Czytaj książkę: «Die Akademisierungsfalle», strona 2

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Die Pädagogik der Arbeitsmarktbefähigung

Was führt zum Erfolg der dualen Berufsbildung? Wie eingangs erwähnt, ist sie bezüglich der Arbeitsmarktfähigkeit (oder Employability) den vollschulischen Bildungssystemen überlegen. Hier lohnt es sich, die Zusammenhänge anhand der Berufspädagogik etwas näher zu betrachten.

Das duale Berufsbildungssystem leitet seine besondere Bedeutung davon ab, dass es auch praktische Fähigkeiten weckt, qualifiziert und wertschätzt. Was heisst das? Margrit Stamm, emeritierte Professorin der Pädagogik an der Universität Freiburg (Schweiz) und frühere Lehrerin, spricht von «praktischer Intelligenz», die mit der dualen Berufslehre geweckt, gefördert und schliesslich qualifiziert wird. Konkret heisst «dual»: Sowohl schulische als auch berufspraktische Kompetenzen werden gefördert. Die Leistungsbeurteilung in der beruf­lichen Grundbildung besteht einerseits aus den Noten der schulischen Fächer der Berufsfachschule oder Kaufmännischen Berufsschule (Fachunterricht und allgemeinbildender Unterricht) und andererseits der Benotung der Anwendungskompetenzen der Lernenden in der betrieblichen Praxis. Man vermittelt und prüft also Wissen (Knowledge) und Können (Skills).

Bei den gewerblich-industriellen Berufen ist die Sprachkompetenz (z.B. im Lernbereich Sprache und Kommunikation) keine «Fallnote». Das hat folgende Konsequenzen: Wenn ein Lernender an der Lehrabschlussprüfung in Deutsch ungenügend ist, aber gut benotet in den Berufsfächern abschliesst, wird er die Prüfung dennoch bestehen und das EFZ erhalten. Damit werden auch einseitig begabte oder schulisch Schwächere oder ausländische Jugendliche mit mangelhaften Deutschkenntnissen (oft bedingt durch späte Einwanderung) die Prüfung bestehen. In einer vollschulischen Bildung, im Gymnasium etwa, würden sie wegen ihrer Sprachdefizite nicht reüssieren. Auch das Angebot einer niederschwelligen Ausbildung mit Berufsattest EBA in fünfzig verschiedenen Berufsfeldern ermöglicht eine Qualifizierung von schulisch Schwächeren für das spätere Berufsleben, wobei sie bei einer späteren Berufsbildung die erworbenen EBA-Schulstufen voll anrechnen können.

Was heisst «praktische Intelligenz»? Einfach ausgedrückt bedeutet es, «Fachwissen auch anwenden zu können». Margrit Stamm sagt dazu: «Von Professionalisierungsansätzen kann zur Kenntnis genommen werden, dass hohes Fachwissen allein noch nicht zu einem hohen Expertisierungsgrad führt, sondern nur zusammen mit der Fähigkeit, es auch anwenden zu können.»12 Anders ausgedrückt, «kann man allgemein praktische Intelligenz auch als die Fähigkeit verstehen, komplexe Probleme im Alltag zu bewältigen und gute Lösungen für sie zu finden».13

«Wir alle kennen Menschen mit goldenen Händen und solche mit klugen Köpfen, aber nicht sehr viele, die in beiden Bereichen stark sind», resümiert Margrit Stamm ihren Befund, der wohl auch unserer Alltagserfahrung entspricht. Mit ihrer Schrift «Kluge Köpfe, goldene Hände» hat sie in der Schweiz der Diskussion über Leistungsexzellenz eine neue Richtung gegeben.14 Der internationale Mainstream in der Pädagogik – nämlich die Formel: mehr und höhere Bildung gleich mehr Kompetenz – wird damit relativiert.

