Czytaj książkę: «Erinnerung an meine Jahre in Berlin», strona 5

Czcionka:

VII.

Dem Herannahen des IX. Kongresses sahen die Freunde von Wolffsohn wieder recht kleinlaut entgegen. Seine Gegner hatten nach der Niederlage auf dem VIII. Kongreß eine heftige Agitation gegen ihn entfaltet, und in weiten Kreisen glaubte man, in ihm eine Art von Schattenkönig zu sehen, der eine Puppe in den Händen irgendwelcher Drahtzieher wäre. Nebenher argumentierte man mit einem anderen Argument: Selbst wenn Wolffsohn die genialste Führerpersönlichkeit wäre, wäre es doch undenkbar, daß der Sitz der Organisation in einer Provinzstadt wie Köln läge. Aus politischen Gründen und aus Gründen des Prestiges müßte die Zentrale nach einer europäischen Hauptstadt verlegt werden, etwa nach Berlin, dem Wohnsitz von Warburg, und Wolffsohn weigere sich konstant, zu übersiedeln. – Wir gingen nach Hamburg, wohin der Kongreß für Dezember 1909 einberufen war, eigentlich in der Überzeugung, daß Wolffsohns Schicksal besiegelt sei, und wir in Warburg den künftigen Präsidenten zu sehen hätten.

Der Kongreß begann an einem Sonntag, und die Vorkonferenzen, die größtenteils in dem Hause der Bnei Brith-Loge stattfanden, begannen eine Woche früher. Ein ärgerlicher Gedanke war es, daß der Tag vor der Kongreßeröffnung ein Sabbat war, und daß bestimmt bei den Versammlungen im Logenhaus an diesem Tage von vielen Teilnehmern geraucht werden würde; das hätte nun aber in den Kreisen der konservativ eingestellten Juden Hamburgs unliebsames Aufsehen erregt. Es war klar, daß durch einen Appell an den Takt nichts erreicht werden würde. Viele der Radikalen hätten es als einen Verrat an ihrer Weltanschauung betrachtet, mit Rücksicht auf den Sabbat ihre Zigaretten nicht anzustecken. Da war es Wolffsohn, der einen originellen Ausweg fand: als die Teilnehmer der Vorkonferenzen am ersten Sitzungstag, also am Sonntag das Haus betraten, fanden sie dort überall Plakate, in denen mitgeteilt wurde, daß in diesem Hause das Rauchen polizeilich verboten sei. Polizeivorschriften sind ja nun nicht so leicht zu umgehen wie die Vorschriften vom Sinai, und so kam es, daß man sich die ganze Woche in diesem Hause des Tabaksgenusses enthalten mußte. Um so erstaunter war man, als dann am Sabbatausgang, dem Abend vor Kongreßeröffnung, die Plakate verschwunden waren.

Am Sonntag früh, kurz vor der für die Eröffnung festgesetzten Stunde, entstand ganz unerwartet eine neue und ernsthafte Schwierigkeit: Schon hatte das Aktionskomitee sich in einem Nebenraum versammelt, um, wie üblich, geschlossen die Tribüne zu betreten, als Boris Goldberg erschien und verstört mitteilte, daß Max Nordau sich entschieden geweigert hätte, das Präsidium des Kongresses zu übernehmen. Das war ein Schlag für uns alle. Keiner von uns war auf den Gedanken gekommen, daß etwas Derartiges eintreten könne, und wir starrten ziemlich ratlos einander an. Da erschien Nordau selbst und setzte in seiner gewohnten klaren und logischen Art seine Gründe auseinander. In der Tat waren sie derart einleuchtend, daß sie seine entschiedene Weigerung durchaus rechtfertigten, – es gab eigentlich gegen seine Argumentation keine Einwände. Es trat eine betretene Pause ein. Auf einmal erhob sich Wolffsohn, trat vor Nordau hin und sagte: „Dr. Nordau, noch bin ich Präsident der Organisation. Erkennen Sie meine Autorität an?“ – Nordau nickte stumm. „Dann befehle ich Ihnen hiermit“, erklär­te Wolffsohn mit starker Stimme, „das Präsidium anzunehmen.“ – Es war eine merkwürdige Szene. Allen stockte der Atem. Nordau sprach kein Wort, sondern beugte sich langsam tief bis zur Erde – nie wieder habe ich eine solche Verbeugung gesehen – richtete sich auf und, ohne ein Wort zu sagen, ging er in den Saal voran und übernahm das Präsidium. Man muß sich, um diese Szene in ihrer ganzen Bedeutung zu verstehen, vergegenwärtigen, wie Wolffsohn Nordau verehrte und sich vor seiner Geistesgröße beugte, und welche Überwindung es Nordau gekostet haben muß, seine Überzeugung in diesem Fall zu opfern und so uns allen ein Beispiel der Disziplin zu geben.

