Czytaj książkę: «Die Logik des Museums»

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Impressum

Mit Beiträgen haben das Buchprojekt unterstützt:

Sturzenegger-Stiftung Schaffhausen

Landis & Gyr Stiftung

Lektorat: Regula Krähenbühl, Ammerswil

Gestaltung und Satz:

Miriam Koban, Hier und Jetzt

© 2015 hier und jetzt, Verlag für Kultur und

Geschichte GmbH, Baden

www.hierundjetzt.ch

ISBN E-Book

978-3-03919-907-5

ISBN Druckausgabe

978-3-03919-371-4

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

Vorwort

Der Abfall und das Museum

Theorie der Mehrfachzeichen

Sprechen oder Schweigen

Deutungsabstinenz als Programm

Jenseits von Nimmerland

Ersterscheinungen

Bibliografie

Vorwort

Die Dinge im Neben- und Nacheinander wahrzunehmen, gehört zu den grundlegenden hermeneutischen Prinzipien des Museums. Die Art, wie die Objekte räumlich zueinander in Beziehung gesetzt sind und wie sie aufeinander folgen, trägt wesentlich zur Deutung bei, mit der wir sie beim Durchschreiten der Ausstellung versehen. Nun kommt auch der Anordnung der Inhalte in einem Buch per se eine erklärende Funktion zu, nicht gänzlich verschieden von der musealen Sinnstiftungstechnik durch Gruppierung und Abfolge. Auch im schriftlichen Raum des Buches werden durch die Platzierung der Texte interpretative Zusammenhänge entfaltet, das heisst, Voraussetzungen bezeichnet, Dinge ins Zentrum gerückt, Folgen aufgezeigt und Beziehungen sichtbar gemacht. Die hier versammelten Texte zur Theorie und Praxis des modernen Museums folgen einem Parcours, der beim Aufbau der Sammlung seinen Anfang nimmt und bei ihrem möglichen Abbau endet: Die Publikation handelt zunächst von der Tätigkeit des Sammelns und stellt sie in den Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen in Moderne und Postmoderne. Sie beschreibt daraufhin die Techniken, mit denen im Medium der Ausstellung Bedeutung erzeugt und vermittelt wird. Am Beispiel der jüngst erfolgten Neupräsentation der Kunstsammlung der Tate Britain werden aktuelle Tendenzen in der kuratorischen Praxis einer Kritik unterzogen. Abschliessend folgt eine Auseinandersetzung mit dem Problem der Aussonderung von Sammlungsobjekten.

Der erste Beitrag beginnt mit der Dichotomie von Abfall- und Museumsobjekt. Am Vermögen des Museums, etwas an sich Wertloses zum Museumsobjekt zu erhöhen, wird deutlich, wie machtvoll die Institution beim Speichern von kollektiver Erinnerung agiert. Dabei ist es die Zeichenhaftigkeit von Abfallobjekten – ihre Fähigkeit, auf Wirklichkeiten ausserhalb ihrer selbst zu verweisen –, die ihre Aufwertung zu Museumsgegenständen möglich macht. Zu den Hauptfunktionen der musealen Sammlungen gehört die Herstellung von Identitäts- wie auch von Fremdheitserfahrungen, was in den Zusammenhängen moderner Veränderungsdichte einerseits und globaler kultureller Angleichung andererseits von eminenter Bedeutung ist.

Das theoretische Kernstück des Buches bildet der Text über die potentielle Vieldeutigkeit von Zeichen. Museumsobjekte werden hier als Mehrfachzeichen ausgewiesen – ein Konzept, das dem bislang gängigen Modell des einfachen Zeichens beziehungsweise Zeichenträgers (Pomians «Semiophor») ein Verständnis des Objekts als Zeichenkonglomerat entgegenstellt. Der Beitrag fragt weiter nach den Konsequenzen dieses Modells für die Vermittlung von Inhalten im Medium der Ausstellung.

Im daran anschliessenden Aufsatz Sprechen oder Schweigen werden die Prozesse der Bedeutungsgenese verstärkt auf die konkreten Techniken der Sinn-Produktion hin untersucht. Die Anordnung der Objekte im Raum ist dabei das wichtigste, da wirkungsvollste und dem Medium Ausstellung angemessenste Verfahren. Sinnvermittlung im Museum kommt gerade bei historischen, archäologischen oder naturkundlichen Ausstellungen allerdings nicht ohne textliche und gestalterische Elemente und nicht ohne sekundäre Musealia wie zum Beispiel Modelle oder Dioramen aus.

