Miryams Geheimnis

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Miryams Geheimnis
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Ruth Gogoll
MIRYAMS GEHEIMNIS

Roman

© 2021

édition el!es

www.elles.de info@elles.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-333-3

Coverfoto:

iStock.com/oversnap

1

Ella erwachte und stöhnte. Ihr Kopf schmerzte, als hätte sie ein Bulldozer überfahren.

Mühsam versuchte sie, die Augen zu öffnen. Grelles Licht traf sie, und noch mehr stöhnend schloss sie sie wieder.

»Ach, das ist gut. Sie sind wach.«

Diesmal öffnete Ella vorsichtig nur ein Auge zu einem Schlitz.

Eine fremde Frau stand mit einem Pappkaffeebecher in der Hand vor ihrem Bett.

Bett? Sie lag im Bett? War sie nicht eben noch auf der Straße gewesen? Im Regen? Bei Gewitter?

Sie öffnete auch das zweite Auge zu einem Schlitz. »Wer . . . Wo . . .?« Sie stöhnte erneut. »Was ist passiert?«

»Kann ich nicht sagen. Ich habe Sie im Straßengraben gefunden.« Die Frau lächelte sie an. »Da ich nicht warten wollte, bis eine Ambulanz kommt, habe ich Sie ins Krankenhaus gebracht.« Sie trank einen Schluck und schaute dann auf ihre Uhr. »Jetzt muss ich aber los. Ich war eigentlich auf dem Weg zu einem Termin.« Während sie Ella zuwinkte, drehte sie sich um, warf im Hinausgehen ihren Kaffeebecher in den Papierkorb und war verschwunden.

Ella hätte gern den Kopf geschüttelt, denn das alles erschien ihr mehr wie eine Vision denn wie die Wirklichkeit, aber als sie es versuchte, grub sich der Schmerz dermaßen in ihre Schläfen, dass sie sofort wieder erstarrte.

Kurz darauf betrat eine Krankenschwester ihr Zimmer. »Wie geht es uns denn?«

Waren Krankenschwestern nicht herzig? dachte Ella sarkastisch. Immer teilten sie das Leid ihrer Patienten.

»Was ist passiert?«, fragte sie zurück. »Ich kann mich an nichts erinnern.«

»Offenbar hat jemand Sie von der Straße abgedrängt. Sind Sie tatsächlich bei diesem Wetter Motorroller gefahren?«

Das klang so, als wäre Ella selbst schuld. Sie hätte ein Auto nehmen sollen.

»Ich habe leider nichts anderes«, sagte Ella und verzog die Lippen. Das ging halbwegs, anscheinend war sie dort nicht verletzt. Sie hatte ja auch einen Helm getragen. »Und irgendwie muss ich schließlich von einem Ort zum anderen kommen.«

Die Schwester legte ihr eine Blutdruckmanschette an und stülpte ein anderes Messgerät über ihren Finger. »Also ein Roller . . .« Anscheinend kam sie immer noch nicht darüber hinweg. »Da würde ich lieber den Bus nehmen. Und dann noch bei Regen und Gewitter. Ein Blitz hätte Sie treffen können.«

Ella seufzte. »Fragt sich, was schlimmer ist.«

Auf einmal erinnerte sie sich: Sie hatte eine Art Vorahnung gehabt. Irgendein Wagen war ihr gefolgt, immer näher gekommen, sie hatte die Scheinwerfer in ihren Rückspiegeln gesehen, sie hatten sie geblendet. Die Regentropfen und die Dunkelheit hatten noch mehr zu ihrer Unsicherheit beigetragen. Deshalb war sie ein wenig an den Straßenrand ausgewichen, und das war offensichtlich ein Fehler gewesen.

Normalerweise fuhr sie mit Absicht in der Mitte der Spur oder so weit wie möglich zur Straßenmitte hin, denn Autofahrer waren Zweiradfahrern gegenüber leider selten rücksichtsvoll. Sie quetschten sich mit wenigen Zentimetern Abstand an ihrem Roller vorbei, und schon des Öfteren hätte sie ihnen dabei gern die Scheibe eingeschlagen.

