Czytaj książkę: «kollateral»

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Robert Lang

kollateral

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog: Status quo ante

Erstes Kapitel: Corpus delicti

Zweites Kapitel: Netzwerker

Drittes Kapitel: Jäger und Gejagte

Viertes Kapitel: Atmosphärische Störungen

Fünftes Kapitel: Profis bei der Arbeit

Sechstes Kapitel: Irritationen

Siebtes Kapitel: Eine spät gepflückte Blume

Achtes Kapitel: Am See

Neuntes Kapitel: Und… Action!

Zehntes Kapitel: Freiheit oder nicht?

Elftes Kapitel: Ein enges Zeitfenster

Epilog: Suum cuique

Impressum neobooks

Prolog: Status quo ante

Robert Lang

kollateral

Roman

Impressum:

© 2021 by Robert Lang (Pseudonym)

Heinz-Gerd Faßbender

D-77728 Oppenau

E-Mail: r.lang.romane@gmx.net

Umschlaggestaltung Harri Faßbender

Druck und Vertrieb: epubli, ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Printed in Germany

1

Er hätte wissen müssen, dass so etwas passieren kann. Mit den Briefmarken hat er sich angreifbar gemacht, denkt Langer, Quittung hin oder her. Die verdammten Briefmarken!

Bornemanns Sekretärin hat ihn von Beginn an nicht gemocht. Wochenlang hat sie nach dem Haar in der Suppe gesucht, ihm fehlende Arbeitsmoral oder mangelnde Sorgfalt unterstellt, und je weniger sie an ihm und seiner Arbeitsweise auszusetzen fand, desto mehr hat sie ihn schikaniert. Es kann nicht sein, was nicht sein darf, er ist schließlich kein richtiger Arbeitnehmer, sondern ein „Künstler“. Die Anführungszeichen spricht sie jedes Mal laut und vernehmlich mit.

Aber endgültig hat er das Fass zum Überlaufen gebracht, als er sie auf zwei Tippfehler aufmerksam machte, die ihr bei einem nur zwölfzeiligen Brief unterlaufen sind, den er eigentlich nur eintüten und frankieren sollte. Seither ist es blanker Hass.

Er hätte die Klappe halten sollen.

Sie haben ihn ins Büro den Chefs gerufen, direkt, nachdem er ahnungslos aus der Mittagspause kam. Zu dritt sind sie über ihn hergefallen. Die alte Sekretärin, der Firmenchef und irgendein Anzugträger, der blutleerer ist als ein Vampir am Ende der Fastenzeit.

„Was haben Sie mit den Marken gemacht, die Sie heute von der Post mitgebracht haben?“

„Die sind dort, wo Sie hingehören. Ich habe mir zwanzig Stück davon übers Wochenende ausgeborgt, weil ich heute Abend noch wichtige private Unterlagen zu verschicken habe. Aber dafür habe ich eine Quittung ins Briefmarkenbuch gelegt.“

Das mit den wichtigen Unterlagen ist die Wahrheit. Er nimmt an verschiedenen Musikwettbewerben teil, bei einem davon ist der Einsendeschluss am kommenden Montag. Er hat einige Demobänder zu verschicken gehabt, ebenso wie Probeseiten seines Gedichtbands, den er gerade fertiggestellt hat. Und weil er pleite ist und sein Monatslohn erst in ein paar Tagen auf dem Konto eingehen wird, hat er diese kleine Anleihe genommen.

„Geliehen, geliehen“, giftet Bornemanns Sekretärin. „In dem Buch liegt keine Quittung. Sie haben Marken im Wert von sechsunddreißig Euro gestohlen, und ich habe Sie dabei ertappt.“ Und zum Chef gewandt: „Ich hab’s von Anfang an gesagt. Was soll man auch anderes von diesen, äh… Künstlern erwarten.“

In diesem Moment wird ihm heiß und kalt zugleich. Diese Schlange hat ihn ausmanövriert und den Zettel verschwinden lassen, während er an der nahegelegenen Imbissbude ahnungslos seine tägliche Currywurst gegessen hat. Und natürlich hat er keinen Zeugen.

Sie hat ihn loswerden wollen, und er muss neidlos anerkennen, dass sie dabei alles richtig gemacht hat. Willkommen im richtigen Leben, Herr Langer!