Der Permanenzausschuß, welcher alle Wahlen vorzubereiten hatte, stand diesmal vor besonders schweren Aufgaben. Der Präsident dieses Ausschusses war Chaim Weizmann. Zu seinem Stellvertreter wurde ich gewählt. Wir saßen am zweiten Kongreßtage, am Montag, in einer erregten Debatte, als Wolffsohn erschien und verlangte, daß wir sofort die Verhandlung abbrechen und in das Plenum kommen sollten, um seine Replique auf die gegen ihn gerichteten Angriffe zu hören. Und nun entrollte sich vor uns eine der eindruckvollsten Szenen, die ich auf einem Kongresse erlebt habe. Die Gegner Wolffsohns hatten ihn in der Generaldebatte durchaus nicht geschont. Alle die Gegnerschaft, Verbitterung und Enttäuschung, die sich angesammelt hatten, kamen rückhaltlos zum Ausdruck. Vor allem war es Posmanik, der auf ihn loshackte. Es schien, daß Wolffsohn vollkommen darniederlag, und daß ihm eigentlich nichts übrigblieb, als stumm zu resignieren. Als er seine Rede begann, sah es eine Zeitlang so aus, als ob man ihn überhaupt nicht anhören wolle. Erst allmählich wurde es ruhiger und ruhiger, und in staunendem Schweigen hörte man schließlich atemlos dem Redner zu, der sich wirklich in dieser Rede zu einer auch von seinen Freunden nie geahnten Höhe aufschwang. Neben mir auf der Treppe zur Tribüne stand Dr. Osias Thon aus Krakau, immer bloß flüsternd: „Welch ein kluger Jid!“ Es war ein ungeheuerer rhetorischer Erfolg, vollkommen überraschend für Freund und Feind. Als Wolffsohn geendet hatte, erhob sich der ganze Kongreß und stimmte die „Hatikvah“ an. Wolffsohn wurde genötigt, noch ein paar Dankworte hinzuzufügen (im Kongreßstenogramm fehlend). Alles umringte den Redner, um ihn zu beglückwünschen. Nordau schüttelte ihm die Hand und sagte: „Die Bestie ist gebändigt. Der Kongreß hat einen Mann gespürt.“

David Frischmann hat im „Heint“ in besonders reizvoller Weise jene Szene geschildert und mit beißender Ironie die Niederlage jener Männer beschrieben, die Wolffsohn nun als ein Nichts dargestellt hatte, und die jetzt den ungeheuren Erfolg seiner Persönlichkeit erleben mußten. – Ich muß hier noch eine kleine Episode erzählen, die so überaus charakteristisch für Wolffsohn ist: In diesem Momente, den man als einen Höhepunkt seines Lebens bezeichnen kann, als ihn alles umringte und ihm zujubelte, und man annehmen mußte, daß er von seinem Erfolge berauscht sei, packte er mich plötzlich am Arm: „Gronemann, wo ist Alfred Klee? Ich muß sofort Alfred Klee sehen.“ Ich machte mich sehr erstaunt auf die Suche und trieb wirklich Klee auf, der nun seinerseits höchst gespannt war, was ihm Wolffsohn in diesem Momente so dringendes zu sagen habe. Er drängte sich an meiner Seite durch die Gratulanten hindurch, und zu meiner Verblüffung war es nur folgendes, was Wolffsohn sagte: „Alfred, als ich eben noch ein paar Worte hinzufügen mußte, fiel mir im Augenblick nichts anderes ein als ein Zitat aus einer Rede, die Du einmal in Berlin gehalten hast. Vergib mir, daß ich Deinen Namen nicht genannt habe!“

