Czytaj książkę: «Theke, Antitheke, Syntheke», strona 2

Czcionka:

Mohr und Gruber zogen bald weg, aber die Oberndorfer vergaßen ihr Weihnachtslied nicht und sangen es jedes Jahr. Als der Zillertaler Orgelbauer Karl Mauracher 1825 die Orgel des kleinen Dorfes reparierte, hörte er zum ersten Mal „Stille Nacht“ und war beeindruckt. Mauracher schrieb das Lied ohne Angabe der Urheber ab, brachte Noten und Text ins Zillertal und übergab alles den singenden Geschwistern Amalie, Karoline, Anna und Josef Strasser. Diese machten das Lied bekannt, es galt von da an als Zillertaler Volkslied unbekannter Herkunft. 1833 erschien das Lied in gedruckter Form als „ächtes Tyroler Volkslied“.

Als sich die königliche Hofkapelle in Berlin 1854 unter anderen beim Stift St. Peter in Salzburg nach der Originalpartitur erkundigte, erfuhr Franz Grubers Sohn Felix von der Sache. Sogleich wurde der Ursprung des Liedes aufgeklärt. Die Berliner wandten sich direkt an Franz Gruber, der die Entstehungsgeschichte des Liedes aufschrieb.

Shaasdougn bekam von Blues ein Stück Wurst, was dieser genussvoll verdrückte. „Es ist nur einmal im Jahr Weihnachten.“

Wir hatten uns schon damit abgefunden, den Rest des Abends zu viert an der Bar zu verbringen, Blues, Hans, Shaasdougn und ich, als Pasak, Fat Lot, Charly und Block Jane mit lautem „Hallooo!“ bei der Tür hereinkamen.

Mir fiel im Moment nichts mehr ein. Ich hatte das Bedürfnis, ein richtiges Weihnachtslied zu hören, das meiner Stimmung entsprach: „Pasak, kannst du im Wurlitzer ein Weihnachtslied finden?“

„Ja“, meinte Blues“, „da ist noch ‚White Christmas‘ und ähnliches amerikanisches Zeug drin. Den ‚little Drummer Boy‘ hast du ja eben gedrückt.“

Pasak ging zum Wurlitzer. Kurz darauf ertönten die Stones: „Sympathy for the Devil“.

„And I was ’round when Jesus Christ

Had his moment of doubt and pain

Made damn sure that Pilate

Washed his hands and sealed his fate.

Pleased to meet you

Hope you guess my name,

But what’s puzzling you

Is the nature of my game …“

In der Sauren Wiese gibt es ein Thekengästebuch. Niemand weiß, wer das vor vielen Jahren eingeführt hatte. Unser Wirt Blues meinte, es sei schon der sechste Band. Die ersten drei sind verschollen, sie lagern weiß Gott wo. Im Grunde stehen ohnehin nur Klosprüche drinnen wie etwa: „Such nicht nach Witzen an der Wand, den größten hältst du in der Hand.“

Ich wollte gerade einen ordinären Spruch und meinen Namen reinschreiben, als mir beim Herumblättern ein loser Zettel mit einem Gedicht auffiel:

Zehn kleine Zecherlein,

die tranken guten Wein.

Einer hatte Gift im Glas,

da waren’s nur noch neun.

Neun kleine Zecherlein,

die plantschten durch die Nacht.

Einer ist dabei ersoffen,

da waren’s nur noch acht.

Acht kleine Zecherlein,

die hat die Trauer aufgerieben;

Bei einer hat das Herz geflattert,

da waren’s nur noch sieben.

Sieben kleine Zecherlein,

die waren voll perplex.

Als einer fiel vom Kirchenturm,

da waren’s nur noch sechs.

Sechs kleine Zecherlein,

die hatten keine Trümpf.

Dead Man’s Hand war nicht genug,

da waren’s nur noch fünf.

Fünf kleine Zecherlein,

die tranken zu viel Bier.

Eine ist zu schnell gefahren,

da waren’s nur noch vier.

Vier kleine Zecherlein,

die gingen in die Brauerei.

