulturen der Tourismus ignoriert oder als «negative Kontrastfolie»26 behandelt wird. Erinnern ist edel, Tourismus vulgär oder banal. Bezeichnend dafür ist, wie der Historiker Pierre Nora, der das Konzept der «Lieux de mémoire» begründete, das Wort «touristisch» benutzt. Im Vorwort zu Lieux de mémoire schreibt er, dass das französische Nationalgefühl nicht mehr «auf das Opfer, den Trauerkult und die Abwehr nach aussen bezogen» sei, sondern «zunehmend geniesserisch, neugierig, man könnte fast sagen, touristisch» werde.27 «Touristisch» umschreibt eine neue vergnügliche und individualistische Form des Nationalgefühls oder – in Noras Verständnis – der Geschichtskultur. Dennoch wird Tourismus in der Folge nur am Rand behandelt.28

In diesem Buch wird mehrheitlich dasselbe Quellenmaterial untersucht wie in Forschungen zur Erinnerungskultur. Die materielle Dimension der Erinnerungskultur ist auch für den touristischen Geschichtsgebrauch wichtiges Quellenmaterial. Sie besteht sowohl aus Objekten und kollektiven Handlungen, die Geschichtsbilder transportieren, wie Denkmälern oder Gedenkfeiern, als auch aus Gegebenheiten, die symbolisch aufgeladen und zu Medien von Geschichtsbildern gemacht wurden.29 Dieses Buch wählt jedoch einen anderen Zugang zu diesem Quellenmaterial und geht davon aus, dass sich das Ausstatten eines Orts mit Besucherangeboten und das Besuchen eines Orts vom Gebrauch eines Orts zur Evokation von Geschichte unterscheiden kann. Auch Konflikte zwischen verschiedenen Formen des Geschichtsgebrauchs sind möglich.