Bis jetzt hatte sie einen Unfall immer vermeiden können, aber diesmal hatte das Schicksal sie erwischt. Glücklicherweise war diese Frau vorbeigekommen . . .

Sie versuchte, sich stirnrunzelnd an das Gesicht zu erinnern, und zuckte erneut zusammen, weil ihr Kopf auf einmal wie mit Nadeln gespickt erschien.

»So«, sagte die Schwester in diesem Augenblick und zog den Clip von Ellas Finger, »das war’s. Noch etwas erhöht, aber das ist normal.«

Ella wollte leicht den Arm anheben, um ihr das Abnehmen der Blutdruckmanschette zu erleichtern, aber da folterte sie ein weiterer Schmerz. Sie gab einen gequälten Laut von sich.

»Tja, das Schlüsselbein ist gebrochen«, verkündete die Schwester augenscheinlich vergnügt. »Den Arm werden Sie eine Weile nicht bewegen können.« Sie hob die Bettdecke an. »Und den Fuß auch nicht.«

Entsetzt starrte Ella auf ihren fest einbandagierten Knöchel. Erst jetzt nahm sie richtig wahr, dass sie eine Art Schlinge um den Hals trug, in der ihr Arm fixiert war.

Oh Gott! Es war nur ein innerer Aufschrei, denn ihre Lippen waren vor Bestürzung versiegelt. »Was . . . Wie . . . Wie lange . . .?«, stammelte sie, als die Schwester schon wieder auf dem Weg nach draußen war.

»Na, so zwei, drei Monate müssen Sie schon rechnen. Besonders für den Knöchel«, teilte ihr die Schwester ungerührt mit. »Aber das kann Ihnen der Arzt genauer sagen.« Und schon war sie verschwunden.

Ella blieb allein zurück und musste sich erst einmal sammeln. Zwei oder sogar drei Monate konnte sie nicht arbeiten? Sie hatte mehrere kleine Jobs, die – nun ja – nicht mit dem Luxus einer Versicherung verbunden waren, und sie brauchte das Geld. Sie hatte keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung, da sie ihr Studium abgebrochen und noch nie versicherungspflichtig gearbeitet hatte.

Bisher hatte sie keinerlei Hilfe vom Staat nötig gehabt, sie hatte sich ihren Lebensunterhalt immer selbst verdienen können. Zwar stellten viele Unternehmen keine neuen Leute fest ein, aber nicht feste Jobs ohne Sozialabgaben für den Arbeitgeber gab es genug.

Leichte Panik ergriff sie. Wie lange war sie schon hier? Inka . . .

Ihre Augen schweiften hektisch über den fahrbaren Tisch neben ihrem Bett. War da vielleicht ihr Handy drin? Dann konnte sie ihre Nachbarin anrufen –

Als Nächstes entrang sich wieder ein lautes Stöhnen ihren Lippen. Der Nachttisch stand rechts, auf der Seite, auf der sie sich das Schlüsselbein gebrochen hatte. Sie konnte ihn nicht erreichen, da sie weder den Arm heben noch die Schulter drehen konnte.

Sie versuchte, sich aufzurichten und den linken Arm zu benutzen, aber auch das war unmöglich. Schwer keuchend sank sie ins Kissen zurück. Der Knopf, um die Schwester zu rufen, war ebenfalls rechts am Bett befestigt. Sehr schlau.

Eine Uhr schien es hier im Zimmer nicht zu geben. Ihre Armbanduhr war von ihrem Handgelenk verschwunden, vielleicht durch den Unfall kaputtgegangen. Ihre Gedanken stolperten hektisch durch ihren Kopf.