Auf die Analyse der methodischen Aspekte des Ausstellens folgt eine kritische Auseinandersetzung mit der jüngst vollzogenen Neuhängung der Sammlung der Tate Britain. Die Londoner Präsentation versucht, den Machtgestus einer kuratorischen Deutung konsequent zu vermeiden. Der Beitrag bezieht Stellung gegen den von der Tate Britain praktizierten Verzicht auf Interpretation und plädiert für Autorschaftlichkeit als Verfahren, das Widerspruch überhaupt erst ermöglicht und der Pluralisierung von Deutungsangeboten Vorschub leistet.

Gewissermassen «die andere Seite» der Musealisierung behandelt der Text über die derzeit intensiv diskutierte Problematik der Aussonderung von Sammlungsobjekten. Im Aufsatz Jenseits von Nimmerland wird die ethische Legitimität von Deakzessionen untersucht und dargelegt, dass gerade ein gesellschaftlich verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen und Sammlungsbeständen nach einer Bejahung der Möglichkeit von Aussonderungen verlangt. Zugleich verweist der Aufsatz auf die international massgeblichen Standards sowie auf anerkannte Richtlinien und Anleitungen zur Umsetzung von Deakzessionen.

Die Texte, die zwischen 2005 und 2015 in Zeitschriften und Sammelbänden erschienen sind, wurden für die vorliegende Publikation zum Teil stark überarbeitet. Unentbehrlich hierfür waren die Hinweise und Ratschläge von Freunden und Fachkollegen. Besonders danke ich Gottfried Korff für seine wertvolle Kritik und für seine Ermutigung im richtigen Moment. Mein Dank gilt Regula Krähenbühl für ihr ebenso einfühlsames wie kluges und präzises Lektorat. Miriam Koban danke ich für die Freude, die ihre grafische Gestaltung bereitet, und Bruno Meier für die angenehme Zusammenarbeit mit dem Verlagshaus Hier und Jetzt. Dank gebührt auch der Sturzenegger-Stiftung Schaffhausen und der Landis & Gyr Stiftung, die das Zustandekommen des Buches finanziell ermöglicht haben.

Der Abfall und das Museum

Fast möchte man meinen, es gebe keine Institution, die weniger mit Abfall zu tun hat als das Museum. Ein Aufbewahrungsort von Dingen, die als unbedingt erhaltenswert taxiert werden, ballt es die in Gegenstandsform greifbaren kulturellen Werte einer Gesellschaft in Sammlungen und Ausstellungen zu höchster Dichte zusammen. Nirgends in den Gesellschaften der Moderne findet sich eine höhere räumliche Konzentration wertvoller Objekte als in den Sälen des Museums. Seine Vorgängerinstitutionen sind die antiken Schatzhäuser, die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reliquiensammlungen, die Kunst- und Wunderkammern sowie die Trophäengalerien der Zeughäuser. Seine Gegenspieler sind die Entsorgungsstätten des Abfalls, früher die Latrinen, Halden und Ehgräben, heute die Kehrichtverbrennungsanlagen und Mülldeponien. So lässt sich im Umgang mit Dingen kein stärkerer Kontrast vorstellen als die ordentliche Aufbewahrung der Objekte im Museum, ihre nicht selten mit grossem technischem Aufwand betriebene Konservierung und, wo nötig, ihre wissenschaftlich fundierte Restaurierung, ihre sorgfältige Inventarisierung, ihre akribische Erforschung und Dokumentierung und vor allem ihre effekt volle Zurschaustellung auf Sockeln und in Vitrinen, hinter Respekt gebietenden Schranken, in alarmgesicherten, klimatisierten und lichtgeschützten Räumen – und im Gegensatz dazu die Entsorgung von Abfallobjekten, ihre Zertrümmerung und Zermanschung, ihre Entfernung aus der menschlichen Wahrnehmung durch Verbringung in Müllhalden und Sonderdeponien, ihre Vernichtung durch Verrottung oder Verbrennung, ihre Auflösung und Entdifferenzierung im Recyclingprozess. Das Museum und die Mülldeponie bilden bezüglich des normativen Umgangs mit den Dingen die modernen Gegenorte an sich.

