Die alte Mrs. Brand und Mabel saßen an einem Fenster des neuen Admiralitätsgebäudes in Trafalgar-Square, um von dort aus Zeugen von Olivers Rede anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Armengesetzreform zu sein.
Es war ein erhebender Anblick, an diesem Junimorgen zu sehen, wie die Menge sich um die Statue Braithwaites scharte. Dieser Politiker, nun seit fünfzehn Jahren tot, war in seiner bekannten Haltung dargestellt, mit ausgestreckten, abwärts gesenkten Armen, das Haupt erhoben und einen Fuß ein wenig vorgesetzt. Heute war die Statue, wie dies bei solchen Gelegenheiten mehr und mehr Brauch geworden war, mit den Abzeichen der Loge geschmückt. Er war es gewesen, der jener geheimen Bewegung einen so mächtigen Impuls gegeben hatte durch seine im Parlament abgegebene Erklärung, dass die Schlüssel zum Fortschritt der Zukunft und zu wahrer Brüderlichkeit unter den Nationen sich in den Händen des Ordens befänden. Dadurch allein war es möglich geworden, der falschen Einheitsidee der Kirche mit ihrer fantastischen, geistigen Brüderlichkeit wirksam entgegenzuarbeiten. Der heilige Paulus hatte, so erklärte er, recht, wenn er die Scheidewände zwischen den Nationen niederriss, unrecht aber in seiner Verhimmelung Jesu Christi. Dieser Gedanke bildete die Einleitung zu seinen Ausführungen über die Vorlage zum Armengesetz, und nach einem Hinweis auf die wahre, aller religiösen Motive entkleidete, unter den Freimaurern existierende Nächstenliebe, erinnerte er an deren bekannte philanthropische Werke auf dem Kontinent; und durch die Begeisterung über den Erfolg des Gesetzes hatte die Loge einen bedeutenden Aufschwung an Mitgliedern genommen.
Die alte Mrs. Brand war heute in ihrem besten Staate und blickte mit ziemlicher Erregung auf die dicht gedrängte, unabsehbare Menge, die sich eingefunden hatte, um der Rede ihres Sohnes zu lauschen. Rund um die Bronzestatue des Staatsmannes war eine Tribüne errichtet, in einer Höhe, dass dieser, wenn auch um ein weniges über seine Umgebung hervorragend, mitten unter den Rednern zu stehen schien; auf dieser Tribüne, die mit Rosen geschmückt und von einem Schalldache überragt war, befanden sich ein Stuhl und ein Tisch.
Soweit man den Platz übersehen konnte, stand Kopf an Kopf, und das Gesumme von Tausenden von Stimmen wurde ab und zu übertönt von dem Geschmetter der Trompeten und dem dumpfen Wirbel der Trommeln, wenn die Wohltätigkeitsvereine und demokratischen Gilden mit ihren Bannern von Nord, Süd, Ost und West her aufmarschierten und den großen, eingefassten Raum einnahmen, der ihnen vorbehalten war. Auch die Fenster alle waren dicht besetzt; kolossale Gerüste zogen sich längs der Front der Nationalgalerie und St. Martinskirche hin gleich vielfarbigen Gartenbeeten hinter den stummen, weißen Bildsäulen, welche rings den Platz umstanden, von Braithwaite angefangen, vorbei an den Größen aus der Zeit Victorias — John Davidson, John Burns und den übrigen — bis zu Hampden und de Montford auf der Nordseite. Die alte Säule mit ihren Löwen war entfernt worden. Nelson war mit der Entente Cordiale1 nicht mehr in Einklang zu bringen, und auch die Löwen hatten vor der neuen Kunst keine Gnade gefunden; an ihrer Stelle war nun ein freier Platz zu sehen mit terrassenförmigen Steinstufen, die zur Nationalgalerie hinanführten, über den Dächern hoben sich enggedrängte Friese von Köpfen gegen den blauen Sommerhimmel ab. Nicht weniger als hunderttausend Personen waren um Mittag innerhalb der Seh- und Hörweite der Plattform zusammengedrängt.
Als die Uhren die Stunde verkündeten, kamen hinter der Statue zwei Gestalten hervor, traten in den Vordergrund, und wie auf einen Schlag wuchs das Murmeln zu einem Beifallssturm an.