Aber nein, so lange konnte sie noch nicht hier sein. Die Frau, die sie hergebracht hatte, hatte gesagt, sie wäre auf dem Weg zu einem Termin gewesen. Und offenbar konnte sie den noch wahrnehmen.

Ihr rasender Herzschlag beruhigte sich ein wenig. Auch hatte sie das Gefühl, sie wurde schläfrig. War das vielleicht der Tropf, der an ihrem Arm hing?

Mit aller Gewalt versuchte sie gegen die Müdigkeit anzukämpfen, riss immer wieder die Augen auf, auch wenn das Licht wie ein Messer durch ihre Kopfhaut stach.

Warum musste es in Krankenzimmern nur so hell sein?

2

Sinnend saß Miryam an ihrem Schreibtisch. Aber sie sann nicht über ihren Beruf nach, über die Pläne, die vor ihr auf dem Bildschirm prangten.

Was ungewöhnlich war. Denn wenn sie sich in ihrem Büro aufhielt, beschäftigte sie sich normalerweise ausschließlich damit. Sie trennte Beruf und Privates, soweit es möglich war.

Heute jedoch ging ihr einfach nicht mehr aus dem Sinn, was gestern passiert war. Es war früh, ihre Mitarbeiter waren noch nicht da, also konnte sie in Ruhe nachdenken.

Diese Frau, die sie da aus dem Graben gezogen hatte . . . Sie war jung. Sehr jung. Warum war sie nur bei diesem strömenden Regen mit dem Roller gefahren? Und das auch noch bei Dunkelheit?

Na ja, in dem Alter machte man sich noch nicht viele Gedanken über Risiken. Als Teenager hielt man sich für unsterblich. So alt war Miryam auch noch nicht, dass sie sich daran nicht mehr erinnern konnte.

Wahrscheinlich war diese junge Frau auf dem Weg zu irgendeiner Party gewesen, die ihr wichtiger war als die Wetterverhältnisse oder die Gefahren, die damit einhergingen. Miryam hatte um diese Tageszeit meistens noch berufliche Termine. An Party war da noch lange nicht zu denken.

Aber daran lag ihr auch nichts. Partys waren etwas für Leute, die zu viel Zeit hatten und zu wenig Verstand, um zu erkennen, dass sie damit ihre Zeit nur noch mehr verschwendeten, als sie es ohnehin taten.

Dennoch musste sie sagen, dass diese junge Frau ihr nicht so erschien, als hätte sie keinen Verstand. Miryam hatte kaum ein paar Worte mit ihr gewechselt, und doch war ihr der intelligente Blick aufgefallen, der sie kurz getroffen hatte, bevor sie ging.

Zwar war dieser Blick noch von Schmerzmitteln verschleiert gewesen, aber Miryam war wirklich ein Stein vom Herzen gefallen, als die bleiche Gestalt da im Bett die Augen aufschlug. Es hatte sehr lange gedauert, bis sie aufgewacht war, und während der ganzen Zeit, als sie auf dem Rücksitz von Miryams Wagen lag, hatte Miryam besorgt nach hinten geschaut, so oft sie konnte. Wieso war sie nicht aufgewacht, als sie sie in den Wagen gebracht hatte? Gehirnverletzung?

Aber dann hatte sie der noch nicht ganz wache, aber dennoch wissbegierige Blick aus diesen blauen Augen getroffen, und sie war mit einem Schlag beruhigt gewesen. Obwohl er etwas verwirrt und orientierungslos gewirkt hatte – völlig verständlich, wenn man plötzlich in einem Krankenhauszimmer aufwachte und nicht wusste, wie man dahingeraten war –, sah das absolut nicht nach Gehirnverletzung aus.

 

Sie hatte nicht bleiben können, weil sie einem Kundenehepaar versprochen hatte, heute Abend zu ihnen nach Hause zu kommen, wenn der Mann auch einmal zu Hause war. Er kam immer sehr spät von der Arbeit, und so hatte sie bisher nur mit der Frau als Auftraggeberin gesprochen. Die war aber anscheinend nicht sicher, ob ihr Mann mit ihren Wünschen einverstanden sein würde.