Endgültig begreift er seine missliche Lage, als ein sichtlich schlechtgelaunter Bornemann sein Urteil fällt. „Holen Sie sich Ihre Papiere in der Personalabteilung. Ich will Sie hier nicht mehr sehen. Und ich werde natürlich Anzeige erstatten. Das bin ich meinem Betrieb und seinen ehrlichen Mitarbeitern schuldig. Und jetzt raus hier!“

Du dämlicher Hund, hat Langer gedacht. Ich fälsche seit Monaten Stundenbelege von Aushilfen für dich, damit du dir ein paar Tausender an Sozialversicherung einsparst.

Aber er hat geschwiegen und ist aus dem Büro geschlichen wie ein begossener Pudel. Er kann es nicht wahrhaben. Ein paar Wochen vorher hat seine Claudia Schluss mit ihm gemacht (Sie braucht jemanden „mit mehr Biss, mit mehr Ehrgeiz und Zielstrebigkeit“). Und jetzt ist sein Job weg, er hat Mietschulden - und das Schlimmste steht ihm noch bevor. Dieser blöde Hund könnte tatsächlich die Polizei auf ihn hetzen, und dann steht Langer vermutlich ein Prozess wegen Diebstahls, Unterschlagung oder was auch immer bevor. Und obwohl es sich um eine Bagatelle handelt, ist es unangenehm und zieht ihn noch weiter runter, als er es schon ist.

Andererseits, das Ganze ist jetzt sechs Wochen her, und weder von der Polizei noch vom Gericht ist eine Vorladung gekommen. Vielleicht hat sich die Firma ja eines Besseren besonnen und die Sache fallen lassen. Es ist ohnehin fraglich, ob sich ein Richter mit einer solchen Nichtigkeit befassen will. Aber die Geschichte hängt immer noch wie ein Damoklesschwert über ihm und hindert ihn daran, sich zu entspannen und auf andere Dinge zu konzentrieren.

Es ist seine erste und einzige Begegnung mit dem großen Bornemann gewesen, denkt er jetzt bitter, als er sich eine neue Dose Billigbier aus dem Kühlschrank holt. Vermutlich hat dieser ihn schon am nächsten Morgen wieder vergessen. Langer ist nur eine Aushilfe mit zwanzig Wochenarbeitsstunden gewesen, auch wenn er schon seit acht Monaten im Betrieb gearbeitet hat. Wozu sich weiter an ihm abarbeiten? Sie haben seinen letzten Monatslohn einbehalten und seine prekäre Finanzlage dadurch noch verschärft. Immerhin hat er das Glück gehabt, schnell einen neuen Job zu finden, mit besserem Arbeitsklima, besserer Bezahlung und freier Zeiteinteilung. Aber das hat seinen Zorn und das unangemessene Gefühl persönlichen Versagens nicht lindern können. Es spukt weiter in seinem Kopf herum.

In seinen Tagträumen phantasiert er gelegentlich davon, dieser Sekretärin ein Paket mit einer toten Ratte zu schicken; oder Bornemanns Büroräume zu verwüsten, nachts, als Reinigungskraft getarnt. Oder – das hat er gelesen – er könnte wegen der vielfach gefälschten Stundenbelege für die Aushilfen in Bornemanns Betrieb eine Selbstanzeige beim Landesarbeitsamt einreichen. Dann käme er selbst straffrei davon, aber der Alte hätte eine Betriebsprüfung am Hals, samt Strafe und hoher Nachzahlungen an Sozialversicherungsbeiträgen.

Vorgestern hat er zufällig die Stieftochter des Unternehmers auf dem Unicampus gesehen, wo sie vermutlich auf dem Weg in eine Vorlesung oder ein Seminar gewesen ist. Seither denkt er an sie, und seine Gedanken kreisen um alle möglichen Schandtaten, die er ihr antun könnte. Er hat sie ein- oder zweimal in der Firma gesehen, aber sie hat keinerlei Notiz von ihm genommen. Wozu sollte sie auch? Ihn und sie trennen ganze Universen.

Irgendwie wird er den Impuls nicht los, ihr – und damit dem Alten – Schaden zuzufügen. Aber das ist reiner Unfug. Was soll er schon tun? Ihren Aktenkoffer stehlen? Sie mit dem Fahrrad anfahren? All das ist albern und letztlich brotlose Kunst. Will er vielleicht noch eine Anzeige riskieren?

