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Sarah Oberbichler
Autochthone Minderheiten und Migrant*innen
Mediale Argumentationsstrategien von 1990 bis 2015 am Beispiel Südtirols
Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte
Band 29
Sarah Oberbichler
Autochthone Minderheiten und Migrant*innen
Mediale Argumentationsstrategien von 1990 bis 2015 am Beispiel Südtirols
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Fragestellungen und Thesen
Methodisches Vorgehen
Zentrale Ergebnisse
Teil 1
1. Forschungsstand und theoretischer Rahmen
1.1 (Historische) Migrationsforschung
1.2 Migrant*innen und Medien
1.3 Migration und Diskurs
1.4 Diskurs und digitale Korpora
1.5 Die Tageszeitungen Dolomiten und Alto Adige
2. Das Korpus – 20.000 Artikel und Leserbriefe
2.1 Das Korpus
2.2 Die Begründung der Wahl der Zeitungen, des Zeitraums und der Konzentration auf regionale Berichterstattung
2.3 Begründung des Miteinbezugs von Leserbriefen
2.4 Themenfelder im Korpus Migration und Südtirol
3. Methodischer Rahmen
3.1 Auswertungsmethoden: Die vergleichende diskurshistorische Argumentations- und Inhaltsanalyse
3.2 Analysestrategie- und vorgehen: Blended Reading
3.3 Auflistung der Argumentationsmuster
Teil 2
1. Migration in Südtirol – Historische Hintergründe und vergleichende Medienanalyse
1.1 Flucht und Vertreibung nach Südtirol von 1990 bis heute
1.2 Die Südtiroler Moscheekonflikte zwischen 1990 und 2014
1.3 Die Entstehung illegaler Barackensiedlungen in den frühen 1990er-Jahren
1.4 Wohnen in Südtirol – Diskriminierung durch das Wohnbauförderungsgesetz 2008
1.5 Der lange Weg zum Integrationsgesetz 2011
2. Reflexion – Kontinuität, Wandel, Zugehörigkeit und der Einfluss der Politik
2.1 Trends und Brüche im Sprechen über Migration
2.2 Migrant*innen und Sprachgruppenzugehörigkeit
2.3 Migrant*innen und Flüchtlinge als Akteur*innen
2.4 Medien als politische Kommunikationskanäle
Zusammenfassung
Deutsche vs. italienische Migrationsberichterstattung
Positive vs. negative Wahrnehmung von Migration
Abbildungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Zeitungen
Parlamentsdebatten des Südtiroler Landtags
Weitere politische Dokumente
Literatur
Vorwort
Freiwillige und unfreiwillige Migrationsbewegungen sind historisch gesehen nicht neu. Damals wie auch heute verändern sie Gesellschaften und bestimmen das Weltgeschehen. Auch in Südtirol sind Migrant*innen – zumindest in den Medien – in den letzten 25 Jahren immer sichtbarer geworden. Der Titel „Autochthone Minderheiten und Migrant*innen“ verweist dabei bereits auf die Komplexität des Zusammenlebens alter und neuer Minderheiten in Südtirol. Denn wenn in Südtirol von Migrant*innen als neue Minderheiten gesprochen wird, dann deshalb, um diese von den alten, also historisch gewachsenen, Sprachgemeinschaften abzuheben, d. h. von der deutschen, der italienischen und der ladinischen Sprachgruppe. Das bedeutet, wir haben es in Südtirol mit komplexen Minderheitenverhältnissen zu tun. Um die autochthonen Minderheiten in Südtirol zu schützen, wird ihr Zusammenleben durch ein dissoziatives Konfliktlösungsmodell geregelt, das dem politischen System aufgesetzt ist und die ethnische Trennung vorsieht. Migrant*innen sind von diesem Minderheitenschutz jedoch ausgeschlossen und müssen sich den ethnisch getrennten Realitäten in Südtirol anpassen. Wie in einem solchen System Migrant*innen wahrgenommen werden und inwiefern sich das Sprechen über Migration in den jeweiligen Sprachgruppen unterscheidet, ist die zentrale Frage, der in diesem Buch nachgegangen wird. Hierbei liegt der Fokus auf der Region, trotzdem reflektiert dieses Buch auch globale Migrationsphänomene. Denn Migrationsdiskurse folgen weltweit ähnlichen Argumentationsstrategien. So auch in Südtirol. Spannend wird es jedoch dann, wenn globale Migrationsdiskurse von ethnischen Diskursen durchwoben werden. Nahezu bruchlos reflektiert die Südtiroler Presse die fragmentierte Gesellschaft in Südtirol, wodurch medial konstruierte Wirklichkeit besonders gut sichtbar wird.