Dennoch schliesst die Grenze zwischen Museum und Abfall nicht vollkommen dicht: Es ist eine abfalltheoretisch triviale Feststellung, dass der Wert der Dinge nicht aus ihnen selbst hervorgeht, sondern dass es eine Bewertungsinstanz braucht oder, wie Theodor Bardmann formuliert, einen «Beobachter», der das Beobachtete beurteilt: «Von Abfällen kann man nur reden, wenn eine Beobachtungsreferenz angegeben werden kann: Wer bzw. was bezeichnet etwas als Abfall?»1 Dasselbe gilt in gleichem Mass natürlich auch für Wertobjekte. Dementsprechend kann sich die Bewertung von Dingen ändern, wenn andere Instanzen auf den Plan treten und sich Geltung verschaffen oder wenn sich der Beobachter eines anderen, vielleicht Besseren besinnt. So kann es vorkommen, dass Abfälle in den Rang von Museumsobjekten aufsteigen, während umgekehrt Dinge, die sich seit vielen Jahren in der Sammlung eines Museums befinden, eines Tages zu Abfall werden. Hier soll es um die Aufwertung von Abfall zum Museumsob jekt gehen, während seine (erneute) Entwertung zu Abfall im Beitrag Jenseits von Nimmerland zur Sprache kommt.

Rettungsanstalt für kulturelle Relikte

Hermann Lübbes These vom Museum als Aufbewahrungsort für fortschrittsbedingt Veraltetes beantwortet die Frage, warum es zur Aufnahme von Abfall oder «Beinahe-Abfall» in die Wertsphäre des Museums kommt, wie folgt:2 Durch die Fortschrittsdynamik der modernen Zivilisationen werden laufend Bestände ausgeschieden, die es in irgendeiner Weise zu behandeln gilt. «Erst im Fortschritt fällt Veraltetes an und gewinnt komplementär zur Dynamik des Fortschritts an Aufdringlichkeit»,3 und erst im Fortschritt stellt sich das Problem der Entsorgung von Relikten früherer Evolutionsstufen. Sollen diese Überbleibsel vor dem endgültigen Verschwinden bewahrt werden, bleibt nur ihre Überführung in den Status von Antiquitäten oder – wirkungsvoller, da mit Aussicht auf dauerhafte Erhaltung verbunden – ihre Musealisierung. «Das Museum ist zunächst einmal eine Rettungsanstalt kultureller Reste aus Zerstörungsprozessen, denen irreversibel ausgesetzt ist, was als im aktuellen Reproduktionsprozess funktionslos durch die kulturelle Evolution ausseligiert [sic!] worden ist.»4 Der Gewinn, der sich daraus ergibt, dass die Relikte der obsolet gewordenen Praktiken nicht entsorgt, sondern für Gegenwart und Zukunft konserviert werden, besteht nach Lübbe darin, dass dem Schwund an kultureller Vertrautheit, den die fortschrittsbedingte Veränderungsdichte als «Nebenwirkung» mit sich bringt, auf diese Weise kompensatorisch entgegengewirkt werden kann. In immer schneller sich ändernden Umwelten erbringt das Museum mit der Deponierung von vertrauten Elementen – und vor allem mit ihrer sinnhaltigen Exponierung – wenigstens in Ausschnitten Angebote zur Erfahrung von Kontinuität. «Die bündelnde Formel für diese Struktur lautet: Durch die progressive Musealisierung kompensieren wir die belastenden Erfahrungen eines änderungstempobedingten kulturellen Vertrautheitsschwundes.»5 Dieser Logik folgend übernimmt das Museum die Funktion, den in ihrem Empfinden kultureller Zugehörigkeit herausgeforderten Subjekten der Moderne Identitätserfahrungen und Integriertheitserlebnisse anzubieten. Boris Groys weist überdies darauf hin, dass das Museum auch deshalb «die charakteristischste Institution der Moderne» ist, weil mit der fortschreitenden Aufklärung und Säkularisierung bisherige Identitätsgaranten wie die Religion an Verbindlichkeit eingebüsst haben und daher ein künstliches Gedächtnis in Form der Museen und Archive nötig wurde.6