Aber derlei Gedanken lassen sich nicht abwimmeln, wenn man mit seinem Schicksal hadert. Er denkt daran, wenn er unter der Dusche steht, und er denkt daran, wenn er sich wie heute wenig stilvoll betrinkt. „Hör auf zu träumen, Junge!“ Wenn es nur so einfach wäre.

Was hat Claudia gesagt, als sie ihm den Laufpass gab? „Du bist unreif, du sehnst dich nach etwas, was du nicht benennen kannst. Und du bist ins Scheitern verliebt.“ Dazu hat er keine Meinung. Diese drei Dinge sind wohl nur unterschiedliche Aspekte einer einzigen Sache, wenn sie überhaupt zutreffen. Aber welcher?

Später am Abend sitzt er vor dem Fernseher und sieht sich beiläufig einen Krimi an, während er auf seiner Gitarre ein paar Akkordfolgen spielt, mit denen er einen vor einigen Tagen geschriebenen Songtext rhythmisch unterlegen will. Er kommt nicht wirklich zurecht damit, und so schweift sein Blick immer wieder zum Fernseher ab. Der Film handelt von einer Kindesentführung, und die Eltern des Mädchens sind verzweifelt. Auch die Polizeibeamten wissen keinen Rat, besonders, weil nach inzwischen drei Tagen und Nächten noch keine Lösegeldforderung eingegangen ist. Das lässt schlimme Befürchtungen aufkommen.

Endlich hat er eine Idee, wie er den Song gestalten kann (nur beim Refrain klemmt es noch, ohne dass er so genau weiß, woran es liegt), und der Krimi ist wieder vergessen. Zumindest bis zu dem Moment, in dem er sich leicht angetrunken aufs Bett legt und einzuschlafen versucht.

Doch dann, irgendwo im Niemandsland zwischen Wachsein und Schlaf, hat er urplötzlich ein Bild vor Augen, das ihn dazu veranlasst, sich blitzartig aufzusetzen. Er denkt einen Moment über dieses Bild nach, legt sich wieder hin, und kurz, bevor er endgültig einschläft, hat er eine vage Vorstellung davon, wie er sich seine Selbstachtung zurückholen kann.

2

An diesem Abend sitzt Kommissar Schuchardt von der Mordkommission der Kripo Frankfurt in seiner spärlich eingerichteten Dreizimmerwohnung im Frankfurter Westend und isst zu Abend.

Er denkt mit einigem Verdruss über seinen gegenwärtigen Fall nach, einen Mord in der Drogenszene der Stadt. Die gibt es hin und wieder, und normalerweise geben sie nur wenig her, was einen Polizisten mit seiner langjährigen Erfahrung besonders beansprucht.

Er hat nach Dienstschluss keine Lust, für sich allein zu kochen; wenn er einmal Appetit auf etwas Deftiges hat, geht er von seinem Büro aus in eine der Studentenkneipen im benachbarten Universitätsviertel (oder das, was noch davon übrig ist), isst Hackbraten mit Bratkartoffeln oder ein Rahmschnitzel mit Pommes Frites. Das ist es schon mit der Abwechslung, Essen bedeutet ihm nicht viel und er erledigt es wie einen Job, den er zu verrichten hat, um fit für den Alltag zu bleiben.

Und sein Alltag ist im Moment die Leiche eines 24-jährigen jungen Mannes, der mit einer Einwegspritze im Nacken tot auf der Toilette im Untergeschoss des Hauptbahnhofs gefunden worden ist, von einer rumänischen Putzfrau, die bei seinem Anblick so schockiert war, dass man sie zur Beobachtung in die psychiatrische Abteilung der Universitätsklinik bringen musste. Also der ganz normale Wahnsinn, denkt Schuchardt.

Etwas ist an diesem Mord, das ihn nicht zur Ruhe kommen lässt. Die Spritze, Heroin - mit einer ganzen Portion Strychnin versetzt - ist dem Jungen von jemandem verabreicht worden. Der vom Pathologen beschriebene Einstichkanal beweist, dass er es nicht selbst bewerkstelligen konnte („Ich scheiße auf Ihren Einstichkanal!“, hat sein Boss ihn angeschnauzt, nachdem er wegen dieser Sache bei ihm vorstellig geworden ist. „Haben Sie nichts Besseres zu tun?“).