Weil eine wissenschaftliche Arbeit nie das Werk einer einzelnen Person ist, soll auch all jenen gedankt werden, die zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben. Zu besonderem und tiefempfundenem Dank bin ich meinen Betreuer*innen Prof. Dr. Eva Pfanzelter und Prof. Dr. Dirk Rupnow verpflichtet. Danken möchte ich auch all jenen, die bei der Erschließung der Quellenbasis behilflich waren. Armin Sparer vom Dolomiten-Archiv der Athesia GmbH bearbeitete engagiert die unzähligen Anfragen für tausende Artikel der Dolomiten, die Stadtbibliothek Cesare Battisti und dort Elisa Nicolini stellten digitalisierte Ausgaben der Alto Adige zur Verfügung und die Landesbibliothek Dr. Friedrich Teßmann unterstützte bei der Digitalisierung von Teilen der Alto Adige. Doz. Dr. Hans Heiss danke ich für die Bereitstellung von Material aus dem Archiv der Grünen, Nadja Schuster und Dr. Karl Tragust von der Südtiroler Landesverwaltung standen außerdem dankenswerterweise für Interviews zur Verfügung.
Einleitung
„Dass Südtirol von der modernen Völkerwanderung verschont bleiben sollte, war wohl eine Utopie der Wenigen.“1 (Dolomiten)
Südtirol blieb – wie die deutschsprachige Tageszeitung Dolomiten 1996 berichtete – nicht von der „modernen Völkerwanderung“ verschont. Bereits ein Blick in die Südtiroler Tageszeitungen zeigt, wie präsent und brisant das Thema Migration für die Südtiroler Bevölkerung seit den frühen 1990er-Jahren ist, auch wenn oder gerade weil für sie die Erfahrung mit Menschen ausländischer Herkunft eine relativ neue ist. Allzu leicht wird vergessen, dass das heute wohlhabende Südtirol bis Ende der 1980er-Jahres stärker von Auswanderung als von Einwanderung geprägt war – aus ökonomischen Gründen, aber auch aus politischen und militärischen.
Erst in den späten 1980er-Jahren – mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Konjunktur und der Stabilisierung des Arbeitsmarktes – kam es zu einer Intensivierung der Einwanderung, motiviert durch soziale Sicherheit und Arbeit.2 Zum Einstieg einige Zahlen dazu: 1990 lebten laut den Erhebungen des Landesinstituts für Statistik nicht mehr als 5.099 ausländische Staatsbürger*innen in Südtirol,3 bis 2017 stieg die Zahl auf 48.018 an. Ende 2018 lebten damit 139 unterschiedliche Nationalitäten im Land.4 Albanerinnen und Albaner bildeten die größte Gruppe, gefolgt von Menschen deutscher und marokkanischer Herkunft.5
Trotz rasanten Zuwachses und großer Vielfalt war und ist die Sichtbarkeit von Migrant*innen in der Südtiroler Öffentlichkeit mehrheitlich auf die Darstellung in den Medien beschränkt. In politischen oder gesellschaftlichen Kontexten sind sie hingegen kaum präsent. Medien spielen eine Schlüsselrolle bei der Konstruktion des Fremden. So gehen mit Migration immer medial produzierte und vermittelte Vorstellungen des Fremdseins einher. Medien als machtvolle Instanzen tragen wesentlich dazu bei, welches Bild von Migration sich im kollektiven Wissen6 einer Gesellschaft verankert bzw. niederschlägt. Wenn Medien (über Migrant*innen) berichten, konstruieren sie also Wirklichkeit bzw. Medienrealität, womit sie das Denken und Argumentieren der Rezipient*innen steuern und beeinflussen. Ausländische Bürger*innen in Südtirol sind aufgrund eingeschränkter Mitsprachemöglichkeit der lokalen Medienwirklichkeit, oder besser gesagt, den zwei ethnisch getrennten Wirklichkeiten, besonders ausgeliefert. Denn Südtirols Mediensystem ist, wie auch Südtirols Gesellschaft, gespalten und die zwei größten Tageszeitungen, die deutschsprachige Dolomiten und die italienischsprachige Alto Adige – beide Grundlage vorliegender Arbeit –, berichten stets im Interesse ihrer eigenen Sprachgruppe und der eigenen politischen Leitgedanken.