Erst ganz allmählich legten sich die Wogen der Begeisterung, und nun waren es die Gegner Wolffsohns, die recht kleinlaut geworden waren. Da geschah ein neuer Zwischenfall ganz anderer Art: Es war der erste Kongreß, der auf deutschem Boden stattfand, und, allgemeiner Übung folgend, hatte das Kongreßpräsidium kurz vor der Eröffnung ein Huldigungstelegramm an den deutschen Kaiser geschickt. Nun lief ein liebenswürdiges Antworttelegramm ein, und das setzte das Präsidium in nicht geringe Verlegenheit. Waren doch auf dem Kongreß sehr viele Linksradikale vertreten, und es war vorauszusehen, daß bei Verlesung des kaiserlichen Telegramms peinliche Zwischenfälle entstehen würden, peinlich für den Kongreß und vielleicht verhängnisvoll für die Demonstranten. Andererseits konnte man doch unmöglich von der Verlesung des Telegramms absehen. Wieder fand Wolffsohn einen Ausweg: Er ließ die Nachricht verbreiten, daß um die und die Stunde Franz Oppenheimer den sozialistischen Delegierten und Gästen einige vertrauliche Mitteilungen von Bedeutung zu machen hätte. Der Name von Franz Oppenheimer besaß große Anziehungskraft, und zu gegebener Zeit sammelten sich ausnahmslos alle Linken in dem betreffenden Zimmer, das von dem Plenarsaal räumlich weit entfernt war. Wolffsohn hatte Oppenheimer gesagt, er habe dort eine Rede zu halten und dürfe nicht aufhören, bevor er ihm ein Zeichen gäbe. Oppenheimer fragte sehr verwundert, was in aller Welt er denn reden solle. Wolffsohn sagte: „Das ist Ihre Sache. Sie haben nur zu reden und die Leute dort festzuhalten, solange ich es für nötig finde.“ – Oppenheimer blickte Wolffsohn an, merkte, daß irgend etwas dahintersteckte und sagte schmunzelnd: „Wolffsohn, das ist irgendein Schwindel. Ich weiß nicht welcher, aber ich mache mit“ und begab sich in das Zimmer. Jetzt nun, während alle „gefährlichen“ Elemente aus dem Saal entfernt waren, wurde von Nordau das Telegramm vorgelesen, das Auditorium klatschte, und nun erlöste Wolffsohn Oppenheimer. Die Hörer kehrten ziemlich erstaunt in den Kongreßsaal zurück und fragten sich: „Was hat Oppenheimer eigentlich gesagt?“ Als sie aber dann hörten, was vorgegangen war, begriffen sie freilich Wolffsohns Taktik, die meisten nahmen die Sache mit Humor, – aber leider nicht alle.

Am Nachmittag gelangte plötzlich in den Kongreß das alarmierende Gerücht, daß auf Max Nordau ein Attentat geschehen sei. Man habe ihn wörtlich und körperlich insultiert. Podlischewski und ich wurden vom Präsidium beauftragt, den Tatbestand festzustellen, und wir eruierten folgenden: Nordau hatte mit einigen Freunden im Kongreßrestaurant gesessen, als S. ein radikaler Linker, auf ihn zutrat und ihn wegen jenes Zwischenfalls mit dem Kaiser-Telegramm, für daß er ihn verantwortlich machte, zur Rede stellte. S., ein sehr prachtvoller aber überaus temperamentvoller Mann, den ich persönlich recht gern hatte, ließ sich hinreißen, gegen Nordau Ausdrücke wie „unverschämt“ und „gemein“ zu gebrauchen, worauf Nordau sich vom Stuhl erhob und ihm eine Ohrfeige gab. S. wollte wiederschlagen, aber man fiel ihm in den Arm. – Das war alles, – aber genug, um die größte Erregung bei Delegierten und Gästen hervorzurufen. Die Empörung richtete sich hauptsächlich gegen S., denn ein Angriff auf Nordau erschien allen eine Art Majestätsverbrechen. Wolffsohn aber war besonders erbittert gegen Nordau, der ja zuerst zum Holz-Komment übergegangen war, und er gab die dann auch allseitig befolgte Parole aus, beim nächsten Auftreten Nordau mit eisigem Schweigen zu empfangen, während dieser doch sonst immer mit Beifallssturm begrüßt wurde, wenn er sich auf der Tribüne zeigte.