Die Stringenz dieses Erklärungsmusters ist frappierend und Beispiele zu seiner Verifizierung finden sich allenthalben. Stellvertretend sei hier angeführt: die Musealisierung von eliminierungsgefährdeten, da militärisch funktionslos gewordenen Zeughäusern und Festungsanlagen in der Schweiz während der Zeitspanne von 1990 bis 2006. Massnahmen zur Modernisierung der Schweizer Armee, etwa die Reformprojekte «Armee 95» und «Armee XXI», führten bei gleichzeitigem Spardruck zur Schliessung von Zeughäusern und Festungen, zur Abschaffung von Truppengattungen und zur drastischen Reduktion des Personenbestandes. Mit der Verwandlung von Gebäuden und Ausrüstungsgegenständen zu realem oder potenziellem Abfall korreliert nun statistisch gesehen ein deutlicher Anstieg von Museumseröffnungen in den Bereichen Militär- und Festungsgeschichte. Der vom Verband der Schweizer Museen herausgegebene Museumsführer aus dem Jahr 1969 verzeichnete gerade einmal sechs Militär- und Festungsmuseen; elf Jahre später, 1980, waren es noch immer erst sieben Museen. 1991, nach weiteren elf Jahren, lag die Zahl bei zwölf, doch in den folgenden fünf Jahren bis 1996 stieg die Anzahl sprunghaft auf 42, und in der Ausgabe von 2006 wurden 49 Museen aufgeführt. Während des rund fünfzehn Jahre dauernden Truppenabbaus wurden demnach 37 Museen neu in das Verzeichnis aufgenommen, was dem Dreifachen aller Jahre vor 1991 entspricht.7 Zu den neu gegründeten Museen gehörten, wie im Fall der Relikte der Industriekultur8 und der vorindustriellen Lebenswelt, auch zahlreiche in-situ-Erhaltungen.

Fremdheitsschwund

So viel zur empirischen Unterfütterung eines Museumsverständnisses, das in der Aufnahme von fortschrittsbedingt anfallenden Vergangenheitsrelikten und ihrer kompensatorischen Zurschaustellung die Grundleistungen des modernen Museums und die Ursachen für seine Erfolgsgeschichte sieht. Allerdings kollidiert dieses Deutungsmuster mit einem Befund, der sich dem Konzept des Ausgleichs von Vertrautheitsverlusten entgegenstellt: Viele museale Gegenstände entstammen einer zeitlich, geografisch oder gesellschaftlich dermassen entfernten Herkunft, dass sie zur Erzeugung von Vertrautheitserlebnissen gar nicht geeignet sind. Der gravierte Griff einer steinzeitlichen Speerschleuder, der ägyptische Sarkophag, der Trophäenkopf aus der präkolumbischen Nazca-Kultur, der barocke Prunkpokal einer Handwerkerzunft, die Vedute der Stadt Venedig aus dem 17. Jahrhundert, die Ngil-Maske der Fang aus Gabun, der Originalzahn eines spitzmausartigen Säugetiers aus der Triaszeit – die Erfahrungen, die sich in der Betrachtung solcher Objekte machen lassen, haben kaum etwas mit Vertrautheit zu tun, hingegen viel mit Fremdheit, mit Alterität. Sichten wir die Sammlungen der Museen im Hinblick auf Vertrautes und Fremdes, so finden wir weniges, das aus unserer eigenen Lebenswelt entstammt, vieles jedoch, das uns fremd und schwer verständlich erscheint. Gottfried Korff nennt das Museum «die Institution, die das kulturell Andere in sein Recht setzt, […] weil in ihm Dinge aus räumlich und zeitlich entfernten Welten gesammelt, aufbewahrt und dem Augensinn dargeboten werden»,9 und er formuliert zugespitzt: «Der, die, das Fremde ist Gegenstand des Museums.»10 Von Peter Sloterdijk wird es als «xenologische Institution»11 beschrieben, die den Besucher in einen «intelligenten Grenzverkehr mit dem Fremden»12 verwickle und so als «Schule des Befremdens»13 fungiere. Gerade Blockbuster-Ausstellungen wie die Azteken- Schau in London, Berlin und Bonn, Tutanchamun in Basel, Das MoMa in Berlin erreichten die Publikumsmassen nicht mit dem Versprechen, im Museum etwas Vertrautes, aber aussermuseal nicht mehr Vorhandenes wiederzufinden, sondern mit der Aussicht auf eine Begegnung mit dem noch Unbekannten.14