Vorliegendes Buch erforscht die Wahrnehmung von Migration in den Südtiroler Tageszeitungen. In diesem Zusammenhang strukturiert sich die Arbeit in zwei wesentliche Teile. Im ersten Teil der Arbeit geht es um eine Darstellung des Forschungsstandes, der Methoden und des methodischen Vorgehens: Das erste Kapitel bietet eine Übersicht über den Forschungsstand und bettet die Arbeit in einen theoretischen Rahmen ein. Das zweite Kapitel beschreibt das Textkorpus, das dieser Arbeit zugrunde liegt. Das dritte Kapitel erläutert die herangezogenen Methoden, begründet die Kombination verschiedener Ansätze und beschreibt das methodische Vorgehen. Anschließend werden in diesem Kapitel die ausformulierten Schlussregeln der in den Tageszeitungen vorkommenden Argumentationen aufgelistet.
Der zweite Teil der Arbeit dient der Analyse: Im ersten und umfangreichsten Kapitel wird der historische und politische Rahmen zum Thema Einwanderung in Südtirol rekonstruiert und die durch die vergleichende diskurshistorische Argumentationsanalyse/Inhaltsanalyse erhaltenen Ergebnisse werden erläutert. Den ersten Schwerpunkt bildet das Thema Flucht und Vertreibung, es folgen die Südtiroler Moscheekonflikte und die Entstehung illegaler Barackensiedlungen in den frühen 1990er-Jahren. Die Themen Wohnen und Integration schließen das Kapitel ab. Im zweiten Kapitel werden – aufbauend auf dem vorhergehenden Kapitel – Fragen geklärt, die über die einzelnen Diskurse (Flüchtlingsdiskurs, Moscheebaudiskurs etc.) hinausgehen: So zum Beispiel die Frage nach der historischen Kontinuität von Argumentationsmustern, der ethnischen Debatte beider Sprachgruppen, der Mitsprachemöglichkeiten der Migrant*innen sowie der Rolle der Politik im Migrationsdiskurs.
Fragestellungen und Thesen
Südtirols spezielle Geschichte und das daraus entstandene politische System zum Schutz der historisch gewachsenen Minderheiten erschweren eine pluralistische Denkweise, die jedoch für die Aufnahme und Integration neuer Minderheiten erforderlich ist. Südtirol stellt einen Überlagerungsraum von Ethnisierungserfahrungen autochthoner und neuer Minderheiten dar;7 Um die autochthonen Minderheiten in Südtirol zu schützen, wird ihr Zusammenleben durch ein dissoziatives Konfliktlösungsmodell geregelt, das dem politischen System aufgesetzt ist und die ethnische Trennung vorsieht.8 Ein wichtiges Strukturelement ist hierbei die Proporzreglung.9 Die ethnische Trennung soll Gleichberechtigung zwischen den unterschiedlichen Sprachgruppen in Südtirol schaffen, indem die Unterschiedlichkeit bewahrt und erhalten wird. Auf der anderen Seite wird die Unterschiedlichkeit von Migrant*innen als etwas Negatives wahrgenommen.10 Außerdem wirken sich historisch bedingte Sorgen vor einer Überbevölkerung bzw. Neuauflage der Italianisierung, sprich die Verdrängung der deutschen bzw. ladinischen Sprache und Kultur durch die italienische (wie dies in der Zeit des Faschismus ab 1922 unter der Regierung Mussolinis der Fall war), negativ auf die Wahrnehmung von Migration in Südtirol aus.11
Um zu erforschen, wie Migrant*innen in einem derartigen Setting medial wahrgenommen werden, sind folgende Fragestellungen zentral:
(1) Welchen Stellenwert nehmen die Migrant*innen und die dadurch gewachsenen neuen Minderheiten in Südtirol, als einem von Minderheiten bewohnten Gebiet ein? Welcher Raum wird ihnen zugesprochen? Wie werden sie von deutsch- und italienischsprachiger Seite wahrgenommen? Wie werden sie thematisiert, politisiert, instrumentalisiert?
(2) Ist ein differenzierter Diskurs vorhanden und wenn ja, wie sieht dieser aus? Inwiefern wird in den Berichterstattungen eine Bedrohung des besonderen Südtirol-Modells durch die Zuwanderung ausländischer Bürger*innen gesehen und inwieweit wird damit das etablierte Arrangement durcheinandergebracht?