Einer plumpste in den Kessel,

da waren’s nur noch drei.

Drei kleine Zecherlein,

die schossen gern mit Blei,

Einer fing ’ne Kugel ein,

da waren’s nur noch zwei.

Zwei kleine Zecherlein,

die fingen an zu weinen.

Einer legt sich auf die Schienen,

da gab es nur noch einen.

Ein kleines Zecherlein,

das litt gar große Not,

es starb am Grab der Freunde,

da waren alle tot.

Ich las es zweimal durch und fragte, wer das verfasst hatte. Es war mit Tuschefeder und in schöner Schrift geschrieben. Fast schon ein kalligraphisches Kunstwerk. Niemand hatte das Gedicht zuvor gelesen.

„Uns betrifft es ja nicht“, meinte Pasak, „wir leben ja alle noch.“

„Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich gerne bei einer Pokerpartie mit Dead Man’s Hand sterben“, meinte Fat Lot grinsend, „und du, Jane, kommst gleich nach mir dran, weil du mit deiner Karre immer viel zu schnell unterwegs bist.“

Das Gedicht war mit „Teras“ unterschrieben. Ich kannte keinen Teras, auch der Wirt hatte keine Ahnung, wer das sein könnte. Charly, der neben mir stand, bemerkte meine gerunzelte Stirn und klärte mich auf: „Teras ist Griechisch und bedeutet so viel wie Ungeheuer. Schon mal was von einem Teratom gehört? Das ist eine besonders unheimliche Art von Krebs. Auch Terabyte kommt von Teras. Wörtlich übersetzt heißt das nichts anderes als ungeheuer viele Bytes“.

Wir mussten lachen und vergaßen die Sache schnell. Ich überlegte mir einen Spruch. Nach einigem Grübeln schrieb ich ins Gästebuch: „Ein Freund ist jemand, der mich mag, obwohl er mich kennt.“ Hans schrieb drunter: „Es ist ja nicht so, dass ich dich hasse, aber würdest du brennen und ich hätte Wasser, ich würde es trinken.“

Es war 2 Uhr, als wir alle aufbrachen. Blues begann, die Theke abzuwischen, dann löschte er die Lichter. Es hatte Minusgrade, und es schneite etwas.

Meine Harley-Davidson stand in der Garage. Road King Harry hielt Winterschlaf, genauso wie meine silbergraue Suzuki-Maus.

Freitag, 3. Jänner

im Gasthof zur Sauren Wiese

Wir trafen uns am 3. Jänner abends an der Theke in der Sauren Wiese. Die Theke hieß bei uns nur Theke. Die anderen hießen Antitheke, Syntheke oder hatten ordinäre Bezeichnungen. Alle von uns hatten noch von der letzten Silvesterfeier Ringe unter den Augen. Der einzige einigermaßen sportlich und frisch Aussehende war unser Wirt Blues.

Fat Lot klopfte gut gelaunt seine Sprüche, was Hans zu einem Kommentar veranlasste: „Charmant ist er schon“, und Pasak konterte: „Charme ist die Chance der Hässlichen und Dummen.“ Hans und ich gossen uns dunklen Weihnachtsbock ein.

Fat Lot erzählte von seinem Neujahrsvorsatz, seinen Wunderdiäten und schloss Wetten ab, wie viele Kilos er im nächsten Monat verlieren würde. Nachdem Blues unter allgemeinem Gelächter seine Brückenwaage zur Kontrolle zur Verfügung gestellt hatte, wechselte Fat Lot das Thema.

Fat Lot hatte Hans’ Kompliment überhört, redete fast ununterbrochen, und fragte mich gelegentlich etwas, was ich meist mit „Jawohl!“ beantwortete. Ich höre nicht zu, wenn jemand Unsinn redet, und das passiert eigentlich fast immer. Ich blätterte in einem der mitgebrachten Bücher und wurde wieder einmal von einem in der Runde, meinen Stammtischgeschwistern, „Hausautist“ genannt. Wenn die Weiber nicht da sind, haben Hans und ich Stammtischbrüder, aber wenn wenigstens eine anwesend ist, schalten wir um des Friedens willen auf „Geschwister“ um.