Für die praktische Intelligenz und die «sogenannten nichtkognitiven Fähigkeiten gibt es keine allgemeingültige Definition», heisst es im Bildungsbericht Schweiz.15 Die nichtkognitiven (nichtschulischen, also auch praktischen) Fähigkeiten sind nicht gleichermassen mit simplen Prüfungen und standardisierten Tests messbar wie die schulischen Fächer – schon deshalb werden jene von der Bildungselite nicht gleich gewichtet.

Für schulmüde Jungs ist eine Lehre perfekt


«Ich war mit Abstand der faulste Schüler der ganzen Oberstufe», sagt Sven Schütz. Der 25-Jährige schliesst demnächst sein Studium als Maschinenbauingenieur an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) in Brugg mit einem Bachelor ab. Er kann sich gut vorstellen, später den Master anzuhängen oder eines Tages noch etwas anderes zu studieren. Denn inzwischen hat ihn der Ehrgeiz gepackt.

Das war nicht immer so. Als 16-Jähriger erfüllte Schütz sämtliche Klischees eines schulmüden Jungen: Die Schule hing ihm zum Hals raus, Französischwörter lernen war ihm ein Graus und Hausaufgaben machte er aus Prinzip nicht. Das zeugte nicht etwa von mangelnder Intelligenz. «Ich sah schlicht keinen Sinn darin, für die Schule zu lernen.» Jeder Versuch, Sven zu mehr Einsatz zu motivieren, lief ins Leere. So wehrte er als 11-Jähriger auch den kleinen Bestechungsversuch seiner Eltern ab, die ihm 200 Franken boten, wenn er sich wenigstens an die Kantonsschulprüfung anmeldete.

Die Schule konnte bei Schütz nicht punkten. Nach der auf absoluter Sparflamme durchlaufenen obligatorischen Schulzeit entschied er sich deshalb für eine Lehre als Konstrukteur. «Ich habe mich als Kind sehr für Aviatik interessiert und baute in meiner Freizeit unzählige Modellflug­zeuge.» Das Planen, Entwickeln und Zeichnen von Maschinen war ihm folglich vertraut. «Am Anfang war die Lehre extrem spannend», erinnert sich Schütz. «Ich wurde aus der Bedeutungslosigkeit meines Teenageralltags gerissen und war auf einen Schlag von vielen erwachsenen Ingenieuren umgeben.» Es sei ein gutes Gefühl gewesen, bereits nach wenigen Monaten Lehrzeit einzelne, von ihm gezeichnete Teile an einer millionenteuren Maschine zu sehen. Und endlich gelang es dem rebellischen Jugendlichen, sich als Teil eines Ganzen zu sehen und sich auch mal unterzuordnen.

Auf die anfängliche Begeisterung folgte allerdings bald die Ernüchterung: Nach dem ersten Lehrjahr merkte Schütz, dass er als Konstrukteur zwar einen interessanten Beruf haben, aber nicht der selbstbestimmte, unabhängige Macher sein würde, als den er sich in seinen Teenagerfantasien gesehen hatte. «Ich bin mit falschen Vorstellungen in die Lehre gestartet», stellt Schütz fest. Er habe sich ausgemalt, er sei bereits nach vollendeter Lehre eine Art Ingenieur. Im Laufe der Lehre habe er aber schnell gemerkt, dass er auch als ausgebildeter Konstrukteur bloss Befehlsempfänger bleiben würde. Als ihm dann während der Vorschule zum militärischen Fallschirmspringer ein hoher Militär auch noch klipp und klar sagte, dass er ohne Matura unmöglich Fallschirmaufklärer-­Offizier werden könne, erlitt Schütz' Selbstbewusstsein erstmals ernsthafte Kratzer. «Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich mich wohl etwas mehr anstrengen musste, wenn ich meine Ziele erreichen wollte.»

Das gab den Ausschlag. Schütz erwachte aus seinem Sparmodus. Ebenso konsequent wie er sich zuvor verweigert hatte, machte er sich jetzt ans Lernen. Während des dritten und vierten Lehrjahres besuchte Sven Schütz den Vorkurs für Weiterbildungen, der ihn zu einer prüfungsfreien Aufnahme in die Berufsmaturitätsschule (BM) nach der Lehre berechtigte, absolvierte gleich anschliessend die technische BM und startete schliesslich sein Studium als Maschinenbauingenieur.