(3) Ab wann wird Migration ein öffentlich diskutiertes Thema und in welchem Kontext? Welche politischen und historischen Ereignisse (regional, national, international) beeinflussen die Wanderungsbewegungen?
(4) Wie wirkt sich die Zuwanderung auf die ethnische Debatte in Südtirol aus? Wie wirken sich die historischen Konflikte bzw. deren immer wieder aktualisierte Erinnerung (Italianisierung, Majorisierung) auf die Zuwanderung aus?
Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, vorhandene Defizite in der Forschung auszugleichen, zentrale Argumentationsstrategien der Südtiroler Tageszeitungen zum Thema Migration offenzulegen sowie einen historischen Zugang zu schaffen. Zuwanderung ist aus wirtschaftlicher Sicht in Südtirol unverzichtbar geworden, jedoch ist das Land nach wie vor von einer notwendigen Integration der neuen Minderheit weit entfernt, politisch aber vor allem auch kulturell. In den Südtiroler Medien wird die wachsende Fremdenfeindlichkeit Jahr für Jahr spürbarer, wobei es sprachgruppenspezifische Unterschiede bei der Wahrnehmung gibt. Zu analysieren, wie es zur derzeitigen Situation kam, liegt im Hauptinteresse des vorliegenden Projektes.
Basierend auf dem Vergleich der Tageszeitungen Alto Adige und Dolomiten und unter Berücksichtigung des auf Trennung ausgerichteten politischen Systems ergeben sich folgende zwei Thesen:
Erstens wird argumentiert, dass sich das spezielle, von ethnischen Diskursen dominierte politische und soziale System in Südtirol auf die Wahrnehmung von Migration auswirkt, und zwar in beiden bzw. drei autochthonen Minderheiten unterschiedlich: Migrant*innen in Südtirol müssen sich nicht nur in eine fremde Gesellschaft, sondern auch in das komplexe System von Mehrsprachigkeit und Minderheitenschutz integrieren, welches Migrant*innen, also neue Minderheiten, nicht kennt. So leben in der Provinz Bozen neben den neuen Minderheiten auch die alten, autochthonen Minderheiten – die Deutschsprachigen, die mit ihr verbundenen Ladinischsprachigen und die Italienischsprachigen – seit den 1920er-Jahren in Parallelgesellschaften nebeneinander. Geregelt wird dieses Nebeneinander durch ein institutionelles System, das zum Schutz der Sprache und der Kultur der Minderheiten eine weitreichende Trennung im Bereich der öffentlichen Stellen, der Sprachrechte, der Bildung, der politischen Repräsentation und teilweise auch der Sozialmittel vorsieht. Um diesen Schutz zu gewährleisten, muss festgestellt werden, wer zur jeweiligen Sprachgruppe gehört. Aus diesem Grund wird alle zehn Jahre die Sprachgruppenzugehörigkeit erhoben, die den Umfang der einzelnen Gruppen ermittelt. Mit der Erklärung wird die Zugehörigkeit zu einer der drei offiziellen Sprachgruppen – italienisch, deutsch und ladinisch – in Südtirol ermittelt und somit deren Stärke erhoben, aufgrund derer öffentliche Stellen und Sozialmittel verteilt werden.12
Bis 2015 konnten Migrant*innen erst mit dem Erlangen der italienischen Staatsbürgerschaft die Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung ablegen, seitdem ist aber der Zugang auch für Menschen mit ausländischem Pass geöffnet worden.13 Auch sie müssen seitdem mit dieser Erklärung die Zugehörigkeit oder, im Falle der neuen Bürger*innen, die Zuordnung zu einer der drei ethnischen Gruppen14 bekannt geben. Die Ergebnisse der Zugehörigkeitserklärung bilden die Basis für den ethnischen Proporz. Dieser räumt anschließend den drei Sprachgruppen das Recht ein, in Relation zu ihrer zahlenmäßigen Stärke berücksichtigt zu werden. Aus diesem Grund ist der Proporz neben dem Zweisprachigkeitssystem in allen öffentlichen Bereichen ein wichtiger Pfeiler des Autonomiestatus in Südtirol. Migrant*innen bringen durch ihre aktive Entscheidung für eine der beiden bzw. drei Gruppen das historisch institutionalisierte System ins Ungleichgewicht15: Durch die Zuordnung zu einer der drei Gruppen können sie einen – wenn auch geringen – Einfluss auf das bisher dagewesene Gleichgewicht der Sprachgruppen und somit den Proporz nehmen. Die potentielle Verschiebung der Proporzaufteilung wird auf deutschsprachiger Seite durchaus mit Sorge betrachtet. Diese Sorge begünstigt nicht zuletzt zum Teil konträre Haltungen: Zum einen eine abwehrende Haltung gegenüber Menschen aus dem Ausland, zum anderen ein Wunsch, Migrantinnen und Migranten bewusst in die eigene ethnische Gruppe zu integrieren. Integration wird dadurch zu einem Mittel im Kampf um den Erhalt der eigenen Sprachgruppe und Zugewanderte werden zum politischen Subjekt, um das im Sinne der Sprachgruppen gekämpft wird: Während die italienische Sprachgruppe seit Jahren einen Rückgang der italienischen Gruppe durch die Integration von Migrant*innen zu kompensieren sucht, hat neuerdings auch die deutsche Gruppe die Einwandernden als potentielle Wählerschicht entdeckt.