Die Stimmung war an diesem Abend etwas gedämpft, einige kämpften noch mit dem Jahreswechsel-Kater. Die Silvesterparty war wie meistens ein voller Erfolg gewesen. Da die meisten schon um 20 Uhr einen Zacken in der Krone hatten, lohnte sich kein Eintrag im Tagebuch.

Der Knochenbrecher schaute erkennbar frustriert in sein abgestandenes Bier, dann auf seine Uhr, wohl wissend, dass ihn der Dragoner in spätestens drei Stunden aus dem Lokal schleifen würde. Hans und ich versprachen ihm, seinen Dragoner in ein längeres Gespräch zu verwickeln, was bis zu einer Stunde Zeitaufschub bringen konnte.

Fat Lot jammerte, weil er seit Weihnachten zwei Kilo zugenommen hat. Hans versuchte ihn zu trösten und gab ihm einen Tipp: „Abnehmen ist ganz einfach. Man muss nur Appetit auf Dinge trainieren, die man nicht mag.“ Fat Lot meinte, das sei nicht so einfach, denn er fresse schließlich alles, wenn er Unterzuckerung spüre. Hans ließ nicht locker. „Schau dir einfach den Film ‚Das große Fressen‘ von Marko Ferreri an, und schon vergeht dir für einen Tag der Appetit.“

„Ja eh“, gab ihm Fat Lot Recht, „aber in dem Film vögeln sie so herrlich, und das macht wieder Appetit.“

Block Jane nippte an ihrem Irish Coffee. Ihren vermeintlich richtigen Namen Jeanine verwendeten wir schon lange nicht mehr. Da sie aber dafür bekannt war, mit ihrem Traumbusen und ihrer Wespentaille manchmal im Minirock und Netzstrümpfen zu erscheinen und dadurch anzügliche Sprüche provozierte, gleichzeitig aber jedes eindeutige Angebot – meist von Pasak – zurückwies, galt sie in der Runde als nymphomanische Jungfrau. Von der „blockierten Jeanine“ zur Block Jane war es nur ein Schritt.

Jane versuchte, Fat Lot aufzuheitern: „Schau mal, mein lieber Lothar, Gewicht zu reduzieren ist nur eine Sache des Willens. Du kannst das. Meine kaputte Kindheit kann ich dagegen nicht abschütteln. Als Kind hat mir meine Mutter immer eine Wurst umgehängt, damit wenigstens der Hund mit mir spielte.“ Fat Lot mochte es nicht, wenn jemand versuchte, ihn mit aufgesetzt dummen Sprüchen aufzuheitern.

Der schwule Ernesto, der von allen nur Che genannt wurde, tat ganz erstaunt und heuchelte Empathie, so als ob er die Kindheitsgeschichte zum ersten Mal gehört hätte. Che stammte nach eigenen Angaben aus Bolivien, machte aus seiner sexuellen Orientierung kein Geheimnis, arbeitete seit Jahren in der Brauerei Pettingerbräu und liebte Block Jane. Platonisch, versteht sich, aber innig. Da er nichts von ihr begehrte, liebte auch sie ihn. „Aber Jane“, sagte er, „du musst lernen, die alten Geschichten loszulassen. Im Übrigen wird Liebe überbewertet. Liebe ist in der Regel ein Wort mit drei Vokalen, zwei Konsonanten und zwei Idioten.“

Pasak hatte mitgehört. Niemand kannte seinen wahren Namen. Er hieß in der Runde nur Pasak. Er hatte einen tschechischen Akzent, zumindest klang das so. Er war der geborene Macho, versuchte ständig bei Block Jane zu landen, wurde aber regelmäßig abgewiesen. Er grinste Che ins Gesicht und sagte für alle hörbar: „Che ist einer von denen, die über ein Dutzend nackte Frauen hinwegsteigen, um zu einer Flasche Bockbier zu kommen.“ Block Jane kannte Pasaks Sprüche und fauchte zurück: „Lieber Bier im Blut als Stroh im Kopf, und wenn Kurt Cobain dich gekannt hätte, dann hätte er sich zweimal erschossen.“

Wir waren alle noch etwas verkatert, es war der Tag der blöden Sprüche. Wer wann was ernst oder humorvoll meinte, war letztlich egal.