Zuerst erschien der alte Lord Pemberton, eine grauhaarige, aufrechte Erscheinung, dessen Vater mitgeholfen hatte, das Herrenhaus, dessen Mitglied er war, anlässlich seines Falles vor mehr als siebzig Jahren, in Anklagezustand zu versetzen und in seinem Sohn war ihm ein würdiger Nachfolger erwachsen. Dieser Mann war nun Mitglied der Regierung und Vertreter von Manchester, und er war es, der bei dieser vielversprechenden Gelegenheit den Vorsitz zu führen berufen worden war. Nach ihm kam Oliver, unbedeckten Hauptes, tadellos in seinem Äußeren, und selbst auf diese Entfernung hin konnten seine Mutter und Mabel seine energischen Bewegungen, sein frohes Lächeln und beifälliges Nicken erkennen, als sein Name aus dem stürmischen Lärm, der sich rund um die Plattform erhoben hatte, ertönte. Lord Pemberton trat vor, erhob die Hand und machte ein Zeichen, und in einem Augenblicke erstarken die Hochrufe unter dem plötzlich einsetzenden Rollen der Trommeln und der sich daranschließenden Intonierung der Freimaurerhymne.
Zu singen verstanden diese Londoner, daran war nicht zu zweifeln. Es schien, als ob eine gigantische Stimme die klangvolle Melodie summte und sich zum Enthusiasmus emporschwang, bis die Töne der vereinten Musikchöre ihr folgten, gleich einem Banner, das sich an die Fahnenstange anschmiegt. Es war eine vor etwa zehn Jahren verfasste Hymne, und schon war ganz England vertraut mit ihr. Die alte Mrs. Brand warf mechanisch einen Blick auf das Programm und sah die ihr so wohlbekannten Worte: »Der Herr, der wohnt in Land und Meer …« Sie durchlas die Verse, welche, vom humanitären Standpunkte aus betrachtet, mit Geschick und Eifer abgefasst waren. Sie hatten ein religiöses Gepräge; der ungebildete Christ konnte sie singen, ohne darüber Skrupeln zu bekommen, und doch war ihr Sinn klar genug, — der alte menschliche Glaube, dass der Mensch das All sei. Selbst Christi eigene Worte waren darin angewandt worden; das Königreich Gottes, hieß es, liege im Herzen des Menschen, und die größte aller Gnaden sei die Nächstenliebe.
Sie blickte auf ihre Schwiegertochter und sah, dass diese aus ganzem Herzen mitsang, während ihre Augen, aus denen ihre ganze Seele sprach, auf die etwa hundert Meter entfernte dunkle Gestalt ihres Gatten geheftet waren. Und so begann denn auch die Mutter, im Chor mit den singenden Tausenden die Lippen zu bewegen.
Als die Hymne verklungen war, und ehe der Beifall sich wieder erheben konnte, stand der greise Lord Pemberton an dem vorderen Rand der Plattform, und seine dünne, metallische Stimme übertönte mit einigen kurzen Worten das Plätschern der Springbrunnen hinter ihm. Dann trat er zurück, und Oliver trat an seine Stelle. —
Sie waren zu weit entfernt, die beiden, um zu unterscheiden, was er sprach, aber Mabel drückte mit einem nervösen Lächeln der alten Dame ein Stückchen Papier in die Hand und beugte sich dann lauschend nach vorn.
Die greise Mrs. Brand warf auch einen Blick darauf; sie wusste, es war ein Auszug aus der Rede ihres Sohnes, dessen Worte zu verstehen sie nicht imstande war.
Er begann, indem er als Einleitung alle Anwesenden beglückwünschte, die sich hier eingefunden hatten, um den großen Mann zu ehren, der von seiner Plattform aus selbst bei dieser großen Jubiläumsfeier den Vorsitz führte. Dann kam ein Rückblick, in dem er die ehemaligen Zustände Englands mit den heutigen verglich. Noch vor fünfzig Jahren, sagte der Redner, galt Armut als eine Schande, das sei nun vorüber. Nur in den Ursachen, die zur Armut führten, konnte man entweder Schande oder Verdienst erblicken. Wer würde nicht einen Mann ehren, der sich im Dienste seines Landes aufgerieben, oder der schließlich Umständen unterlag, gegen die er bis an sein Ende, wenn auch vergebens, gerungen hatte? … Er zählte die Reformen auf, die genau an diesem Tage vor fünfzig Jahren zur Annahme gelangt waren, und durch welche die Nation ein für alle Mal die Hoheit der Armut und das Mitgefühl der Menschheit mit den Unglücklichen aussprach.