S. wurde am nächsten Morgen von seinen Freunden auf das Schiff gebracht und nach New York zurückbefördert, um ihn vor der Volkswut zu schützen. Man erzählt nun folgendes, für dessen Wahrheit ich mich freilich nicht verbürge: S. hatte sich durch sein Temperament so ziemlich auf jedem Kongreß eine Ohrfeige zugezogen, und als seine Freunde ihn am Schiff in New York erwarteten, sollen sie nur gefragt haben – „Von wem?“, und als er sagte: „Von Nordau!“, hieß es: „Du renommierst!“ – In Hamburg aber spielte sich folgende Szene ab: Im Aktionskomitee machte Wolffsohn Nordau die heftigsten Vorwürfe. Nordau sagte: „Der Mann hat sich ungezogen benommen, und ich habe ihm die gebührende Antwort gegeben. Was denn hätte ich tun sollen?“ – Wolffsohn sagte: „In solchem Falle dreht man dem Mann den Rücken und entfernt sich.“ – „Nein“, antwortete Nordau, „das wäre eine Unhöflichkeit gewesen, deren ich niemals fähig gewesen wäre.“

Die Lektüre des stenografischen Protokolls des Kongresses gibt kaum ein rechtes Bild von den Vorgängen, insbesondere am letzten Kongreßtage; denn in der Hauptsache spielten sich die Ereignisse hinter den Kulissen ab, und insbesondere in den Sitzungen des Permanenzausschusses, der wirklich beinahe permanent tagte. Die letzte Sitzung des Kongreßplenums dauerte eigentlich 18 Stunden. Sie begann am Donnerstag, den 30. Dezember, vor 10 Uhr und endete in der darauffolgenden Nacht um 4 Uhr. Sie war zwar immer wieder von langen Pausen unterbrochen, aber in diesen wartete man auf die Kundgebungen des Permanenzausschusses, der bei der von Stunde zu Stunde wechselnden Situation immer wieder zusammentreten mußte. Es herrschte eine fast unerträgliche Spannung und Nervosität, die im Permanenzausschuß oft zu lebhaften Eruptionen führten; da der Vorsitzende, Chaim Weizmann, sehr übermüdet und verärgert war, übergab er mir sehr oft den Vorsitz, und ich erinnere mich, welche Mühe ich hatte, Abstimmungen ordnungsgemäß durchzuführen. Die Delegierten waren nicht auf den Sitzen zu halten. Immer wieder bildeten sich Konventikel in den Ecken des Saales, so daß das Auszählen sehr schwer war. Insbesondere war es der überaus temperamentvolle Herbert Bentwich, der immer wieder aufsprang und irgendwelche Leute zu einer besonderen Besprechung heranholte. Ich war auf einen Tisch gestiegen, um die Versammlung überblicken zu können, und da kam es auch bei mir zu einer Eruption, und mir entschlüpfte der wenig parlamentarische Ausdruck: „Jetzt laufen die verfluchten Kerls doch wieder durcheinander!“ Diese Explosion rief stürmische Heiterkeit hervor, man besänftigte sich etwas, und so konnte man schließlich doch zu einem Ziel gelangen. Letzten Endes war aber alle aufgewendete Mühe nutzlos vertan; denn alles, was wir in den langen Sitzungen von Debatten schließlich als unseren Antrag an das Plenum festgesetzt hatten, wurde dort im letzten Moment wieder umgestoßen, als nacheinander die von uns nominierten Kandidaten erklärten, die Wahl nicht annehmen zu können. Und so kam es schließlich überhaupt nicht zu einer eigentlichen Wahl, sondern es blieb nichts anderes übrig, als auf eine Neuwahl zu verzichten und die alten Funktionäre sowohl der Exekutive wie des Aktionskomitees in ihren Ämtern zu belassen. Wolffsohn blieb also Präsident, aber unter diesen Umständen war niemand mit dem Ausgang zufrieden. Man schlich nach Kongreßschluß beim Morgengrauen äußerst deprimiert nach Hause. Die Stimmung war ganz anders als sonst nach Schluß eines Kongresses. Nicht einmal die Hymne wurde angestimmt. (Das Protokoll ist in diesem Punkte unzutreffend.)