Jetzt steht er kurz vor dem Abschluss. Nach dem Studium will Sven Schütz ein paar Jahre als Maschinenbauingenieur arbeiten, bevor er sein Studium weiterführt. Seine beruflichen Aussichten sind sehr gut. An den sogenannten «Future Days», an denen Firmen künftige (Fach-)Hochschulabgänger anwerben, reisst man sich um Berufsleute wie Sven Schütz.

Die Motivationsprobleme der Teenagerzeit jedenfalls sind Vergangenheit. «Ich habe ein Ziel und will etwas erreichen», sagt Schütz. Kommt dazu, dass ihn heute just die Dinge interessieren, die ihn als Teenager gelangweilt haben – etwa die Allgemeinbildung. «Eines Tages werde ich mich in diese Richtung auf jeden Fall weiterbilden», ist Sven Schütz überzeugt. Hat er das Gefühl, Zeit verschwendet zu haben? «Keineswegs! Für Jungs, wie ich einer war, ist dieser Weg perfekt.» Er habe die Zeit gebraucht. Und: «Ich habe ja alle Möglichkeiten. Das macht diesen Weg so interessant.»

Praktische Intelligenz kann Persönlichkeitseigenschaften umfassen – etwa Zuverlässigkeit, Verantwortungsbereitschaft, Sozialkompetenz, Partizipationsfähigkeit, Teamfähigkeit, emotionale Intelligenz, Intuition –, auch werden darunter vor allem handwerkliches Geschick, räumliches Vorstellungsvermögen, geschickter Umgang mit Materialien verstanden. Der Bildungsforscher Markus P. Neuenschwander, der für die Schweiz die umfassendste Langzeitanalyse über die Wege zur Berufsintegration durchgeführt hat, kommt zum Schluss: «Beispielsweise sind handwerkliche Kompetenzen wichtig für eine handwerklich-technisch anspruchsvolle Lehre. (…) Dieser Befund vermittelt gerade Jugendlichen mit schlechten schulischen Leistungen in Deutsch und Mathematik und aus Realschulen eine positive Perspektive, weil sie in Berufen erfolgreich sein können, in denen Anforderungen jenseits dieser schulischen Leistungen wichtig sind.»16

Für Jugendliche kann die Berufslehre eine Art Befreiung vom ständigen Zwang zu schulischer Leistung bedeuten. Mit handwerklicher und praktischer Aktivität werden Kräfte und Entwicklungspotenziale freigelegt, die die Jugendlichen und ihre Eltern nicht für möglich gehalten haben: «Ich schraube, also bin ich.»17 Die Erfahrung in den Berufsfachschulen zeigt, dass schulisch Schwächere oder «Lernfaule» wieder mehr Lernmotivation und Interesse im Fachunterricht entwickeln, einfach weil sie in ihrer betrieblichen Erfahrung Anstoss und Motivation dazu erhalten. Eltern, die bei der Richtungswahl ihrer fünfzehnjährigen Kinder im Zweifel sind (was normal ist und häufig vorkommt), sollten diese motivierenden Anstösse in ihre Überlegungen mit einbeziehen. Und sie sollten auch bedenken, was wir ausgiebig im Kapitel 3 darstellen, dass die Berufslehre heute in ein durchlässiges Bildungssystem eingebettet ist – immer nach dem Motto: «Kein Abschluss ohne Anschluss».

Neben den in diesem Buch wiedergegebenen authentischen Berufs­porträts von Rahel Eckert-Stauber zeugt eine ganze Reihe anderer publizierter Berufsbiografien vom Entwicklungs- und Talentpotenzial der berufspraktischen Ausbildung.18 Wer in der Praxis steht oder gestanden hat, weiss intuitiv und erfahrungsmässig, was praktische Intelligenz bedeutet. Bei der Auswahl von Lehrlingen etwa kommt diese Intuition bei den Ausbildnern oder zukünftigen Chefs durchaus noch zum Zug.