Das war nicht ungewöhnlich, aber diesmal fühlte sie sich beschwingter als sonst, als sie zu der Adresse fuhr. Es war alles gutgegangen, die junge Frau würde sich erholen, und jetzt im Krankenhaus war sie erst einmal gut versorgt.

Nach ihrem Termin fuhr sie nach Hause und saß dort in ihrem Arbeitszimmer noch eine ganze Weile am Schreibtisch, um die Wünsche der Kunden auf die Pläne zu übertragen. Der Mann hatte einiges zu meckern gehabt, aber Miryam hatte den Eindruck, das tat er immer. Schon aus Prinzip. Die Beziehung zwischen den beiden war ziemlich klischeehaft. Er bestimmte, sie gehorchte.

Miryam sah das öfter, und sie fragte sich, wie so eine Beziehung funktionieren konnte. Für sich selbst wünschte sie sich das nicht und konnte es sich auch nicht vorstellen. Im Büro musste sie sehr viel bestimmen, und es lag in gewisser Weise auch in ihrer Natur, aber sie wollte nicht, dass andere immer nur gehorchten. Sie schätzte diejenigen ihrer Mitarbeiter am meisten, die nicht nur einen Auftrag ausführten, den sie ihnen erteilt hatte, sondern auch selbst mitdachten. Die auch einmal widersprachen, wenn sie anderer Meinung waren oder eine gute Idee hatten, auf die Miryam noch nicht gekommen war.

Sie wusste, dass viele Leute sie anders sahen. Sie war eine erfolgreiche Geschäftsfrau in einer Männerwelt, in der alle es völlig normal fanden, wenn ein Mann über andere bestimmte und ihnen Befehle und Aufträge erteilte, das bei einer Frau aber immer negativ betrachtet wurde. So als ob es nicht dasselbe wäre.

Zudem hatte sie nicht die ausgesprochen weibliche Art ihrer Mutter geerbt, die mit einem Lächeln fast alles erreichen konnte, sondern die eher herbe Art ihres Vaters. Man hätte es auch herrisch nennen können. Was bei ihm jeder akzeptiert hatte. Er war eben ein Mann, der wusste, was er wollte. Wenn Miryam dasselbe tat, wurde sie als mindestens anmaßend betrachtet. Wenn nicht Schlimmeres. Sie hatte da schon einiges an Bezeichnungen gehört.

Diese junge Frau da im Krankenhaus . . . Die hatte das Problem bestimmt nicht.

Miryam lächelte. Und das tat sie nicht oft. Es gab Menschen, die hatten eine Ausstrahlung, die einen einfach zum Lächeln brachte. Diese junge Frau gehörte dazu. Sie hatte kaum ein Wort mit ihr gesprochen, sie nur eine Weile betrachtet, nachdem sie ins Zimmer gebracht worden war und noch im Bett schlief, und doch hatte sie sich so ihre Gedanken über sie gemacht.

Warum, das wusste sie noch nicht einmal so genau. Die halblangen blonden Haare lockten sich etwas auf dem Kissen, vielleicht wegen der Feuchtigkeit des Regens, die sich auch unter dem Motorradhelm gefangen hatte, und Miryam erschien es so, als hätte das etwas von Engelshaar.

Sie lachte über sich selbst, als ihr dieser Gedanke kam. Denn wer stand schon auf Engel? Bisher hatte sie allerdings auch noch keine Frau kennengelernt, die dieser Bezeichnung entsprach. Angefangen bei ihrer Mutter.

Die meisten Frauen, die sie kennenlernte, hatten nichts Engelhaftes an sich. Es ging immer um einen bestimmten Zweck, den die Begegnung erfüllen sollte. Manchmal Sex, manchmal etwas anderes. Niemand ließ sich mit jemand anderem ein, wenn er keinen Vorteil davon hatte. Auch wenn es vielleicht nur ein kurzzeitiger war und man sich gleich nach dem Orgasmus verabschiedete.