Aber Schuchardt mag keine unerledigten Fälle, und er glaubt nicht, dass einer seiner Kollegen, wenn er an seiner Stelle ermitteln sollte, sich große Mühe geben wird, der Sache wirklich auf den Grund zu gehen. Einen Selbstmord oder auch einen Mord unter drogensüchtigen Bahnhofsstrichern aufzuklären ist nichts, wofür man Lametta an seine Uniform gehängt bekommt. Es ist eine Routinesache in einem Milieu, um das man sonst gerne einen großen Bogen macht.

Doch da ist etwas bei der Befragung von eventuellen Zeugen gewesen, das ihn hat aufmerken lassen. Die kleinen Dealer, mit denen er redet, machen einen verschüchterten Eindruck, als er sich nach dem Verstorbenen erkundigt, Blicke werden verschleiert, Mienen umwölken sich, Stimmen klingen belegt, es wird eher geraunt als gesprochen.

Und ein windiger Geschäftsmann, dem drei Puffs in diesem Viertel gehören und der trotzdem keinen Cent Steuer bezahlt, sagt etwas zu ihm, das auch als Drohung verstanden werden kann, ist aber trotz Aufforderung nicht dazu bereit, das Gesagte zu wiederholen oder näher zu erläutern. Irgendetwas ist an dieser Sache faul, und Schuchardt kommt vorläufig nicht dahinter, was es ist.

3

Britta Stern schaut immer wieder nervös über ihre Schulter, aber da ist niemand. „Verdammt“, murmelt sie, und als sie die Haustür erreicht hat, schiebt sie nervös den Schlüssel ins Schloss und öffnet.

Sie fängt an, paranoid zu werden. Ein Stalker? Ein Student, der ihr nachstellt? Sie fühlt sich seit Wochen immer mal wieder beobachtet, aber sie sieht nie jemanden, der ihr folgt. Wahrscheinlich liegt es an ihrem unkonventionellen Nebenjob. Man hat ihr vorgeschlagen, diesen Job wahlweise in Mannheim, Karlsruhe oder Stuttgart zu verrichten, wenn ihr Frankfurt zu gefährlich ist, aber das hat sie bisher abgelehnt. Lange Auto- oder Zugfahrten sind nicht ihre Sache. Ihr Tagesablauf ist präzise durchgeplant, es gibt da nur wenig Spielraum. Sie hat vor, ihr Studium in Rekordzeit zu beenden; die Nebenbeschäftigung bei einer Escort-Agentur ist ihr deshalb nur logisch erschienen, denn sie muss nur am Wochenende arbeiten, und – was noch erheblich reizvoller ist – sie verdient in einer Nacht mehr Geld als ihre bedauernswerten Mitstudentinnen mit zwei Wochen Plackerei am Fließband einer Fabrik. Das leichte Geld ist da, aber sie sehen es nicht.

Im dritten Stock angekommen, schließt sie ihre Wohnungstür auf, schaltet das Licht ein und stellt ihren Aktenkoffer auf den Schreibtisch. Heute Abend hat sie noch dreißig Seiten „Investition und Finanzierung“ durchzuarbeiten, aber sie wird nicht damit anfangen, bevor sie joggen war und danach geduscht und gegessen hat. Das Wetter ist nicht einladend, aber das ist kein Hindernis. Es ist eben Herbst.

Ihre Nike-Laufschuhe haben nicht mehr allzu viel Profil. Sie notiert es auf ihrer To-Do-Liste, die sie akribisch führt und genauso akribisch abarbeitet. Sie mag Ordnung in ihren Dingen, und das fängt mit den einfachsten Angelegenheiten an. Ausgeschlafen sein (außer, wenn sie in den Nachtstunden jobbt), Körperpflege, Einkaufen, Studium, Bekanntschaften (mehr ist da nicht, denn Freundschaften bedeuten einen inakzeptablen Zeitaufwand), einmal im Monat Besuch bei ihrer Mutter, der sie mit Respekt, aber ohne viel Zuneigung gegenübersteht, und ihrem Stiefvater, den sie nicht mag, in dessen Fußstapfen sie aber nach Beendigung ihres Studium treten wird, wenn alles so läuft wie geplant.

Sie zieht sich um und verlässt die Wohnung; unten auf der Straße angekommen fällt sie in einen zügigen Trab in Richtung des Parks, in dem sie für gewöhnlich fünfundvierzig Minuten lang ihre Runden dreht. Heute wird sie nach einer halben Stunde Schluss machen, denn sie friert jetzt doch ein wenig und sehnt sich schon nach einer heißen Dusche.