Weltweite Debatte um Arbeitsmarktfähigkeit

Welche Kompetenzen und Neigungen sind denn für die Arbeitsmarktfähigkeit und die Selbstbehauptung in der Lebenswelt entscheidend? Zweifellos hat der amerikanische Kultursoziologe Richard Senett mit seinem epochalen Buch «Handwerk» die Wertschätzung der handwerklichen Fähigkeiten, eben auch der praktischen Intelligenz, auf ein akademisches Niveau gehoben.19 Senett zieht die landläufigen IQ-Tests in Zweifel: «Der für handwerkliche Arbeit typische Dialog mit den Materialien lässt sich durch Intelligenztests kaum erfassen.» «Menschen besitzen mehr Fähigkeiten, als der Stanford-Binet-Test (IQ-Test) misst.» Im Gegensatz dazu beruft sich der schmalbrüstige, elitäre Bildungstechnokrat auf die Formel, die ihm beim Urteilen sicheren Halt verspricht: «Intelligenz ist, was der Intelligenzquotient (IQ) misst, punkt.»20

Senett hat die Diskussion um die Bildungsziele stark aufgemischt und die Wertschätzung der praktischen Intelligenz zur Geltung gebracht. Besonders in Deutschland ist seit einiger Zeit eine recht heftige Debatte für und gegen die Akademisierung im Gange21. Die grosse internationale Personalvermittlungs- und Beratungsfirma McKinsey & Company zeigte aufgrund der Befragung von 2600 Arbeit­gebern und 5300 Jugendlichen in der Europäischen Union, dass das Bildungssystem in Europa stark am Arbeitsmarkt vorbei orientiert ist.22 Insbesondere fordert sie mehr Ausbildung von mittleren Kadern mit technischer Ausrichtung. Auch dies eine Bestätigung, dass Europa mit seinem Bildungssystem in der Akademisierungsfalle steckt.

Das Bildungssystem in der Schweiz: Vorzüge und Disparitäten

Kommen wir zurück zur Frage der Arbeitsmarktfähigkeit oder Employability, die aus den verschiedenen Bildungsgängen resultiert. Die aus statistischen Auswertungen abgeleitete Faustregel lautet: Wer eine Berufslehre absolviert hat, unterliegt einem dreimal kleineren Risiko, arbeitslos zu werden oder langzeitarbeitslos zu bleiben als Ungelernte. Und wer eine Berufsbildung hat, riskiert zweieinhalb Mal weniger, Sozialhilfebezüger zu werden.23

Diese grobe Regel zeigt sich nicht nur in Momentaufnahmen, sondern auch in der längerfristigen Wirtschaftsentwicklung, wie sie die ► Grafik 1.5 darstellt: Ungeachtet der Konjunkturlage liegt die Arbeitslosigkeit von Personen ohne nachobligatorische Ausbildung stets deutlich höher als jene von Personen mit einer Berufslehre und noch etwas höher als jene von Personen mit einem Tertiärabschluss (Hochschule oder Höhere Berufsbildung).

Nach ökonomischem Lehrbuch ist die Arbeitslosigkeit eine Funktion des Wirtschaftswachstums. Die ► Grafik 1.5 relativiert diese Lehrbuchdoktrin: Die Arbeitslosigkeit schwankt zwar im Konjunkturzyklus mit den veränderten Wachstumsraten durchaus mit, aber das Niveau Arbeitslosigkeit ist nicht eine Funktion des Wachstums, sondern primär des Bildungsstandes und des Bildungssystems.