Zweitens wird angenommen, dass sich die Zuwanderung in Südtirol mehr negativ als positiv auf das Zusammenleben der drei Sprachgruppen in Südtirol ausgewirkt hat und dass es nur bedingt zu einem Wir-Gefühl und Zusammenrücken der drei autochthonen Bevölkerungsgruppen gekommen ist.
Der italienische Politiker Renzo Gubert hatte 1991 einen Artikel im Tiroler Almanach16 veröffentlicht, bei dem er drei Szenarien aufzeigte, wie sich der Zuzug „weit entfernt lebender Völker“17 auf das Zusammenleben von „bodenständigen Gruppen“ auswirken kann:
„a) […] die Ankunft von Gruppen mit einer betont unterschiedlichen Identität wird zur Folge haben, daß die Wahrnehmung der Ähnlichkeit unter den bodenständigen Gruppen verstärkt und die der Unterschiedlichkeit abgeschwächt wird;
b) […] die bodenständigen Gruppen neigen dazu, die Wahrnehmung der Gemeinschaftlichkeit der Interessen (die an das gemeinsame Land gebunden sind) eher als die Unterschiedlichkeit zu verstärken […]
c) Vergrößerung der Unterschiedlichkeit innerhalb der bodenständigen Gruppen, allgemeine Verringerung des internen Zusammenhaltes durch die Tatsache, daß gegenüber der neuen Situation eine Stellung eingenommen werden muß […].“18
Renzo Guberts Überlegungen und Fragen, wie sich Zuwanderung auf das Zusammenleben von unterschiedlichen bodenständigen Gruppen auswirken könnte, hatten durchaus seine Berechtigung. Mehr als Zukunftsprojektionen waren 1991 angesichts vernachlässigbarer Zuwanderung aber nicht möglich. 25 Jahre später sind wir durchaus in der Lage, mögliche Antworten auf derartige Überlegungen zu finden. Die vorliegende Forschungsarbeit unternimmt einen ersten Schritt in diese Richtung, rekonstruiert die Migrationsgeschichte seit 1990 und legt Diskurse über Migration offen.
Empirisch verifiziert und überprüft werden die Thesen durch eine vergleichende qualitative Analyse der beiden Tageszeitungen – der deutschsprachigen Dolomiten und der italienischsprachigen Alto Adige sowie durch die Auswertung von Archivmaterial und politischen Debatten. Das Interesse liegt hierbei bei der Auswertung von Argumentationen, die fester Bestandteil im Sprechen über Migration sind und wichtige Rückschlüsse auf das kollektive Wissen einer Gesellschaft geben. Ziel dieser Arbeit ist es nicht, anhand der gefundenen Argumentationen unmittelbar auf deren Wirkung zu schließen. Es ist jedoch mittlerweile gut erforscht, dass Medien nicht nur informierend, sondern in großen Maßen meinungs- und bewusstseinsbildend sind.19 Sie geben Aufschluss über die üblichen Denkweisen bzw. über das kollektive Gedächtnis, das wenig mit Wahrheit oder Logik zu tun haben muss.
Methodisches Vorgehen
Grundlage für die Analyse bildet ein speziell für diese Untersuchung zusammengestelltes Korpus zum Thema Migration und Südtirol, das den Zeitraum von 1990 bis 2015 abdeckt und etwas mehr als 20.000 Zeitungsartikel und Leserbriefe der Dolomiten und Alto Adige umfasst. Bewusst wurden für die Analyse der Wahrnehmung von Migration die beiden auflagenstärksten Südtiroler Tageszeitungen herangezogen, da sie innerhalb der eigenen Sprachgruppe die wichtigsten Medien darstellen und dadurch meinungsbildend für breite Bevölkerungsgruppen sind. Da die Fragestellungen an lokale Ereignisse gekoppelt sind, wurde die Auswertung zudem auf die Lokalberichterstattung beschränkt.