Und so, sagte er, sei es heute seine Aufgabe, zum Preise der duldenden Armut und deren Belohnung zu sprechen, und dies, meinte er, zusammen mit einer kurzen Erwähnung des Gefängnisreformgesetzes, würde die erste Hälfte seiner Rede bilden. Der zweite Teil sollte ein Loblied auf Braithwaite sein, auf ihn, als den Herold einer Bewegung, die eben erst um sich zu greifen begann.
Die alte Mrs. Brand lehnte in ihrem Sessel zurück und schaute um sich.
Das Fenster, an welchem sie saßen, war für sie reserviert worden; ihre beiden Armstühle nahmen die Breite desselben ein, aber unmittelbar hinter ihnen standen andere Zuschauer, die in tiefem Schweigen, die Lippen erwartungsvoll geöffnet, mit gespannter Aufmerksamkeit die Köpfe nach vorn beugten; zuerst ein paar alte Damen mit einem Greis und hinter ihnen wieder andere Gesichter. Mrs. Brand fühlte durch deren unverkennbares Interesse einen leisen Vorwurf für ihre Zerstreutheit, und schnell entschlossen wandte sie ihre Blicke wieder dem Festplatze zu.
Ah, mit voller Begeisterung entwickelte er seine Lobrede! Seine kleine, dunkle Gestalt stand im Hintergrund, etwa einen Meter von der Statue entfernt, und eben, als sie hinblickte, erhob er seine Hand, wandte sich mit einer jähen Bewegung um, und brausender Beifall übertönte einen Augenblick die klare, klangvolle Stimme. Dann schritt er wieder nach vorne, halb kriechend — denn er war ein geborner Schauspieler —, und schallendes Gelächter ertönte unter der Menge. Sie vernahm hinter ihrem Stuhl ein verhaltenes Zischen und unmittelbar darauf einen Schrei ihrer Schwiegertochter … Was bedeutete dies? …
Ein Krach, und die kleine, gestikulierende Gestalt taumelte zurück. Der Greis am Präsidiumstisch sprang sofort auf, und im selben Augenblick gärte und wogte es unter der Menschenmenge unmittelbar außerhalb des abgegrenzten Raumes, wo die Musikchöre standen, und genau der Tribüne gegenüber, gleich der Brandung, die gegen den Felsen anstürmt.
Mrs. Brand, ganz außer sich und verwirrt, war aufgesprungen und klammerte sich an das Fenstergitter, während ihre Schwiegertochter sie krampfhaft am Arm packte und unverständliche Worte von sich stieß. Der ganze Platz war in Aufruhr, die Köpfe bewegten sich bald nach dieser, bald nach jener Richtung, wie ein vom Sturm gepeitschtes Ährenfeld. Oliver erschien wieder im Vordergrund, seine Hand deutete auf einen Punkt, und er rief erregte Worte aus; sie konnte genau seinen Bewegungen folgen, dann sank sie in ihren Lehnstuhl zurück, das Blut schoss durch ihre Adern, und es schien ihr, als müsste sie ersticken.
»Liebes, liebes Kind, was ist geschehen?«, schluchzte sie.
Aber auch Mabel war aufgesprungen und starrte ängstlich nach ihrem Gemahl hin; hinter ihr ließ sich trotz des wogenden Tumultes auf dem Platze ein lautes Durcheinander von Worten und Ausrufen vernehmen.
1 Die Entente cordiale (französisch für »herzliches Einverständnis«) ist ein am 8. April 1904 zwischen dem Vereinigten Königreich und Frankreich geschlossenes Abkommen. Ziel des Abkommens war eine Lösung des Interessenkonflikts beider Länder in den Kolonien Afrikas (»Wettlauf um Afrika«). <<<
Oliver erklärte ihnen abends zu Hause, in seinen Armstuhl zurückgelehnt, die ganze Geschichte; einer seiner Arme war verbunden und in einer Schlinge.
Es war ihnen nicht möglich gewesen, nach dem Vorfall in seine Nähe zu kommen, die Aufregung auf dem Platze war zu groß gewesen, aber man hatte seiner Frau einen Boten gesandt, durch den ihr mitgeteilt wurde, dass ihr Mann nur leicht verletzt sei und sich in ärztlicher Pflege befinde.
»Ein Katholik war es«, berichtete Oliver mit abgespannter Miene. »Er muss übrigens schon mit der Absicht gekommen sein, denn sein Revolver wurde noch geladen vorgefunden. Nun, diesmal hat sich wenigstens kein Priester hineinmischen können.« —
Mabel nickte zustimmend; sie hatte durch die Plakate das weitere Schicksal des Mannes erfahren.