Nehmen wir den empirischen Befund zur Kenntnis, dass das Museum mehr noch als der Speicher des Eigenen ein Aufbewahrungsort des Anderen ist, und bleiben wir vorerst einmal jenem Denkmodell treu, das Lübbes Museumstheorem als Grundannahme dient und besagt, dass kulturelle Tätigkeit geschieht, um zivilisatorische Defizite zu kompensieren (ein Paradigma, das auch von Lübbes Lehrer Joachim Ritter15 und von Odo Marquard16 vertreten wurde), dann müsste alternativ zur oben ausgeführten Deutung des Museums als identitätssichernde Bewahrungsanstalt für veraltungsbedingt Ausgeschiedenes Folgendes in Betracht gezogen werden: Die Funktion des Museums besteht vor allem darin, Möglichkeiten zur Begegnung mit dem Fremden anzubieten und damit jenen Schwund an Fremdheitserfahrungen zu kompensieren, der aus dem durchschlagenden Erfolg der wissenschaftlich-technischen Zivilisationsleistungen und ihrer globalen Verbreitung resultiert. Denn zur Moderne gehört nicht allein die kulturelle und ökonomische Praxis der permanenten Überbietung des Alten durch das Neue, sondern auch eine drastisch verschärfte Globalisierungsdynamik, die eine Verminderung von Alteritäten zu ihren Folgen zählt. Was bedeutet, dass im Spektrum der «Nebenwirkungen» der Moderne eben nicht nur mit der veraltungsbedingten Ausmusterung von vertrauten Beständen, sondern auch mit dem massiven Abbau von Möglichkeiten zur Erfahrung des Fremden zu rechnen ist. Die steile Karriere der Institution Museum könnte also darin begründet sein, dass dem Publikum ermöglicht wird, sich in ein Verhältnis zum Fremden zu setzen und selbst das Eigene als durch historische Distanzierung fremd Gewordenes wahrzunehmen. In eine Lübbeske Formel gebracht: Durch die Musealisierung des zeitlich, geografisch oder sozial Anderen kompensieren wir Verluste an lebensweltlichen Fremdheitserfahrungen, verursacht durch den globalisierungsbedingten Abbau kultureller Differenzen und durch die auf übereinstimmender Orientierung am Funktionalismus beruhenden Angleichungstendenzen in der modernen Dingwelt. Auch ein solches Deutungsmuster basiert aber auf der Setzung, dass sich kulturelle Tätigkeit primär als kompensatorische Teilbehebung zivilisatorischer Defizite vollzieht und damit auch die fortschreitende Musealisierung als eine zur dominierenden gesellschaftlichen Dynamik gegenläufige Entwicklung zu verstehen ist.

Abfall als Bedeutungsträger

Wenden wir uns praxisnaher nochmals der Frage zu, wie und zu welchen Zwecken Abfall ins Museum gelangt. Objekte, denen ehemals der Status von Abfall zukam, finden sich mit besonderer Häufigkeit in archäologischen Sammlungen. Neben Grabbeigaben, Opfergaben und Versteckfunden bilden Überreste von Siedlungen und der Inhalt von Abfalldeponien die Hauptbestandteile archäologischer Funde. Die Mehrheit der Objekte besteht aus alltäglichen Materialien und hat aufgrund des oftmals fragmentarischen Zustands einen nur geringen ästhetischen Wert, doch wegen ihrer Gewöhnlichkeit und ihrer Menge, also wegen ihrer statistischen Relevanz, besitzen sie einen hohen Informationswert: Siedlungsrelikte geben Auskunft über soziale Strukturen, Bruchstücke von Gefässen enthalten Informationen über damals zur Verfügung stehende Werkstoffe und Techniken, Speisereste erlauben Rückschlüsse auf Ernährungsgewohnheiten. Der Transfer archäologischer Abfälle in den Bereich der wertvollen Dinge geschieht, weil sie als Zeichen behandelt werden, die auf anthropologische und soziale Wirklichkeiten verweisen, die als solche nicht mehr Gegenstand einer direkten Untersuchung sein können. Im selben Sinn werden die Fundstücke im Museum ausgestellt: als Zeichen für etwas Abwesendes, dem nur indirekt über noch vorhandene Relikte und deren Deutung Präsenz verliehen werden kann.