„So weit, so gut“, denkt sie, als sie in den nur spärlich beleuchteten Park einbiegt und allmählich ins Schwitzen kommt. Sie sollte vielleicht darüber nachdenken, dieses Escort-Ding zu schmeißen. Am letzten Wochenende ist sie im Hotel „Hessischer Hof“ um ein Haar in einen Geschäftspartner ihres Stiefvaters hineingelaufen, als sie nach einem Kundenbesuch an der Rezeption vorbei musste. Zum Glück hat der Kerl sich nicht umgedreht, bis sie in sicherer Entfernung war.

Dass so etwas jederzeit passieren könnte, ist ihr bis dahin gar nicht in den Sinn gekommen. Natürlich! Ihr Stiefvater, der große Dietrich Bornemann, ist ein steinreicher Bauunternehmer, der Gott und die Welt kennt; und das sind eben zumeist selbst reiche Unternehmer oder Großkunden, die sich standesgemäß in Luxushotels herumtreiben, wenn sie ihre Geschäfte abwickeln oder an Konferenzen teilnehmen.

Nicht auszudenken, wenn sie eines Tages einen Kunden aufsucht und ausgerechnet der kennt ihren Alten oder gar sie selbst. Ihren Stiefvater würde das kaltlassen (der ist selbst leicht pervers angehaucht und permanent lüstern, wie ihr scheint), aber ihre Mutter würde sich vor Scham umbringen, wenn sie davon erfährt. Sie schaudert bei dem Gedanken, während der kalte Nieselregen sich mit dem Schweiß auf ihrer Stirn vermischt.

Sie schaut im Laufen auf ihre Fitnessuhr. Noch fünf Minuten, dann soll es für heute reichen. Es ist Zeit fürs Abendessen, denn sie ist seit dem Frühstück nicht mehr zum Essen gekommen. Britta spult noch zwei Runden ab und trabt dann gemächlich nach Hause.

Noch jemand hat an diesem Abend ihre Zeit gestoppt, ein Mann, der sich zwischen den Sträuchern am Rand des Parks verborgen gehalten hat, und der in den gut dreißig Minuten, in denen Britta Stern ihre Runden drehte, drei Zigaretten geraucht hat. Als das Objekt seiner Beobachtung den Park durch einen Seiteneingang verlassen hat, geht auch er die paar Meter zu seinem Wagen und fährt wenige Augenblicke später los. Er weiß jetzt genug.

Erstes Kapitel: Corpus delicti

1

Die Berührung mit dem warmen Körper, den er jetzt die kurze Strecke über den Kiesweg in die Büsche zerrt, erregt ihn einen Augenblick lang. Dieses Gefühl ist irritierend und der Situation nicht angemessen – hundert Dinge können bei einer solchen Sache schiefgehen, auch ohne dass seine Hormone verrücktspielen.

Er benutzt den Trampelpfad, der vom Wegrand durch das Dickicht zum Parkplatz führt – noch zehn Meter bis zu seinem Wagen; zehn lange Meter, denn Britta Stern wieg erheblich mehr, als er es vermutet hat. Die sechzig Kilo einer attraktiven Frau, deren Hacken über den Boden schleifen, sind schwer wie ein Sandsack. Vielleicht hätte er mit einem Sandsack üben sollen.

Es hat wieder zu regnen begonnen. Kälte und Nässe sind gut für sein Vorhaben. Das schlechte Wetter hält Spaziergänger fern, die ihn stören könnten. Mühsam zieht er seine Last zwischen die tropfenden Büsche.

Die Frau ist völlig verschwitzt, ihre Arme entgleiten seinem Griff immer wieder und er muss ständig nachfassen. Er wird die Heizung seines Wagens hochdrehen, wenn er losfährt. Wenn sein Opfer auskühlt und sich eine Lungenentzündung einfängt, dann ist er aufgeschmissen.

Nun, da er die junge Frau auf den unbeleuchteten Parkplatz zerrt kommt der gefährlichste Teil des Unternehmens. Er blickt sich um. Niemand zu sehen. Zur Linken, in dem alten Universitätsgebäude, brennt im Erdgeschoß noch Licht – Putzkräfte oder der Hausmeister, vermutet er.