Der letzte Tag des Jahres brach an, und so hatte man nicht nach dem Silvesterabend, sondern vor ihm einen gehörigen Katzenjammer. Eine ziemlich verbreitete Anschauung war, daß David Wolffsohn den Gang der Ereignisse vorausgesehen und vielleicht auf dieses Ergebnis hingearbeitet hatte. Nach meiner Auffassung lag die Sache folgendermaßen: Nachdem Wolffsohn auf dem Kongreß einen so überaus starken Eindruck gemacht hatte, – zur größten Überraschung seiner Gegner und der von ihnen beeinflußten Menge – schlug man, um ihn zu beseitigen, eine ganz andere neue Taktik ein. Der Angriff richtete sich jetzt nicht mehr sowohl gegen seine Person als – gegen die Stadt Köln. Das, was vorher nur ein nebensächliches Argument gewesen war, daß nämlich der Sitz der Exekutive nicht mehr in einer Provinzstadt aufrechterhalten werden könne, wurde jetzt in den Vordergrund geschoben. So kam man denn zu der Formel, daß man gegen das Präsidium von Wolffsohn von dem Moment an nichts mehr einzuwenden haben würde, indem er sich entschließen würde, nach Berlin zu übersiedeln. Man glaube, sicher zu sein, daß er diese Bedingung ablehnen würde, und Wolffsohn tat alles, um die Delegierten in dieser Ansicht zu bestärken. Denn er wußte sehr wohl, daß, wenn er jetzt etwa seine Bereitwilligkeit, nach Berlin zu ziehen, ausdrücken würde, dann sofort der Kampf gegen seine Person neu einsetzen würde. Im Stillen aber dachte er wohl daran, wenn erst der Kongreß auf jene Formel sich festgelegt haben würde, dann nach einiger Zeit doch die Übersiedlung vorzunehmen und so den Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dann aber, nachdem er dieses Opfer gebracht haben würde, würde seine Position nahezu unerschütterlich geworden sein.

Das alles ist natürlich nur meine persönliche Auffassung. Aber folgende Episode spricht wohl für ihre Richtigkeit: Ich saß eines Abends im Logenhaus in einer Ecke mit Wolffsohn, als plötzlich Bodenheimer mit einer gewissen Feierlichkeit vor ihn trat und fragte: „Herr Präsident Wolffsohn, ich frage Sie noch einmal und erwarte eine präzise Antwort: Ist es für Sie absolut ausgeschlossen, nach Berlin zu gehen?“ – Ich sah gespannt Wolffsohn an. Wolffsohn unterdrückte, glaube ich, ein unhöfliches Wort, biß sich auf die Lippen und antwortete nach Sekunden: „Sie kennen meine Erklärungen. Ich kann an dem, was ich gesagt habe, nichts ändern.“ – Bodenheimer entfernte sich, und ich hatte den Eindruck, daß Wolffsohn leise vor sich hin schimpfte. Ich hatte die Keckheit, ihm zu sagen: „Herr Präsident, ich glaube, Ihr Spiel zu kennen. Sie sind innerlich entschlossen, wenn Sie Präsident bleiben, in Kürze nach Berlin zu ziehen.“ – Wolffsohn wandte überrascht sein Gesicht mir zu, sah mir bedeutsam in die Augen und gab mir schmunzelnd einen kräftigen Rippenstoß, sagte aber kein Wort.

Daß es später anders kam, lag daran, daß Wolffsohn ein halbes Jahr später in Königsberg eine schwere Herzattacke hatte und von da an wußte, daß er seine volle Arbeitskraft nie wiedererlangen würde, und daß seine Tage gezählt wären. Das geschah nach einer recht interessanten Aktionskomitee-Sitzung im Hotel Esplanade in Berlin, in der viele Differenzen ausgetragen wurden und bei der Wolffsohn mehr mit seinen eigentlichen Parteigängern, insbesondere mit Alexander Marmorek, zu kämpfen hatte, als mit den sogenannten „Praktischen“; denn jetzt wurde ihm wieder übelgenommen, daß er allzu wenig Gewicht auf die politische Tätigkeit legte. Wenn David Wolffsohn sich so an das Amt klammerte, geschah das nicht aus persönlicher Eitelkeit oder aus übergroßem Geltungs­bedürfnis. Er war fest überzeugt davon, daß in diesem Moment er auf jenem Posten unentbehrlich sei, und sein Abgang eine schwere Gefährdung der Bewegung hervorrufen würde. Er fühlte sich als Wahrer der Erbschaft seines großen Freundes Herzl und hätte es als Felonie betrachtet, wenn er den Posten nicht bis aufs letzte verteidigt hätte. Als die Ärzte ihm dringend rieten, sich von jener zionistischen Arbeit zurückzuziehen, da sie sonst für nichts einstehen könnten, sagte er: „Ich habe keinen Kontrakt gemacht, nachdem ich verpflichtet wäre, 60 Jahre alt zu werden.“

VIII.