Hans und ich blätterten derweil in unseren mitgebrachten Büchern. Die anderen hatten sich daran gewöhnt, manchmal stellten sie Fragen, und dann konnte es zu kleinen Vorträgen kommen. Wir waren für die anderen die Philosophen in der Runde.

Ich bestellte ein zweites Bier, und mein Kater war auf wunderbare Weise aufgewärmt. Es fühlte sich gut an. Das musste Fat Lot natürlich kommentieren: „Two beer or not two beer. That is the question.“ Charly staunte über Fats Literaturkenntnisse, betonte, dass dieses Zitat Charles Bukowsky auch schon verwendet hatte und bestellte ebenfalls ein Bier.

Charly hatte doch tatsächlich ein Buch von Charles Bukowsky mitgebracht. Es enthielt zwei Romane und einige Gedichte. Charly war wegen seiner Rückenprobleme ein vorzeitig pensionierter Briefträger. Zumindest behauptete er das. Trotzdem half er noch gelegentlich in unserer Rettungsstation aus. Da er immer noch eine Lizenz als Rettungssanitäter besaß, wurde er gelegentlich zum Beidienst eingeteilt, wenn es viel zu tun gab. Er kündigte aber an, mit Ende des Jahres endgültig Schluss machen zu wollen. Niemand fragte nach, warum er in seinem Beruf pensionierungswürdige Rückenprobleme hatte, nicht aber im Rettungsdienst. Nur der Knochenbrecher erinnerte ihn manchmal an die Sache, wenn er rief: „Es lebe der Sozialstaat!“ Was Charly beruflich tatsächlich machte, wusste niemand so richtig.

Normalerweise erzählte Charly uns von seinen interessantesten Rettungseinsätzen, aber jetzt blätterte er in seinem Bukowsky, wartete auf eine Pause und las dann laut aus dem Buch „Der Mann mit der Ledertasche“ vor:

„Aber ich sagte mir immer wieder, Herr Gott, als Briefträger braucht man nichts anderes als seine Briefe abzuliefern und mit der Hausfrau ins Bett zu steigen. Genau der richtige Job für mich.“

Pasak grinste und fragte, wie viele Briefe er pro gebumster Hausfrau zustellen musste, aber da startete Hans den Wurlitzer.

Kurz darauf ertönte „Dancing Queen“. Block Jane sang mit:

„You are the dancing queen

Young and sweet

Only seventeen

Dancing queen …“

Che beschäftigte trotz seines Katers eine Frage. Er wandte sich an mich. „Sag mal, wie ist das eigentlich mit den Monatsnamen? Zehn heißt auf Spanisch diez. Auf Italienisch heißt es dieci. Der Dezember hat also wahrscheinlich etwas mit der Zahl zehn zu tun.“ „Richtig“, bestätigte Hans, „denn zehn heißt auf Lateinisch decem. Dezember ist demnach der zehnte Monat.“ Che war verwirrt. „Warum wird dann der zwölfte Monat im Jahr lateinisch als zehnter Monat bezeichnet?“

Ich hob meinen rechten Zeigefinger, daher hat mich die Bande auch „Erklärbär“ genannt. Jetzt war ich wieder ganz der Vortragende, der in der Volkshochschule Vorträge über Philosophie und Geschichte hält. Ich fischte das Buch „Historische Tiefschläge“ aus meinem Stapel, blätterte herum, dann hatte ich die Stelle gefunden und begann zu dozieren.

Bei den alten Römern begann das Jahr nicht im Jänner, sondern im März. Die alten Monatsnamen verraten dies. Septem heißt sieben, decem bedeutet zehn. Der September war der siebte Monat im Jahr, der Dezember der zehnte. Julius Caesar und Augustus stifteten in ihrer Eitelkeit die Monatsnamen Juli und August und gaben ihnen jeweils einen einunddreißigsten Tag. Die beiden Tage entnahmen sie dem Februar, wodurch dieser nur noch achtundzwanzig Tage aufwies. Das ist ein merkwürdiges Erbe, welches die Zeiten überdauerte.