Marc Langer hat darauf setzen müssen, dass der Parkplatz an diesem Abend leer ist. Donnerstags endet die letzte Vorlesung um achtzehn Uhr, danach flüchten die meisten Studenten ebenso wie die Lehrkräfte ins vorgezogene Wochenende und es kehrt relative Ruhe ein in diesem Teil des Viertels.

Schwer atmend wirft er jetzt die Hecktür seines Kombis zu und kramt den Autoschlüssel aus seiner Jacke hervor. Vor ein paar Sekunden ist ihm beinahe der Geduldsfaden gerissen. Sein Opfer passte nicht ohne weiteres unter die Abdeckung des Kofferraums. Wie sehr er es auch versucht hat, ein Fuß der Frau lugte stets über die tiefliegende Ladekante des Wagens. Schließlich tut er das Naheliegende und zieht ihr die Laufschuhe aus. Nun kann er die Klappe schließen.

Er öffnet die Fahrertür und wirft sich in den Sitz. Seine Hand zittert, als er den Zündschlüssel ins Schloss bugsieren will. Er braucht dringend eine Zigarette, und während er sich eine anzündet, sieht er, dass die Wagenscheiben rundum beschlagen sind. Frustriert versetzt er dem Lenkrad einen heftigen Schlag. Das kann er jetzt brauchen wie ein nasses Handtuch. Natürlich beschlagen die Scheiben - die beiden schwitzenden Körper heizen den Wagen auf wie ein tropisches Gewächshaus. Er entnimmt dem Handschuhfach ein altes Wischtuch und beginnt die Scheiben zu reinigen. Dann stellt er Heizung und Gebläse auf die höchste Stufe und öffnet die Fenster einen Spalt breit. So müsste es gehen.

Die gesamte Operation hat weniger als fünfzehn Minuten in Anspruch genommen. Das ist wichtig, weil sein Alibi darauf fußt, dass die von ihm geplanten Dinge schnell und reibungslos ablaufen.

Er entspannt sich ein wenig und beginnt, sich auf den stadtauswärts fließenden Verkehr zu konzentrieren. Alles läuft normal - bis zu dem Moment, in dem er hinter sich eine Sirene hört und ein Blick in den Rückspiegel… Heiliger Himmel!

Das Blaulicht kommt rasch näher. Eine Sekunde lang glaubt er, alles sei verloren, bevor es richtig angefangen hat. Es dauert einen schreckensstarren Moment, bis er begreift, dass es sich um einen Krankenwagen handelt, der mit hoher Geschwindigkeit näher kommt, offenbar wie er selbst auf dem Weg zur nahegelegenen Autobahn.

Ein wütendes Hupen, weil er eine rote Ampel überfahren hat. Er muss nur noch für kurze Zeit die Ruhe bewahren, denn er hat es beinahe geschafft.

Langer verstärkt den Griff seiner linken Hand um das Lenkrad und schaltet mit der anderen in einen höheren Gang. Kurz darauf hat er die Autobahn erreicht.

Noch zwanzig Minuten bis zu seinem Versteck; es ist darauf vorbereitet, ihn und seine Geisel so lange wie nötig verschwinden zu lassen. Er schaltet den CD-Player ein und schlägt den Takt eines Rocksongs mit den Fingern aufs Lenkrad. „…Riders on the Storm…“

Der zweite Teil der Operation wird erst morgen früh beginnen. Vorher gilt es, sein Opfer unterzubringen, sich die zweite Hälfte seines Alibis zu beschaffen und zu essen. Zu essen und danach zu schlafen. Er muss körperlich fit bleiben, darauf wird es in den nächsten Tagen ankommen - bis ganz zum Schluss.

„…Riders on the Storm.“

2

An dem nasskalten Novemberabend, an dem seine Stieftochter Britta in die Hände eines Entführers fällt, sitzt Dietrich Bornemann noch zu ungewohnt später Stunde in seinem Büro, hoch über dem Fluss, der die Stadt in zwei Teile zerschneidet. Hier im siebenundzwanzigsten Stock des Büroturms hört man nichts vom allmählich abflauenden Berufsverkehr entlang der beiden Flussufer.

Seine Wut lässt nur langsam nach. Diese Blutsauger vom Betriebsrat können einen immer wieder fertigmachen. Sie quatschen und quatschen und wenn man nicht höllisch aufpasst, haben sie einen plötzlich in einer Ecke, in der sie ihn haben wollen – und man weiß später nicht einmal mehr, wie zum Teufel man dorthin geraten ist. Bornemann weiß, dass er auf seinen Blutdruck achten muss, denn Mitte der kommenden Woche steht ihm eine Steuerprüfung bevor; Steuerprüfungen sind wie Darmspiegelungen, nur teurer.