»Er wurde getötet, — in einem Augenblick war er niedergestampft und erwürgt«, sagte Oliver. »Ich tat, was ich konnte, ihr habt mich gesehen. Aber, — nun, vielleicht war es so besser für ihn.«
»Aber hast du auch alles getan, was in deinen Kräften stand, mein Lieber?«, fragte die Greisin mit Besorgnis aus ihrem Winkel her.
»Ich rief ihnen zu, Mutter, aber sie achteten nicht darauf.«
Mabel beugte sich vorwärts. —
»Oliver, ich weiß wohl, es klingt töricht, aber — aber lieber wäre es mir, sie hätten ihn am Leben gelassen.«
Oliver musste lächeln. Diese zarte Gemütsstimmung war ihm bei ihr nicht unbekannt.
»Vollkommener wäre es sicher gewesen, wenn sie ihn nicht getötet hätten«, sagte sie. Dann brach sie ab und lehnte sich zurück.
»Warum hat er denn gerade in dem Augenblick gefeuert?«, fragte sie.
Oliver sah einen Augenblick nach seiner Mutter hinüber, die aber in aller Ruhe mit ihrer Strickarbeit beschäftigt war.
Dann antwortete er mit eigener Bedachtsamkeit: »Ich sagte, dass Braithwaite mit einer einzigen Rede mehr für die Welt getan habe, als Christus mit allen seinen Heiligen zusammen.« — Er bemerkte, dass die Stricknadeln eine Sekunde ruhten; dann arbeiteten sie weiter, wie vorher.
»Aber jedenfalls hatte er die Absicht gehabt, die Tat auf alle Fälle zu vollbringen«, fuhr Oliver fort.
»Woher weiß man denn, dass er ein Katholik war?«, fragte seine Frau darauf.
»Einen Rosenkranz fand man bei ihm vor; auch hatte er gerade noch so viel Zeit, um seinen Gott anzurufen.«
»Und weiter weiß man nichts?«
»Weiter nichts, übrigens war er gut gekleidet.«
Oliver war ein wenig verstimmt, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sein Arm schmerzte noch in fast unerträglicherweise. Aber im Grunde seines Herzens war er doch sehr glücklich. Allerdings war er von einem Fanatiker verwundet worden, doch bedauerte er keineswegs, für eine solche Sache leiden zu müssen, und es war außer Frage, dass die Sympathie ganz Englands sich ihm zuwandte. Zu dieser Stunde noch war Mr. Phillips im Nebenzimmer damit beschäftigt, die unaufhörlich einlaufenden Telegramme zu beantworten. Caldecott, der Premierminister, Maxwell, Snowford und ein Dutzend anderer hatten umgehend ihre Glückwünsche übersandt, und aus allen Teilen Englands kam eine Depesche um die andere. Es war ein ungeheuerer Vorteil für die Kommunisten; ihren Anführer hatte man angegriffen, während er seiner Pflicht genügte und für seine Grundsätze focht; für sie bedeutete es unschätzbaren Gewinn und einen Verlust für die Individualisten, dass Bekenner schließlich doch nicht nur auf der einen Seite zu finden waren. In ganz London hatten die riesengroßen elektrischen Plakate es in Esperanto schon verkündet, als Oliver bei einbrechender Dunkelheit den Zug bestieg.
»Oliver Brand verwundet … Mordanschlag eines Katholiken … Entrüstung des Landes … wohlverdientes Schicksal des Mörders.«
Auch war er zufrieden, dass er alles getan hatte, den Mann zu retten. Sogar in jenem Augenblick des plötzlichen und heftigen Schmerzes hatte er um Gerechtigkeit gebeten, aber es war zu spät gewesen. Er hatte es mit angesehen, wie die angsterfüllten Augen aus dem dunkelroten Gesichte traten, das sich zu einem entsetzlichen Grinsen verzerrte, als die rächenden Hände an seinem Halse würgten und rissen. Dann war das Gesicht verschwunden, und man begann mit Fußtritten dort weiter zu arbeiten, wo man es zuletzt gesehen hatte. Ja, Leidenschaft und Treue waren eben doch noch in England zu finden!
Bald darauf erhob sich seine Mutter und verließ wortlos das Zimmer; Mabel setzte sich zu ihm herüber und legte ihre Hand auf seine Knie.
»Bist du zu müde zum Sprechen, mein Lieber?«
Er öffnete seine Augen.