Che war begeistert. „Dann ist der kurze Februar also eine Folge der Eitelkeit zweier Cäsaren?“

„Genau“, sekundierte Hans. Ich fuhr fort und erklärte nun, ohne vorzulesen: „Die Römer wussten, dass ein Jahr nicht genau dreihundertfünfundsechzig Tage hat, sondern dreihundertfünfundsechzig und einen Vierteltag. Aus diesem Grunde hängten sie alle vier Jahre im Februar einen Schalttag an, wodurch der Kalender wieder ins Lot kam. Der Teufel steckt aber im Detail. Ein Jahr dauert, wie die Astronomen herausfanden, nicht dreihundertfünfundsechzig und einen Vierteltag, sondern etwas weniger. Im Zeitraum von einigen Jahrzehnten ist dies ohne Bedeutung, aber im Laufe der Jahrhunderte wurden wegen dieses kleinen Unterschieds zu viele Schalttage eingeschoben. Der Kalender wurde fehlerhaft.“

„Jaja, mit der Zeit ist das so eine Sache“, meinte Fat Lot und nahm einen tiefen Schluck, „Comes time, comes bicycle“, fügte er an.

Che war verwirrt. „Was?“

Hans beruhigte Che. Er meinte nur: „Kommt Zeit, kommt Rad.“

Ich fuhr mit erhobenem Zeigefinger fort:

„Im Jahr 325 hatten die Bischöfe am Konzil von Nizäa beschlossen, dass die Tag- und Nachtgleiche des Frühlings auf den 21. März fallen soll. Daraus folgten alle anderen beweglichen Festtage.“

Nur Che hatte noch zugehört. „Nach dem Silvesterkater und nach zwei Reparaturbieren seid ihr zwei“ – er meinte Hans und mich – „noch gut drauf.“ „Nicht übertreiben“, entgegnete Hans, und ich ergänzte: „Erzählen geht gerade noch.“

„Na“, meinte der Knochenbrecher, „seid ihr gut ins neue Jahr gerutscht?“

„Scheiß-Rutsch“, maulte Pasak, „woher kommt denn der Quatsch? Ich habe mich ins neue Jahr mit Bier und Gin herübergeblödelt. Ist jemand von euch gerutscht? Ich nicht.“

Hans klärte Pasak auf, dass es sich beim Rutsch um einen Ausdruck aus dem Jiddischen handelt. Die Juden sind laut Hans ein erstaunliches Volk. „Obwohl sie innerhalb der gesamten Menschheit zahlenmäßig nur ein Spurenelement bilden, sind ungefähr 20 % der Nobelpreisträger Juden. Kein anderes Volk schafft auch nur näherungsweise so eine Zahl. Wohin man in den Wissenschaften und Künsten auch blickt, die Juden sind bei weitem überrepräsentiert.“

Alle hörten jetzt zu. Ich fuhr fort.

Ein machtvoller Einfluss des Judentums ist im Bereich der Philosophie zu erkennen und hier wiederum in einer Kunstform, die am Verschwinden ist, dem Witz. Amerikanische Juden haben das Wort aus Deutschland sogar in die USA mitgenommen. Der jüdische Witz ist geistvoll und hintergründig, mitunter auch doppelbödig. Da ein guter Witz fast immer auf Kosten von irgendjemandem geht, drängt die dumme political correctness die wunderbare Kultur des Witzes immer mehr ins Private zurück und bringt stattdessen den öffentlichen dummen Klamauk und das seichte Blödeln hervor.

Alle applaudierten. „Toller Vortrag“, meinte Pumpe. Es war uns nicht aufgefallen, dass Pumpe die ganze Zeit auf seinem Smartphone herumgewischt und bisher geschwiegen hatte. Pasak beschwerte sich. „Jetzt weiß ich immer noch nicht, was es mit dem blöden Rutsch auf sich hat.“

Jetzt war ich an der Reihe.