Meine Berufstätigkeit entwickelte sich sehr interessant. Von jeher hatte ich eine besondere Vorliebe für Detektiv-Romane und ging gern in den Spuren des Chevalier Dupin (Poe), Sherlock Holmes (Doyle) oder Mr. Lecocq (Gaboriau), deren Ahnherr ja eigentlich Wilhelm Hauffs Jude Abner ist. Ich suchte die bewährten Methoden dieser Helden zu befolgen und erlangte eine gewisse Fertigkeit, die mich in die Lage versetzte, ganz fremden Leuten, die in meine Sprechstunde kamen, von vornherein anzusehen, was sie zu mir führte. Ich erinnere mich z. B., einen wildfremden Mann, der in mein Zimmer trat, noch bevor er ein Wort gesagt hatte, dadurch in ziemliche Verwirrung gesetzt zu haben, daß ich bemerkte: „Ich gebe zu, daß Sie als Lehrer manchen Versuchungen ausgesetzt sind, aber es ist schlimm, daß Sie sich an den Ihnen vertrauten Kindern in so schwerer Weise vergangen haben.“ Er versuchte zu leugnen, aber als ich ihm sagte, daß ich dann kaum zu solcher Diagnose gekommen wäre, gestand er sein Vergehen. Er wurde dann auch zu längerer Gefängnisstrafe verurteilt.

Bei diesen meinen Neigungen war es natürlich sehr interessant, als ich eines Tages von einem mir nur dem Namen nach bekannten russischen adligen Latifundienbesitzer ein Telegramm bekam, in dem ich aufgefordert wurde, unverzüglich nach München zu fahren, um die Umstände des Todes des Grafen T. aufzuklären. Ich fuhr sofort in die Bayrische Hauptstadt und arbeitete dort mit Hilfe eines Detektivbüros, und indem ich die Bekanntschaft aller möglichen Leute aus der Umgebung jenes Grafen T. machte, drei Tage lang mit größter Intensität, um dann – eigentlich mit großer Enttäuschung – festzustellen, daß der Graf auf die natürlichste Weise nach einer Operation in der Klinik unter Erweisung aller medizinischen Ehren verstorben war. Ich nahm an, daß mein Auftraggeber ebenso enttäuscht sein würde und berichtete ihm telegraphisch und brieflich über den negativen Erfolg meiner Bemühungen. Zu meinem Erstaunen erhielt ich dann ein überaus befriedigtes und verbindliches Dankschreiben und ein reichliches Honorar. Was eigentlich hinter der Sache steckte, habe ich nie erfahren.

In einem andern Falle aber hatten wir, oder in der Hauptsache Alfred Klee, die Gelegenheit, einen Todesfall, der unter eigentümlichen Umständen erfolgt war, wirklich aufzuklären und damit zwei brave Leute von Elend und Schande zu retten. In einem Harzstädtchen war eine alte Frau gestorben, und es ging in dem Ort das Gerücht um, daß ihre Tochter und deren Mann, angesehene Bürger, sie beseitigt hätten. Besonders war es der Bürgermeister, der mit diesen Leuten verfeindet war, der dieses Gerücht verbreitete und schließlich die Staatsanwaltschaft zum Einschreiten veranlaßte. Die Leute wurden in Haft genommen und kamen vor das Schwurgericht in Göttingen. Das Verfahren endete damit, daß die beiden zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Der Arzt aber, der die alte Frau behandelt hatte, beruhigte sich dabei nicht, überzeugt von der Unschuld der Leute und davon, daß die alte Frau eines natürlichen Todes gestorben war. Er wandte sich an hervorragende Sachverständige in Berlin, und man zog schließlich Alfred Klee zu, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens herbeizuführen. Die Aufhebung eines schon rechtskräftig gewordenen Urteils gelingt nur äußerst selten. Klee, nachdem er die Überzeugung gewonnen hatte, daß hier ein Justizmord vorlag, setzte mit ungeheurem Eifer das Wiederaufnahmeverfahren durch, und in der neuen Verhandlung vor dem Schwurgericht erreichte Klee den Freispruch und die vollkommene Rehabilitierung der unschuldigen Angeklagten. Die Leute waren natürlich überglücklich, und die Frau kam eines Tages nach Berlin gefahren, um noch einmal in unserem Büro sich zu bedanken. Sie schilderte eindringlich die Verfolgungen, denen sie ausgesetzt waren, und schloß ihre Rede mit den bezeichnenden Worten: „Mein guter Engel hat mich schließlich zu Ihnen geführt, und so bin ich endlich in gute christliche Hände geraten.“ Sie war wohl nicht die einzige, welche die Erfahrung machen mußte, daß das, was im allgemeinen unter „guten Christen“ verstanden wird, sich sehr oft gerade unter Juden findet.