»Gewiss nicht, Liebling. Was gibt es?«
»Was glaubst du, werden die Folgen sein?«
Er richtete sich ein wenig auf und blickte, wie er es gewohnt war, hinaus in die Dunkelheit, hin auf dieses staunenswerte Schauspiel. Allenthalben flammten Lichter, ein Meer von sanftleuchtenden Kugeln schwebte über den Häusern, und darüber wölbte sich das geheimnisvolle, schwere Blau eines Sommerabends.
»Die Folgen?«, sagte er. »Sie können nur gut sein. Es war Zeit, dass einmal etwas geschah. Liebste, du weißt, ich fühlte mich manchmal sehr niedergedrückt. Nun, ich glaube, jetzt werde ich dieses Gefühl nicht mehr haben. Ich konnte mich manchmal der Furcht nicht erwehren, dass wir alle unseren Geist verlieren und dass die alten Tories teilweise recht hatten, wenn sie prophezeiten, was der Kommunismus zur Folge haben werde. Aber jetzt, nach diesem …«
»Nun?«
»Nun, wir haben gezeigt, dass wir sogar unser Blut zu vergießen imstande sind. Es kam auch alles wie gerufen, gerade in der Krisis. Ich will nicht übertreiben; es ist nur eine Schramme, — aber es war so wohl erwogen und — so dramatisch. Der arme Teufel hätte keinen ungeschickteren Moment wählen können. Das Volk wird es nicht vergessen.«
Mabels Augen glänzten vor Vergnügen.
»Du Armer«, sagte sie, »hast du Schmerzen?«
»Nicht besonders, übrigens macht mir das den wenigsten Kummer. Wenn nur diese elende Geschichte mit dem Osten erst vorüber wäre!«
Er fühlte, dass er fieberte und in gereizter Stimmung war, und bemühte sich, dies niederzuzwingen.
»O, meine Liebe«, fuhr er fort, während ihm die Röte ins Gesicht stieg, »wenn sie nicht solch verbohrte Narren wären; sie begreifen nicht, verstehen nicht!«
»Was, Oliver?«
»Sie begreifen nicht, wie erhaben das alles ist: Humanität, Leben, endlich Wahrheit und Untergang der Torheit! Aber habe ich es ihnen nicht hundertmal gesagt?«
Sie blickte ihn mit freudestrahlenden Augen an. Wie gern sah sie ihn so, seine zuversichtlichen, geröteten Züge, die Begeisterung in den blauen Augen, und das Bewusstsein, dass er litt, entflammte ihr Gefühl zur Leidenschaft. Sie beugte sich schnell vorwärts und küsste ihn.
»Liebster, ich bin so stolz auf dich, Oliver.«
Er erwiderte kein Wort, aber sie konnte sehen, was sie so gerne sah, jene innere Übereinstimmung, und so saßen sie schweigend da, während die Nacht sich langsam herabsenkte, und nur das Klappern des Schreibers im Nebenzimmer erinnerte sie daran, dass die Welt noch bestand und sie ihr angehörten.
Plötzlich erwachte Oliver.
»Hast du eben etwas bemerkt, mein Liebling, als ich die Bemerkung über Jesus Christus machte?«
»Sie hielt einen Moment im Stricken inne.«
»Du sahst es also auch … Mabel, glaubst du, dass sie rückfällig wird?«
»O, sie wird alt«, warf diese leicht ein. »Natürlich blickt sie da ein wenig zurück.«
»Aber du meinst doch nicht etwa … Es wäre zu schrecklich.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, nein, mein Lieber; du bist erregt und müde. Es ist nur eine kleine Gemütsbewegung … Oliver, ich glaube, ich würde so etwas nicht vor ihr sagen.«
»Aber sie hört es doch jetzt überall.«
»Nein, sie hört es nicht. Bedenke nur, sie geht fast nie aus. Außerdem hasst sie es. Und dann muss man nicht vergessen, dass sie katholisch erzogen wurde.«
Oliver nickte und lehnte sich zurück, indem er träumerisch vor sich hinblickte.
»Ist es nicht erstaunlich, wie lange die Suggestion fortwirkt? Sie kann die Idee nicht los werden, selbst nach fünfzig Jahren noch nicht. Nun, habe ein Auge auf sie, ja? … übrigens …« »Ja?«
»Es sind ein paar weitere Nachrichten aus dem Osten eingelaufen. Man sagt, Felsenburgh habe jetzt die ganze Sache in der Hand, überall ist er, und im Auftrag des Reiches — in Tobolsk, Benares, Yakutsk, — überall, auch in Australien war er.«
Mabel richtete sich rasch auf.