Zum Jahreswechsel wünschen wir uns einen guten Rutsch. Dieser Ausdruck kommt von jiddischen Rosch ha-schana, was Anfang des Jahres bedeutet. Das Wort soll an die Erschaffung der Welt erinnern. Die Juden wünschten sich damit einen guten Jahresanfang. Nichtjuden hörten das, verstanden nicht die Bedeutung und machten daraus unseren neudeutschen Rutsch.

Pasak hatte ausnahmsweise zugehört, bestellte sich noch ein Bockbier und murmelte: „Nach drei Starkbieren erkennt man die Tiefe des Lebens. Nüchtern nur die Abgründe.“

Block Jane hatte ihre Beine übereinandergeschlagen, sodass man ihren feuerroten Slip sehen konnte. Pasak bekam Stielaugen. Che schnappte sich irgendein Buch und blätterte herum. Der Knochenbrecher wurde immer stiller. Fat Lot bestellte sich beim Wirt noch einen Hamburger Spezial, Block Jane warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, aber Fat Lot meinte nur: „Ich bin gleich zu Hause, und zu Hause ist man dort, wo man den Bauch nicht einziehen muss.“

Sein Neujahrsvorsatz hatte nur achtundvierzig Stunden gehalten.

Die Gespräche verflachten, Block Jane erzählte noch einen Witz:

„Lothar steht nackt vor dem Spiegel und meint: Drei Zentimeter länger, und ich wäre Prinz Karneval. Seine Mama antwortet: Und drei Zentimeter kürzer, und du wärst Kölner Jungfrau.“ Fat Lot lächelte säuerlich. Man sah, dass er versuchte, einen Rachewitz aus seinem Gedächtnis zu holen. Es war vergeblich.

Che spürte langsam seine Promille. „Gott ist nicht tot“, murmelte er lallend, „sondern er lebt in Frankreich, das behauptet sogar Pasak. Er wohnt dort in dieser Villa, die einmal einem Pancho gehört hat, aber der ist längst davongeritten.“ Niemand beachtete das Gefasel.

Um 1 Uhr rauschte der Dragoner herein. Der Knochenbrecher hatte schon vorgesorgt und den Mantel angezogen. Sie gingen beide und wünschten zuvor noch ein gutes Neues Jahr. Aus der Extrastunde für den Knochenbrecher wurde nichts. Charly winkte ihnen nach und blätterte in seinem Bukowsky.

Ich warf eine Münze in den alten Wurlitzer, der nach Jahrzehnten immer noch funktionierte. Einige Platten kratzten, aber das störte niemanden.

„The Wind cries Mary“ war einer meiner Lieblings-Hits.

Hans und ich sangen mit und wurden melancholisch:

„After all jacks are in their boxes

And the clowns have all gone to bed

You can hear happiness

staggering on down the street

Footprints dressed in red

And the wind whispers Mary.“

Und weil ich gerade in einer melancholischen Stimmung war, schickte ich einen alten Song hinterher. Es wurde still in der Runde, denn wir hörten alle andächtig „Nights in White Satin“ von den Moody Blues.

Als der Wurlitzer seinen letzten Ton von sich gab, lag Pasak schlafend auf der Bank, alle anderen waren gegangen.

Ich krallte mir das Thekenbuch und schrieb hinein: „Die Haare, die Zehen- und die Fingernägel sind die einzigen Stellen, an denen Frauen heutzutage noch rot werden.“ Ich wollte das Thekenbuch schon an Hans weitergeben, als mir ein eingeklebter Zettel mit einem merkwürdigen Text auffiel, der mit einer Schreibmaschine getippt war: „Honesta mors turpi vita potior.“ (Ein ehrlicher Tod ist besser als ein schändliches Leben.) Der Zettel war mit „Teras“ unterschrieben. Blues wusste nicht, von wem der Zettel stammte.

Hans und ich klappten unsere Bücher zu, sagten laut „Ibrahim“, tranken aus und verließen als Letzte die Theke.