Seltsamer Weise wurde meine detektivische Neigung auch in der berühmten Konitzer Affäre in Anspruch genommen. Der Fall selbst, die Ermordung des Gymnasiasten Ernst Winter lag freilich Jahre zurück. Um das Jahr 1900 war ein 19jähriger, wegen seines ausschweifenden Lebens recht übel beleumdeter junger Mann, Schüler des Gymnasiums der Stadt Konitz, ermordet worden. Seine Leiche war zerstückelt, und die einzelnen Teile wurden an verschiedenen Stellen aufgefunden. Sofort tauchte das alte Gespenst der Ritualmordbeschuldigung auf. Die antisemitische Presse bemächtigte sich des Falles, und besonders tat sich der Redakteur der Staatsbürger-Zeitung, der berühmte Antisemitenführer Bruhn, hervor. Bis in die weitesten Kreise schenkte man dem Märchen Glauben. Ich erinnere mich, wie ein jüdischer Amtsrichter, der, um sich der unerträglich gewordenen, vergifteten Atmosphäre in Konitz zu entziehen, sich nach Hannover hatte versetzen lassen, – viele Juden verließen damals ihre Heimatstadt – zu seinem Schrecken bei einem Diner von seiner Nachbarin, die den besten und intelligentesten Kreisen angehörte und nicht ahnte, daß ihr Tischherr Jude war, hören mußte: „Sie sind aus Konitz? Da zweifelt doch sicher kein Mensch daran, daß dieser Winter ein Opfer fana­tischer Juden geworden ist.“ – Es kam in Konitz und Umgebung zu ernsthaften Pogromen, und nur das Einschreiten von Polizei und Militär verhinderte Schlimmeres. Die Untersuchungen blieben erfolglos, obwohl sich die gewiegtesten Kriminalisten und Detektive Deutschlands der Sache angenommen hatten. Es gab nun eine Reihe von Meineidsprozessen gegen verschiedene Einwohner der Stadt, die in der Sache als Zeugen vernommen waren, und mehrere von ihnen wurden auf Grund sehr zweifelhafter Aussagen zu schweren Zuchthausstrafen verurteilt. Maximilian Harden hat in seiner „Zukunft“ ausführlich über diese Vorgänge sich ausgelassen. Selbst als ein Gutachten höchster medizinischer Autorität zweifellos fest­gestellt hatte, daß Winter erwürgt war, offenbar bei einem galanten Abenteuer überrascht, brachte das die Hetze nicht zum Stillstand, und der Glaube an den Ritualmord blieb unerschüttert.

Nun, viele Jahre später, kam zu mir eines Tages höchst aufgeregt der Redakteur Julius Moses, der spätere sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete, und erklärte, er glaube, jetzt auf der Spur jenes Mörders zu sein. Es fand eine Konferenz bei dem schon oft von mir genannten M. A. Klausner statt, und dort wurde mir nun mitgeteilt, daß gewisse Indizien auf einen Konit­zer Schulmann hinweisen. Man meinte, daß dieser jenen unglücklichen jungen Mann beim Verkehr mit seiner Tochter ertappt habe, und daß dann im Jähzorn jene Tat von ihm begangen sei. Das mir vorgelegte Material war sehr dürftig. Es handelte sich in der Hauptsache nur um Hypothesen, die jene Darstellung in den Bereich der Möglichkeit, aber kaum in den der Wahrscheinlichkeit rückten. Immerhin ließ ich mich bei der Bedeutung, die die Angelegenheit für die jüdischen Interessen hatte, dazu bewegen, der Sache nachzugehen. Es gelang mir, Einsicht in die längst reponierten Akten zu nehmen, und ich überzeugte mich, daß wirklich mit überaus großem Eifer und Scharfsinn von den Behörden an der Aufklärung gearbeitet war. Aber doch kam ich schließlich in der Tat auf ein Indiz, das den Untersuchungsbeamten bisher entgangen war. Der Kopf jenes unglückseligen Winter war in eine Zeitung gewickelt gefunden worden, deren Datum seltsamer Weise mehrere Jahre gegenüber dem Mordtage zurücklag. Das fiel mir auf. Ich fragte mich, wer nun ein Interesse haben könnte, eine Nummer des Konitzer Tageblatts jahrelang aufzubewahren. Ich stöberte im Zeitschriften-Lesezimmer der Königlichen Bibliothek jene Nummer auf und studierte sie sorgfältig. Zu meinem höchsten Erstaunen fand ich das, was ich gesucht hatte, nämlich eine Todesanzeige, die die betreffende verdächtige Persönlichkeit in der Tat nahe berührte. Damit war allerdings nun eine gewisse Grundlage für ein weiteres Vorgehen geschaffen. Aber dann stellte sich heraus, daß diese Person schon seit Jahren verstorben war, und daraufhin beschlossen wir, die Sache als aussichtslos liegen zu lassen.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich sagen, daß nach meiner Auffassung, zumindest in dem Deutschland jener Zeit, in der ich dort wirkte, es wohl selten zu einem Justizmord kam. Wohl mögen oft Vorurteile aller Art, Klassenvorurteile, Rassenwahn und irgendwelche Ressentiments bei der Urteilsfindung mitgewirkt haben, ohne daß sich die Richter über ihre Vorein­genommenheit im klaren waren. In solchen Fällen liegt eine Rechtsbeugung vor, bewußter oder unbewußter Art. Ein Justizmord liegt aber nur dann vor, wenn objektive und unabhängige Richter in gutem Glauben zu einem Fehlurteil kommen. Im andern Falle kann der Fehlspruch nicht der Justiz, sondern nur ihren Vertretern zur Last gelegt werden. Viel häufiger natürlich, als daß ein Unschuldiger verurteilt wird, geschieht es natürlich, daß ein Schuldiger freigesprochen wird. Im Grunde genommen ist auch das ein Justizverbrechen.