Brittas Mutter lässt es sich zurzeit im Schwarzwald gut gehen, während er zuhause bleibt und sich für die Firma abrackert. Er ist – um der Wahrheit die Ehre zu geben – froh, wenn er sie nicht zu sehen braucht. Sie haben sich schon lange nichts mehr zu sagen, was häufig zu einer unangenehmen Spannung führt, wenn sie zusammen im selben Raum sind. Sie interessiert sich nicht im Geringsten fürs Geschäft, er interessiert sich für nichts außer dem Geschäft. Das macht es nicht leicht.

Der Gedanke daran, dass er allein sein wird, wenn er heute Abend nach Hause kommt, missfällt ihm dennoch. Nach anstrengenden Sitzungen wie der heutigen braucht er nach Feierabend jemandem, an dem er seine Übellaunigkeit auslassen kann.

Vielleicht sollte er noch etwas unternehmen, wenn er hier herauskommt. Charles, sein Chauffeur und Bodyguard, wartet schon in der Tiefgarage. Der kann ihn irgendwo hinfahren, wo er sich auf angenehme Art und Weise entspannen kann.

Aber dann fällt ihm ein, dass heute Donnerstag ist und dass Mei Long heute nicht arbeitet, und nach Experimenten mit einer neuen Nutte ist ihm nicht zumute. Verdrossen drückt er die Kurzwahltaste seines Telefons und weist seinen Fahrer an, sich für die Fahrt nach Hause bereitzuhalten. Dann verschließt er den Wand-Safe, löscht das Licht und macht sich auf den Weg zum Fahrstuhl, der ihn hinunter zu seinem Wagen bringt.

3

Langer schafft es in ausgezeichneten dreiundzwanzig Minuten, ohne den alten Kombi bis zum Anschlag quälen zu müssen. Der Wagen ist die größte Investition in dieses Unternehmen gewesen, und obwohl er fast schrottreif ist, hat er ihn die Hälfte seiner mickrigen Reserven gekostet. Er hat ihn vor ein paar Tagen durchchecken lassen und ihm dann notgedrungen diesen heiklen Job anvertraut. Bisher macht er seine Sache gut.

Er kommt auf dem schmalen Kiesweg vor dem Haus zu stehen und parkt so, dass die Scheinwerfer den kurzen Weg bis zur Haustür ausleuchten. Sein Opfer kann er in dem so entstandenen Lichtkegel gefahrlos ins Haus bringen. Hier oben am Waldrand sieht ihn niemand.

Er hat vier andere Objekte besichtigt, bevor er sich für dieses Ferienhaus entschieden hat. Es liegt am toten Ende eines Feldwegs, duckt sich mit seiner praktisch fensterlosen Rückseite unter einen dichten Fichtenwald, durch den man stundenlang wandern kann, ohne auf etwas anderes zu stoßen als ein paar Wirtschaftswege, die offenbar nur selten benutzt werden.

Bis hinunter zur Kreisstraße gibt es nichts als Felder, die jetzt brachliegen, weil die Ernte längst eingebracht ist. Zum nächstgelegenen Anwesen, einem Bauernhof am Ortseingang, ist es ein guter Kilometer, und um diese Jahreszeit hat niemand einen Anlass, hier heraufzukommen.

Die Besitzerin des Hauses, eine wohlhabende Witwe aus Nordhessen, kommt nie hierher. Er hat es von einem Immobilienmakler gemietet, dessen Büro sich ebenfalls sichere zweihundert Kilometer entfernt am Wohnort der Besitzerin befindet. Den Hausschlüssel hat er von einer älteren Putzfrau aus dem Dorf erhalten, die gelegentlich hier heraufkommt, um durchzulüften oder Staub zu wischen. Ein paar kleinere Geldscheine haben sie davon überzeugt, dass er während seiner künstlerischen Tätigkeit keinerlei Störungen wünscht und selbst für Ordnung und Sauberkeit sorgen wird. Das Geld reicht bequem aus, um ihr den entgangenen Lohn zu ersetzen.