Grafik 1.5


Wir haben innerhalb der Schweiz eine recht grosse Kluft in der Berufsbildungsintensität zwischen den sprachregionalen Landesteilen: In der Deutschschweiz beginnen gegen 70 Prozent der Jugendlichen ihre nach­obligatorische Ausbildung mit einer Berufslehre (um dann höhere Bildungsstufen anzuhängen), während in der französischsprachigen Schweiz und im Tessin nur 40 bis 45 Prozent eines Jahrgangs eine duale Berufs­lehre durchlaufen (► Grafik 1.6). Vom Bodensee bis zum Genfersee besteht ein enormes Gefälle in der betrieblichen Berufsbildungskultur: Während in der Ostschweiz die Berufsbildungsintensität der Betriebe mit ca. 8 Lehrstellen auf 100 Vollzeitbeschäftigte markant hoch ist, beträgt sie im Tessin nur knapp 4 Prozent und in Genf gar nur etwa 2 Prozent. Der schweizerische Durchschnitt liegt bei 5,7 Prozent, also 5,7 Lehrstellen pro hundert (vollzeitäquivalente) Beschäftigte. Lange Jahre galt die ungeschriebene Regel für die Betriebe: Sechs Ausbildungsplätze pro 100 Vollzeitstellen ist der Sollstandard.

Grafik 1.6


Die Landeskarten in ► Grafik 1.7 machen deutlich, wie die lateinische Schweiz höhere Maturitätsquoten (oberer Grafikteil) und ebenso höhere Universitätsabschlussquoten (unterer Teil) als die deutsche Schweiz aufweist. Dies ist historisch durch die unterschiedlichen Bildungstraditionen bedingt (keine Zünfte in der Romandie und im Tessin) und markiert die Bevorzugung der vollschulischen Bildungsgänge durch die Bildungs­eliten in der lateinischen Schweiz.

Grafik 1.7


Der Trend zur Akademisierung hat allerdings eine Kehrseite, die in ► Grafik 1.8 augenfällig wird: Sowohl die Jugendarbeitslosigkeit als auch die Quote der Personen ohne nachobligatorische Ausbildung («Ungelernte») liegen in der Romandie und im Tessin signifikant höher als in den Deutschschweizer Kantonen.24 Die Kantone mit schwach ausgebildeter dualer Berufsbildungstradition «bezahlen» dieses Defizit durch ein generell höheres Arbeitslosigkeitsniveau in allen Altersstufen. Diese innerschweizerische Disparität wird allerdings durch die überall gleich hohen Ansätze der Arbeitslosenversicherungsleistungen des Bundes ausgeglichen und geglättet.

Das Bild, das wir von den europaweiten Vergleichen kennen, wiederholt sich also innerhalb der Schweiz, die mit ihren unterschiedlichen Bildungskulturen und Ausbildungssystemen ähnlich gelagerte Diskrepanzen wie der europäische Kontinent aufweist. Der Vergleich zwischen den sprachlichen Landesteilen innerhalb der Schweiz ist insofern aussagekräftig, als die Sprachregionen sich in der längerfristigen Betrachtung bezüglich der Wirtschaftswachstumsraten (BIP-Wachstum) nicht wesentlich unterscheiden – in Bezug auf die Wirtschaftsstrukturentwicklung allerdings schon: Die Desindustrialisierung und «Monacoisierung» der Westschweiz ist ausgeprägter.

Zusammenfassend heisst dies: Wo die duale Berufsbildung fehlt, gibt es mehr Arbeitslose und mehr Jugendliche, die die Integration in den Arbeitsmarkt nicht schaffen. Wir stellen im Kapitel 6 weitere Sozialindikatoren vor, die klar belegen, dass die berufliche Grundbildung die wichtigste Strategie zur Armutsprävention und zum Schutz vor Arbeitslosigkeit darstellt. Die berufsorientierte Bildungs- und Integrationsstrategie ist klar das wirksamere und nachhaltigere Instrument zur Verminderung von Ungleichheit als sekundäre Umverteilungsmassnahmen wie Sozialhilfe und Sozialtransfers!

Grafik 1.8


Berufsbildungssystem ist das Rückgrat der Schweizer Wirtschaft

Kommen wir etwas weg von der personenbezogenen Wirkungsanalyse des Berufsbildungssystems. Wir haben bisher die personellen Vorzüge der ­dualen Berufsbildung bezüglich der individuellen Arbeitsmarktfähigkeit dargestellt. Nun fragen wir nach der wirtschaftlichen Bedeutung für die gesamte Volkswirtschaft. In diesem Kapitel steht die Performance der Schweiz im Fokus, im Kapitel 2 erweitern wir diese Analyse anhand internationaler Vergleiche auf die fünf Berufsbildungsländer.