Im Zivilprozeß freilich kann es sehr oft geschehen, daß das Gericht zu einem falschen Urteil veranlaßt wird. Eine ganz besondere Gefahr stellte in Deutschland das Kapitel von Arresten und einstweiligen Verfügungen dar. Eine solche einschneidende Maßnahme konnte sehr leicht z. B. erwirkt werden, wenn glaubhaft gemacht wurde, daß das spätere Urteil im Auslande vollstreckt werden müßte. Auf diese Weise konnte es geschehen, daß ein notorischer französischer Millionär wegen einer ganz geringfügigen Summe durch Personal-Arrest verhaftet wurde. Und leichtfertige und gewissenlose Menschen hatten es in der Hand, auf diese Weise nicht wiedergutzumachenden Schaden anzurichten. So wurde ich eines Tages kurz vor den hohen Feiertagen angerufen: Ein russisch-jüdischer Herr, der auf der Durchreise von Kissingen begriffen war, und der im Elite-Hotel in Berlin abgestiegen war, wurde plötzlich wegen einer angeblichen Forderung von einem Gerichtsvollzieher, der mit einem Haftbefehl versehen war, aufgesucht. Als ich ins Hotel kam, war der Herr bereits in das Gefängnis nach Moabit abgeführt. Ich jagte nach Moabit, und es gelang mir, obgleich es gegen Mitternacht war, entgegen allen Vorschriften, ihn zu sprechen. Der Herr war natürlich in größter Aufregung, behauptete, daß die Forderung betrügerisch sei, und jammerte, er müsse unbedingt seine Reise fortsetzen, um die Feiertage in seiner Familie verleben zu können. Der Arrest war vom Amtsgericht Oeynhausen erlassen, und der Mann war nur frei zu bekommen, wenn die Summe – es handelte sich, wenn ich nicht irre, um 35.000 Mark, sofort bei diesem Amtsgericht hinterlegt würde. Das mußte am nächsten Morgen geschehen, wenn der Mann noch seinen Zug erreichen sollte. Es gelang mir, noch in der Nacht die Summe aufzutreiben, und früh um 6 Uhr fuhr mein Sozius, Dr. Fritz Simon, nach Oeynhausen, und mittags kam das Telegramm, das die Freilassung meines Klienten verfügte. Einige Wochen später fand dann die Verhandlung in Oeynhausen statt. Auf Wunsch meines Klienten fuhr ich zu diesem Termin. Es ist niemals aufgeklärt, wieso der Gegner dazu gekommen war, gerade bei diesem Amtsgericht Arrest zu beantragen. Mein Klient war niemals in diesem Orte gewesen. Das Amtsgericht war in keiner Weise zuständig, und es lag eine haarsträubende Fahrlässigkeit des Gerichts vor, das die einfache Frage der Zuständigkeit überhaupt nicht geprüft hatte. Auch die ganze Forderung war einfach aus der Luft gegriffen. Aber der Kläger war inzwischen verschwunden, und die Kosten, die ihm vom Gericht natürlich auferlegt wurden, waren nicht beizutreiben. Für seinen Schrecken bekam mein Klient keinerlei Entschädigung.