Miryam war das eigentlich ganz recht, denn sie hatte nicht viel Zeit für private Beziehungen. Sie arbeitete so gut wie fast immer. Nur zum Schlafen ging sie nach Hause. Dort lief alles auch ohne sie reibungslos.

Wäre es anders gewesen, wenn dort so jemand wie diese junge Frau auf sie gewartet hätte? Abwehrend schüttelte sie den Kopf. Was für ein dummer Gedanke. Dennoch konnte sie sich nicht ganz davon lösen. Sie sah dieses weiche, noch etwas mitgenommene Gesicht vor sich, das sie aus dem Krankenhauskissen angeschaut hatte.

Das war kein Gesicht, wie sie es normalerweise sah. Es hatte etwas . . . Besonderes. Eine Art von Unschuld, von der sie glaubte, dass es sie eigentlich gar nicht geben könnte. Nicht mehr. Oder höchstens noch bei Kindern.

»Guten Morgen, Frau Marhold«, riss sie eine freundliche Frauenstimme aus ihren Gedanken.

Miryam blickte auf. »Guten Morgen, Frau Hein«, begrüßte sie ihre Assistentin. »Sie sind schon da?«

Fragend hob Ulrike Hein die Augenbrauen. »Wie immer. Ich bin nicht früher als sonst.«

Unwillkürlich warf Miryam einen Blick auf die Uhr. »Ach ja, tatsächlich«, sagte sie überrascht. Es war ihr gar nicht aufgefallen, wie die Zeit verflogen war, während sie sich in Gedanken mit all dem beschäftigte, was ihr keine Ruhe ließ.

Sie stand auf. »Dann gehe ich mal. Sie halten ja jetzt hier die Stellung.«

Ulrike Heins Stirn runzelte sich. »Aber Ihr Termin ist doch erst in einer Stunde.«

»Ja«, bestätigte Miryam. »Aber ich muss vorher noch etwas erledigen.«

3

»Ich scheine immer zu kommen, wenn Sie schlafen.« Eine leicht amüsierte Stimme drang wie durch einen Nebel zu Ella.

Ihre Augenlider, schwer wie Blei, verweigerten jeglichen Befehl, sich zu öffnen.

Auf einmal hörte sie lautes Geklapper.

»Ah, Frühstück«, sagte die amüsierte Stimme.

Ella verspürte nicht den geringsten Appetit, aber jetzt, da sie langsam wach wurde, kehrten ihre Sorgen wie in einer blitzartigen Erinnerung zurück. »Inka . . .«, stöhnte sie, ohne die Augen zu öffnen.

»Eigentlich heiße ich Miryam«, erwiderte die amüsierte Stimme.

Konzentration. Ella stellte sich vor, an ihren Augenlidern wären oben Magnete befestigt, die sie hochzogen. Es schien zu funktionieren. Aus einer sehr verschwommenen Wahrnehmung wurde ein etwas klareres Bild, und auch wenn sie die Stimme nicht gleich erkannt hatte, konnte sie sie doch sofort mit dem Bild in Verbindung bringen, als sie die Frau nun sah.

Erneut hielt sie einen Kaffeebecher aus einem Automaten in der Hand. Ein weiteres Erkennungszeichen.

Eine junge Frau stürmte mit einem Tablett herein und stellte es auf den Nachttisch. Sie drehte einen Teil des Tisches über das Bett und raste wieder aus dem Zimmer hinaus.

Ella schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, da das Tablett rechts von ihr und viel zu weit entfernt war, um es in ihrem Zustand überhaupt erreichen zu können. Aber was auch immer sie hätte sagen können, die junge Frau, die das Tablett gebracht hatte, war längst verschwunden.

»Keinen Hunger?«, fragte Miryam.