Um eine Zeitungskollektion dieser Größe auswerten zu können, wurde auf das computergestützte Analyseprogramm ATLAS.ti zurückgegriffen. Diese qualitative Analysesoftware ermöglicht es einerseits, Textstellen manuell zu kodieren, zu interpretieren und zu verknüpfen, und andererseits, automatisierte Analysen in Form von Stichwortsuchen und ähnlichem durchzuführen. Ebenfalls können Ergebnisse quantitativ dargestellt werden. Doch erst durch die Verbindung von Mikro- und Makroanalyse, sprich durch die Verknüpfung von computergestützten und hermeneutischen Methoden, kann ein diskurshistorischer Analysezugang zur Zeitungskollektion geschaffen und valide Forschungsergebnisse erhalten werden. Dieser semi-automatische Zugang verlangt jedoch die Bildung von Subkorpora, die einer genauen Lektüre und ebenfalls einem Vergleich der beiden Tageszeitungen unterzogen werden müssen, weshalb das Korpus auf fünf zentrale Diskurse eingeschränkt wurde: Es wird also im Folgenden um Flüchtlingsdiskurse von 1990 bis 2015, Moscheebaudiskurse von 1990 bis 2014, Integrationsdiskurse von 1990 bis 2014, Barackenlagerdiskurse von 1990 bis 1993 und Wohnungsdiskurse von 2007 bis 2011 gehen.
Um diese Diskurse zu untersuchen, hat sich die Methode der vergleichenden diskurshistorischen Argumentationsanalyse als geeignet erwiesen, die als Zugriffsobjekt der Diskursanalyse verstanden werden kann. Der Sprachwissenschaftler Martin Wengeler20 – zur Düsseldorfer Schule der Diskursanalyse angehörig – formulierte eine Reihe von Argumentationsmuster für den Migrationsdiskurs und etablierte bzw. begründete die Argumentationsanalyse als geeignete diskurshistorische Methode für die Analyse der Wahrnehmung von Migration. Außerdem wurden formale und inhaltliche Kriterien (Erscheinungsjahr, journalistische Form und Artikulationsmöglichkeiten von Migrant*innen) miteinbezogen.
Im Sinne der diskurshistorischen Spielart der Kritischen Diskursanalyse (Wiener Schule) geht die Argumentationsanalyse mit der Einbeziehung des politischen und historischen Kontextes einher, die sozusagen als Einstiegsanalyse betrachtet werden kann. Die Kontextualisierung nimmt deswegen auch einen wesentlichen Teil in dieser Arbeit ein. Einerseits ermöglicht sie es, Ereignisse in einen größeren Kontext einzuordnen und Interpretationsfehler bestmöglich zu vermeiden, auf der anderen Seite bildet die Rekonstruierung der Ereignisse einen erstmaligen, tiefergehenden Einblick in die Migrationsgeschichte Südtirols.
Die vorliegende Forschungsarbeit ist aus all den genannten Gründen als innovativ in mehreren Richtungen einzustufen: Die Geschichte der jüngeren Migration in Südtirol ist bis heute eine weitgehende ungeschriebene. Aufgrund mangelnder Quellen hat sich das Thema Migration in der Südtiroler Geschichtsschreibung noch kaum etabliert und historische Studien zur Südtiroler Einwanderungsgeschichte beschränkten sich mit wenigen Ausnahmen auf die Auswertung statistischer oder politischer Materialien. Erstmalig untersucht mit dieser Studie eine Forschungsarbeit das kollektive Wissen der zwei größten ethnischen Gruppen in Südtirol über einen Zeitraum von 25 Jahren hinweg und bettet dieses Wissen in einen historischen bzw. politischen Rahmen ein. Darüber hinaus betritt diese wissenschaftliche Arbeit auch methodisches Neuland. Sie kann als Beispiel dafür dienen, wie mithilfe von Text-Mining Methoden größere Textdatenbestände organisiert und quantitativ sowie qualitativ ausgewertet werden können. Die Verknüpfung von Makro- und Mikroanalyse hat sich als gewinnbringend gezeigt und hat es überhaupt erst ermöglich, einen Korpus von mehr als 20.000 Artikeln strukturiert inhaltlich zu analysieren.