Den Leuten im Dorf gegenüber hat er sich als Schriftsteller ausgegeben, der die ländliche Abgeschiedenheit sucht, um einen begonnenen Roman zu beenden. Niemand soll sich Gedanken darüber machen, was ein junger Mann wie er so lange in dieser Einöde zu schaffen hat. Es gibt hier weder Tourismus noch Industrie. Dieses Kaff wirkt auf ihn, als sei es mausetot.

Britta Stern wird noch ein Weilchen brauchen, bis sie wieder vollständig zu sich kommt. Zeit, die er benötigt, denn er hat noch etwas Wichtiges zu erledigen.

Er schaltet den Motor aus, steigt aus dem Fahrzeug und öffnet die Heckklappe. Das Chloroform hat er zusammen mit dem kleinen 22er-Revolver und der großkalibrigen 38er im Hinterzimmer einer schummrigen Kneipe im Frankfurter Bahnhofsviertel erworben, von einem serbischen Dealer. Die Serben und die Albaner können einem fast alles besorgen, vorausgesetzt, man findet sie und bezahlt den Preis.

Das Chloroform hat die gewünschte Wirkung erzielt. Die Lungen der Frau haben nach einem verschärften Tempolauf nach Sauerstoff gegiert und sie hat das Gas unwillkürlich eingesogen, als er sie aus kürzester Distanz damit besprüht hat. Aber da das Zeug nur für kurze Zeit wirkt, hat er ihr noch im Park einen harten trockenen Faustschlag direkt oberhalb des rechten Ohres versetzt, weshalb sie für anderthalb bis zwei Stunden außer Gefecht sein dürfte.

Er hievt die Füße der Frau über die Ladekante, wuchtet ihren schlaffen Oberkörper in eine aufrechte Position und bückt sich unter die sitzende Gestalt. Dann ergreift er ihre Handgelenke und stemmt sich nach oben, den leblosen Körper wie einen Sack auf dem Rücken tragend. Brittas Kopf liegt auf seiner rechten Schulter, ihr hellblondes Haar kitzelt für einen Moment seine Wange.

Schwankend erreicht er die Haustür und lässt seine Last so sanft wie möglich zu Boden gleiten. Dabei rutscht das noch schweißgetränkte Sweatshirt der Frau hoch und lässt einen indiskreten Blick auf ihre vollen Brüste zu. Diesmal bleibt er unbeeindruckt. Er bemerkt eine Gürteltasche, die sie um die Hüften geschlungen trägt. Schlüssel, Geld und Papiere wahrscheinlich; er wird sich später darum kümmern. Jetzt zählen Minuten.

Umständlich fischt er den Hausschlüssel aus seiner Jacke, eine Hand stets an der Schulter seines Opfers, darauf achtend, dass sie nicht nach hinten oder zur Seite kippt. Die Tür springt mit einem Knarren auf und er zerrt die Frau über die Schwelle. Er versetzt der Tür einen Tritt und sie schwingt hinter ihm zu. Bis auf das Licht, das die Autoscheinwerfer durch die beiden Fenster an der Vorderseite des Hauses werfen, ist es dunkel in dem großen Wohnraum. Bizarre Schatten lassen die Szene unwirklich erscheinen.

Der Entführer schleift sein Opfer quer durch das Zimmer zu einem Bett, das seinen Gast schon erwartet. Er wuchtet den Körper hoch und legt ihn auf den Rücken. Handschellen, mattsilbern das spärliche Licht reflektierend, schließen sich um die Gelenke von Händen, die sich nicht wehren können. Zwei robuste Ketten, die sich in der Wand hinter dem Bett verlieren, klirren leise.

Den Raum hat er schon mittags auf eine angenehme Temperatur vorgeheizt; dennoch geht er jetzt ins Bad und holt ein Handtuch, mit dem er den nassgeschwitzten Körper der Frau trocken reibt, soweit das unter diesen Umständen möglich ist. Dann wirft er das Handtuch auf einen Sessel, zieht die Vorhänge zu und geht in das nebenan liegende Schlafzimmer. Auf dem ungemachten Bett liegen frische Sachen bereit. Er entledigt sich der schwarzen Kluft, die er getragen hat, wählt Jeans, Turnschuhe und einen hellblauen Pullover und zieht sich an. Ein Blick in den Spiegel zeigt ihm einen harmlosen, höchstens etwas müde wirkenden jungen Mann. Marc Langer verlässt das Haus und geht zu seinem Wagen.

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