»Das auch nicht.« Ella verzog das Gesicht. »Aber auf der rechten Seite bin ich etwas behindert«, sie wies mit ihrem Kinn auf die Schulter in der Schlinge, »und könnte noch nicht einmal essen, wenn ich das wollte, weil ich das Tablett gar nicht heranziehen kann.«

»Dem kann man abhelfen.« Miryam trat auf sie zu und drehte das Tablett ganz über ihr Bett bis fast an ihre Brust.

Ella lachte leicht verlegen und rollte die Augen. »Und alle Knöpfe sind an der rechten Seite. Würden Sie bitte auch noch das Kopfende hochfahren?«

Mit einem suchenden Blick tastete Miryam die Seite des Bettes ab, fand die Fernbedienung und fuhr das Kopfende hoch, bis Ella »Danke, das ist genug« sagte.

Dennoch begann Ella nicht zu essen, sondern schaute unruhig zur Tür.

»Erwarten Sie jemanden?«, fragte Miryam.

»Die Schwester.« Ella atmete tief durch, um sich zu beruhigen. »Jemand muss sich um Inka kümmern. Sie ist seit gestern allein in der Wohnung. Ich war gerade auf dem Weg zurück, als –«

»Ihre Tochter?«, fragte Miryam.

Schmunzelnd schüttelte Ella den Kopf. »Meine Hündin.« Dann verschwand das Schmunzeln von ihrem Gesicht, machte einem besorgten Ausdruck Platz. »Ich muss meine Nachbarin anrufen. Sie hat einen Schlüssel.« Ihr Blick wanderte zu der Schublade am fahrbaren weißen Nachttisch.

Miryam nahm den Blick wahr und zog die Schublade heraus. Als sie das Handy in die Hand nahm, runzelte sie die Stirn. »Ich glaube, es hat keinen Strom mehr.«

Für einen Augenblick wurde Ella von Verzweiflung erfasst, und sie fühlte Tränen in ihre Augen steigen.

»Wie ist die Nummer?«, fragte Miryam. »Ich rufe an.«

Ella schluckte die Tränen herunter und rief sich die Zahlen mühsam ins Gedächtnis. Sie hoffte, dass es die richtigen waren, denn normalerweise verließ sie sich darauf, dass sie alle Nummern in ihrem Handy gespeichert hatte.

Miryam reichte ihr das Handy, während die Verbindung hergestellt wurde, hielt es aber automatisch an Ellas rechte Seite, da sie auf dieser Seite des Bettes stand.

»Links bitte«, sagte Ella.

»Ja, natürlich.« Schnell korrigierte Miryam die Richtung und bewegte das Handy nun vor Ellas linke Hand, die sich ihr entgegenstreckte.

Ella nahm es und wartete darauf, dass ihre Nachbarin abnehmen würde. Aber das tat sie nicht. Immer angespannter wurde ihr Gesichtsausdruck.

»Kein Netz?«, fragte Miryam.

Ella schaute auf das Display. »Doch, aber sie nimmt nicht ab.«

»Vielleicht hat sie das Handy nicht immer dabei.« Miryam runzelte die Stirn, und obwohl Ella unruhig darauf wartete, dass ihre Nachbarin abnehmen würde, bemerkte sie, dass unter dieser Stirn ein interessantes Augenpaar sie beobachtete. Sich darüber Gedanken zu machen, warum sie das interessant fand, dafür hatte sie im Moment allerdings keine Zeit.

»Kann sein«, antwortete sie. Als das Handy auf die Ansage des Anrufbeantworters umschaltete, sprach sie hastig eine Nachricht auf. Nervös beendete sie danach die Verbindung. »Inka ist ganz allein. Sie braucht Fressen und Wasser. Und sie muss raus.« Ihr Blick wanderte zum Knopf für die Schwester. »Können Sie vielleicht die Schwester rufen?«

»Die wird sich auch nicht darum kümmern«, sagte Miryam. Sie verzog etwas das Gesicht. »Ehrlich gesagt stehe ich nicht auf Hunde, aber ich kann in die Wohnung gehen. Wenn Sie mir den Schlüssel geben . . .«

»Das kann ich nicht von Ihnen verlangen.« Ella fühlte sich hilflos und verlegen. »Es war ja schon sehr nett, dass Sie mich ins Krankenhaus gebracht haben. Und dass Sie mich heute noch einmal besuchen.« Erst jetzt war sie überrascht, als sie darüber nachdachte. Bisher hatten andere Gedanken ihre Aufmerksamkeit davon abgezogen.