Grafik 1.9


Befragt man eine repräsentative Gruppe von 3000 internationalen Managern nach den positiven Schlüsselfaktoren für den Wirtschaftsstandort Schweiz, steht die Qualität der beruflich ausgebildeten Fachkräfte (der «Skilled Workforce») gleich an zweiter Stelle nach der politischen Stabilität der schweizerischen Institutionen; und dieser Fachkräftefaktor wird wichtiger eingeschätzt als die tiefen Steuern, die verlässliche Infrastruktur und das allgemein hohe Bildungsniveau der Schweiz. Die ► Grafik 1.9 zeigt die Reihenfolge der Attraktivitätsfaktoren des Standorts Schweiz, wie sie subjektiv von den global tätigen Managern beurteilt werden.

Ein ganz anderer, ebenso aussagekräftiger Indikator für den hohen Ausbildungsstandard in der schweizerischen Berufsbildung ergibt sich aus dem Qualitätsvergleich mit den Weltbesten: Bei den alle zwei Jahre durchgeführten Berufsweltmeisterschaften «World Skills Competition» mit rund 40 geprüften Berufsfeldern figurieren die schweizerischen Berufsabsolventen regelmässig in der Spitzengruppe, meist gleich nach Korea und allenfalls Japan, aber stets an erster Stelle unter den europäischen Nationen. In ► Grafik 1.10 ist die Spitzenrangierung der letzten vier Berufsolympiaden dargestellt. An der World Skills Competition 2013 in Leipzig massen sich 1000 Berufsleute unter 24 Jahren aus 54 Nationen in 46 Berufen. Dabei erzielten die Schweizer 17 Medaillen und 18 Diplome. In der globalen Gesamtwertung figurierten sie hinter Korea auf dem 2. Rang – vor allen europäischen Ländern.25

Grafik 1.10


Die Schweiz ist im internationalen Vergleich sowohl ein Hochlohn- als auch ein Hochpreisland (der ehemalige Preisüberwacher spricht aus Erfahrung). Nach Lehrbuchmodell müsste eigentlich die internationale Konkurrenzfähigkeit ihrer Wirtschaft wegen der Hochpreissituation strukturell Schaden nehmen. Doch das Gegenteil ist der Fall: In Bezug auf die Industrieproduktion, gemessen an der industriellen Wertschöpfung in Euro pro Kopf der Bevölkerung, liegt die Schweiz an der Spitze aller Industriestaaten – sie ist sogar höher als jene Deutschlands und der skandinavischen Länder, und auch weit höher als jene der USA (► Grafik 1.11).

Grafik 1.11


Auch in der Exportkraft liegt die Schweiz an der Spitze der europäischen Länder. Gemessen am Wert der totalen Warenexporte in Euro pro Kopf der Bevölkerung liegt die Schweiz an dritter Stelle, vor ihr liegen ­lediglich die Warentransitländer Belgien und Niederlande mit ihren Umschlaghäfen und euro­päischen Distributionszentren (► Grafik 1.12). Die Schweiz weist nicht nur Jahr für Jahr einen Handelsbilanzüberschuss, sondern auch einen Überschuss in der Ertragsbilanz auf, welche neben dem Warenverkehr auch die Dienstleistungen einbezieht. Mit anderen Worten, sie exportiert mehr, als sie importiert. Das Hochlohnland Schweiz ist extrem konkurrenzfähig (trotz oder vielleicht gerade «dank» der Behinderung durch den hohen Wechselkurs des Schweizer Frankens). Diese Befunde der starken exportorientierten und industriellen Performance stehen im Widerspruch zur weltweiten, klischeehaften Wahrnehmung der Schweiz als Land der Banken und des Tourismus («Banken, Matterhorn und Toblerone»).