»Gibt uns das nicht gute Hoffnung?«
»Meiner Meinung nach, ja. Es ist kein Zweifel, dass die Sufis gewinnen, aber auf wie lange, ist eine andere Frage. Dazu kommt, dass die Truppen immer noch zusammengezogen sind.«
»Und Europa?«
»Europa rüstet sich in möglichster Eile. Wie ich höre, treten wir mit den übrigen Mächten nächste Woche in Paris zusammen. Ich muss auch gehen.«
»Aber dein Arm, Liebster?«
»Mein Arm muss eben gut werden. Aus alle Fälle wird er mit mir gehen müssen.«
»Erzähle mir noch etwas mehr!«
»Ich habe dir schon alles erzählt. Aber das ist ganz sicher, dass dies die Krisis ist. Wenn der Osten überredet werden kann, jetzt seine Hand zurückzuhalten, wird er sie wohl nie mehr erheben. Das würde dann für die ganze Welt freien Handel und dergleichen mehr bedeuten, so vermute ich. Wenn jedoch —«
»Nun?«
»Wenn nicht, dann gibt es eine Katastrophe, wie sie keine Fantasie bisher zu malen imstande war. Die ganze menschliche Rasse wird unter Waffen stehen, und entweder der Osten oder der Westen wird weggefegt werden. Die neuen Benninscheinschen Explosivstoffe garantieren einen solchen Ausgang.«
»Aber ist es denn absolut sicher, dass der Osten sie besitzt?«
»Absolut! Benninschein verkaufte sie gleichzeitig an den Osten und an den Westen. Dann starb er, und das war sein Glück.«
Mabel hatte früher davon sprechen gehört, aber sie hatte sich immer gesträubt, daran zu glauben. Ein Zweikampf zwischen Ost und West war unter den jetzigen Umständen etwas ganz Undenkbares. Seit einem Menschenalter hatte Europa keinen Krieg mehr gesehen, und die Kriege des Ostens im vergangenen Jahrhundert waren noch mit den alten Kampfmitteln ausgefochten worden. Nunmehr aber wäre, wenn das, was man sich erzählte, der Wahrheit entsprach, ein einziges Geschoss hinreichend, um eine ganze Stadt zu vernichten. Was ein Krieg unter den jetzigen Umständen wäre, dazu reichte keine Einbildungskraft hin. Was militärische Sachverständige voraussagten, war überschwänglich und schon in den Hauptpunkten voll von Widerspruch; die ganze Kriegführung war nur mehr Theorie; es gab keine praktische Erfahrung, die als Grundlage hätte dienen können. Es war, als ob Bogenschützen sich über die Wirkung von Kordit stritten. Eines aber war gewiss, — dass nämlich der Osten sich im Besitz aller modernen, technischen Errungenschaften befand, und, was männliche Bevölkerung betraf, fast doppelt so viel aufzuweisen hatte, als die ganze übrige Welt zusammengenommen; die sich daraus ergebende Schlussfolgerung war also keineswegs beruhigend für England.
Aber die Fantasie sträubte sich einfach, darüber zu reden. Die Zeitungen brachten täglich einen kurzen, sorgfältig abgefassten Leitartikel, dem nur die splitterartigen Nachrichten zugrunde lagen, die man aus den Konferenzen der anderen Seite des Erdballes erhascht hatte; Felsenburghs Name erschien dabei häufiger als je zuvor; im Übrigen ließ sich eine Art gezwungenen Stillschweigens wahrnehmen. Besondere Nachteile waren nirgends zu bemerken; der Handel ging seinen gewohnten Gang, die europäischen Börsenberichte zeigten keinerlei außergewöhnliches Sinken; der Mensch baute weiter, heiratete, sorgte für Nachkommenschaft, ging seinen Geschäften nach und besuchte das Theater aus dem einfachen Grunde, weil er eben nichts Besseres finden konnte. Man konnte den Lauf der Dinge weder aufhalten noch beschleunigen; die Grundlage war eine zu mächtige. Ab und zu verfielen Einzelne in Wahnsinn, Leute, die ihre Denkkraft zu einer Höhe erhoben hatte, die sie die Wirklichkeit erkennen ließ; allenthalben machte sich eine Atmosphäre höchster Spannung fühlbar, aber dabei blieb es auch. Man sprach nicht viel über dieses Thema, es schien dies geratener. Schließlich konnte man auch wohl nichts anderes tun, als abwarten.
Darmowy fragment się skończył.