»Wo wohnen Sie?«, fragte Miryam. Sie griff in die immer noch offenstehende Schublade und zog einen Schlüssel heraus. »Ist das Ihr Wohnungsschlüssel?«

Ella nickte. »Aber Sie müssen nicht –«

»Ich muss los«, unterbrach Miryam sie. Sie lächelte leicht. »Termine, Termine. Sagen Sie mir einfach, wo ich hinmuss, dann fahre ich schnell dort vorbei.«

Die Sorge um Inka ließ alles andere in den Hintergrund treten. Ella gab Miryam ihre Adresse. »Meine Nachbarin wird bestimmt da sein«, fügte sie entschuldigend hinzu. »Vielleicht hat ihr Handy auch nur keinen Strom.«

»Mit dem Schlüssel ist das kein Problem«, rief Miryam schon im Hinausgehen, während das Schlüsselbund in ihren Fingern klimperte. »Da brauche ich Ihre Nachbarin nicht.«

Die Frau lebt anscheinend auf der Überholspur, dachte Ella verblüfft. Keine Zeit, keine Zeit. Das schien ihre Devise zu sein.

Umso erstaunlicher war es da, dass sie sich um Ella gekümmert hatte. Nicht nur hatte sie sie ins Krankenhaus gebracht, sondern verschwendete ihre kostbare Zeit auch noch an einen weiteren Besuch. Und die Folgen davon, wie zum Beispiel einen Abstecher zu Inka.

Wer war sie? fragte Ella sich. Bis auf ihren Vornamen wusste sie bislang nichts von ihr. Außer dass sie ziemlich . . . nun ja . . . gut aussah. Elegant irgendwie, und doch schien es so, als könnte sie auch ganz anders sein. Ihre Durchsetzungsfähigkeit stand wohl außer Frage.

Sie war wie eine dieser Frauen, die man immer in Werbespots sah. Die morgens supergestylt das Haus verließen und abends genauso zurückkehrten, ohne dass auch nur ein Härchen der perfekten Frisur verrutscht war. Die irgendwelche Vorträge hielten, charmant und kompetent, als ob das nichts wäre.

Ella fühlte sich selten so kompetent, und charmant . . . also da spielte Miryam offenbar in einer ganz anderen Liga. Verglichen mit ihr hätte Ella sich selbst eher in die Kategorie Trampel eingeordnet, obwohl sie das durchaus nicht immer so sah. Sie konnte schon etwas aus sich machen, wenn sie wollte, nur hatte sie selten Lust dazu – und ehrlich gesagt noch viel weniger Anlass.

 

Früher war sie auch einmal auf die eine oder andere Party gegangen, aber mittlerweile arbeitete sie so viel, dass sie sich in ihrer knappen Freizeit eher erholen wollte als sich noch mehr zu verausgaben. Zudem gaben ihr Partys nichts. Oberflächliche Musik, oberflächliche Leute, oberflächliche Gespräche – das war nichts als Zeitverschwendung. Da schlief sie lieber ein paar Stunden mehr in der Nacht.

Sie schloss ihre Augen und stellte sich die von Miryam vor. Interessante Augen, hatte es kurz in ihrem Kopf aufgeblitzt, und wenn sie länger darüber nachdachte, wurde ihr jetzt auch klar, warum.

Miryams Augen waren grau, aber sie strahlten, als wäre Grau eine faszinierende Farbe.