Im Hinblick auf das Zusammenwirken von Fortschrittsdynamik, Abfallproduktion und Musealisierung ist allerdings von Belang: Die blosse Tatsache, dass etwas nicht mehr da ist, bietet allein noch keinen hinreichenden Grund für dessen substituierende Repräsentation. Nur weil in der fortschrittsorientierten Kultur der Moderne mehr Veraltetes anfällt, muss dieses nicht zwingend musealisiert werden – zumal es zu den manchmal geradezu schlachtrufartig vorgebrachten Paradigmen der Moderne gehört, sich die Vergangenheit vom Leib zu schaffen: «Détournez le cours des canaux pour inonder les caveaux des musées! … Oh! qu’elles nagent à la dérive, les toiles glorieuses!»17

An dieser Stelle lohnt es, sich zu vergegenwärtigen, in welchem Zeitraum es zu jener markanten Zunahme an Museen kam, die Lübbe argumentativ in Anschlag bringt. Die statistischen Vermessungen der Situation in der Schweiz, einem Land mit sehr hoher Museumsdichte, zeigen deutlich: Die Phase des starken Museumswachstums betrifft die Jahre von 1970 bis heute.18 Während in der Zeitspanne von 1850 bis 1950 zwischen drei bis 34 Museen pro Jahrzehnt gegründet wurden und es in den 1950er- und 1960er-Jahren je rund 70 waren, betrug die Anzahl der Neugründungen in der Zeit von 1970 bis 2010 etwa 140 bis 200 pro Dekade. Ein ähnliches Bild ergibt sich aus den Zahlen anderer Länder, zum Beispiel aus den von Lübbe ausführlich zitierten Statistiken für Deutschland.19 Das heisst jedoch nichts anderes, als dass das «Zeitalter historisch singulärer Expansion der Kulturmusealisierung»20 nicht etwa deckungsgleich ist mit jenem der Moderne, fasst man diese auch noch so kurz, sondern – will man sich denn überhaupt epochenbegrifflich festlegen – mit der Postmoderne einsetzt.

Nun versteht sich von selbst, dass nicht alle Phänomene, die sich im temporalen Radius der Postmoderne ereignet haben, etwas mit ebendieser zu tun haben müssen. Auch sind andere Gleichzeitigkeiten zu konstatieren, wie etwa die Parallelität von steigenden Museumszahlen und Expansion des Kunstmarkts21 - und damit auch die Synchronizität von Museumsboom und allgemeinem Wirtschaftswachstum, Letzteres wiederum verbunden mit entsprechender Vermehrung der von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellten Ressourcen. Doch verortet sich die gesteigerte museale Vergegenwärtigung des Vergangenen nicht nur rein äusserlich-temporal in der Postmoderne, sondern sie korrespondiert mit deren inneren Verfassung als Nachbearbeitung der Moderne und ihrer Defizite. Die moderne Orientierung nach vorne, der Kult des Neuen, die «Feier des Dynamismus»,22 in der sich nach Jürgen Habermas «die Sehnsucht nach einer unbefleckten, innehaltenden Gegenwart aus [spricht]», räumt mit der Vergangenheit, ob noch vertraut oder schon fremd geworden, gründlich auf. Über die Moderne als «Exklusivismus in permanenter Bewegung»,23 der «in seiner Ausschliessungskraft sein revolutionäres Prinzip» besitzt (Peter Sloterdijk), ist viel nachgedacht und geschrieben worden, was hier nun auszubreiten wäre. Um gleich auf den Punkt zu kommen: Die Institution Museum, ihrem Wesen nach Schauplatz der Repräsentation von Abwesendem, verhält sich gegenüber den Reduktions- und Entledigungsschüben der Moderne komplementär und fungiert von Anbeginn als einer der Behandlungsorte für die aus ihr resultierenden defizitären Erfahrungen. Es ist somit nur folgerichtig, dass das Museum den mit Abstand stärksten konjunkturellen Anschub in der Postmoderne erlebt, in der die Nachbereitung der Moderne und die Beschäftigung mit ihren Defiziten das Epochenprogramm ist. Dazu passt, dass auch die Museologie, ein ständiger Begleiter der institutionellen Praxis des Museums seit seinen Anfängen,24 in den Jahren der Etablierung postmodemer Positionen erstmals in den Rang einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin erhoben wird.25

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