»Sie müssen mir einen Augenblick Zeit lassen«, sagte der Greis, indem er sich zurücklehnte.
Percy nahm wieder auf seinem Stuhle Platz und wartete, das Kinn auf die Hand gestützt.
Es war ein sehr stilles Gemach, in welchem die drei Männer saßen, und dem Geschmack der Zeit entsprechend einfach ausgestattet. Es hatte weder Fenster noch Türe, denn es waren bereits sechzig Jahre vergangen, seitdem der Mensch zur Einsicht gekommen war, dass der bewohnbare Raum sich nicht nur auf die Oberfläche der Erdkugel beschränkte, und er hatte infolgedessen ernstlich zu graben angefangen. Des alten Herrn Templetons Haus stand ungefähr vierzig Fuß unter dem Niveau des Themseufers, in einer allgemein als günstig bezeichneten Lage, denn man hatte nur hundert Meter weit zu gehen, bis man zur Haltestelle der zweiten Zentral-Motorbahn kam, und eine Viertelmeile bis zur Luftschiffstation von Blackfriars.1 Mr. Templeton war jedoch über neunzig Jahre alt und ging jetzt nur selten mehr aus. Die Wände des Zimmers waren vollständig mit dem mattgrünen, von der Sanitätsbehörde vorgeschriebener Emaille bekleidet und mit dem vor vierzig Jahren von Reuter erfundenen künstlichen Sonnenlicht erleuchtet; im Farbenton glich es einem Frühlingswalde, und Wärme und Ventilation wurden durch das klassische Friesgitter so geregelt, dass die Temperatur stets genau achtzehn Grad Celsius betrug. Mr. Templeton war sehr einfach und begnügte sich damit, so zu leben, wie sein Vater es getan hatte. Die Möbel waren, wenn auch in Bezug auf Ausführung und Form etwas altmodisch, dem Zeitgebrauch entsprechend aus mit weichem Asbestemail überzogenem Eisen, daher sehr dauerhaft und bequem, und hätten für Mahagoni gehalten werden können. Auf beiden Seiten des niederen, aus Bronze gefertigten elektrischen Kamins, vor welchem die drei Herren saßen, standen einige gut ausgestattete Bücherschränke, und in den Ecken des Zimmers fanden sich die hydraulischen Personenaufzüge, von welchen der eine in das Schlafzimmer führte, wogegen man mittelst des anderen in den fünfzig Fuß oberhalb gelegenen Korridors und aus diesem auf den Kai gelangte.
Father2 Percy Franklin, der ältere der beiden Priester, eine ziemlich imposante Erscheinung, war trotz höchstens fünfunddreißig Jahren bereits vollkommen ergraut; aus seinen grauen, von dunklen Brauen überschatteten Augen leuchtete eine auffallende Lebhaftigkeit, doch ließen seine stark markierten Züge und die Entschlossenheit, die sich in seinen Lippen ausdrückte, keine weiteren Zweifel über die Festigkeit seines Willens entstehen.
Father Francis, der jüngere hingegen, der in dem hohen Stuhl auf der anderen Seite des Kamins saß, war ein Durchschnittsmensch; denn wenn auch seine braunen Augen angenehm und ausdrucksvoll blickten, so konnte man doch in seinem Gesichte keine Spur von Entschlossenheit finden; seine Mundwinkel und sein Augenaufschlag ließen vielmehr einen Hang zu der dem schwächeren Geschlecht eigenen Melancholie vermuten.
Mr. Templeton war ein sehr bejahrter Mann mit energischen Zügen, tiefen Runzeln, wie jedermann glatt rastert, und so lag er nun, in eine Steppdecke gehüllt, bequem auf seinem Wasserkissen. Endlich ergriff er das Wort, indem er zuerst einen Blick auf den zu seiner Linken fitzenden Percy warf.
»Ja«, sagte er, »es ist wohl schwer, sich an alles genau zu erinnern. In England wurde unsere Partei während der Tagung vom Jahre 1927 zum ersten Male wesentlich beunruhigt. Diese zeigte uns, wie tief die ganze soziale Atmosphäre vom Hervéismus3 durchdrungen war. Es hatte wohl vorher Sozialisten gegeben, aber keiner derselben konnte mit dem greisen Gustav Hervé verglichen werden, — wenigstens war keiner so einflussreich gewesen. Er lehrte, wie Sie vielleicht gelesen haben werden, absoluten Materialismus und Sozialismus, die er bis zu ihrem logischen Ausgang verfolgte. Der Patriotismus, sagte er, wäre ein Überrest der Barbarei und das wahrhaft Gute nur in sinnlichen Vergnügungen zu finden. Natürlich wurde er überall ausgelacht. Man sagte, dass es ohne Religion unmöglich wäre, unter den Volksmassen einen angemessenen Beweggrund zu selbst der einfachsten Form sozialer Ordnung zu finden. Aber allem Anschein nach hatte er recht. Nach dem Fall der französischen Kirche zu Beginn des Jahrhunderts und den Metzeleien von 1914 begann die Bourgeoisie sich zu organisieren; diese außergewöhnliche Bewegung setzte in allem Ernst ein und wurde von den mittleren Volksklassen weitergeführt, unter Beiseitesetzung allen Patriotismus, aller Rangunterschiede und nahezu ohne Waffen. Natürlich stand alles unter der Leitung der Freimaurer. Sie verbreitete sich nach Deutschland, wo bereits der Einfluss von Karl Marx —«
»Gewiss, mein Herr«, unterbrach ihn Percy in sanfter Weise, »aber möchten Sie uns, bitte, sagen, was in England geschah.«
»Ja richtig, England. Nun, im Jahre 1917 ergriff die Arbeiterpartei die Zügel, und der Kommunismus nahm damit eigentlich seinen Anfang. Daran kann ich mich allerdings nicht mehr erinnern, doch pflegte mein Vater ihn von diesem Zeitpunkte an zu datieren. Es war nur ein Wunder, dass alle diese Bewegungen nicht schneller um sich griffen, doch ich vermute, es steckte noch ein gutes Stück Torytum4 im Volke.
Auch vergeht ein Jahrhundert gewöhnlich nicht so schnell, wie man es erwartet, besonders dann nicht, wenn es mit großen Aufregungen begonnen hat. Aber damals entstand die neue Ordnung, und die Kommunisten haben, mit Ausnahme des unbedeutenden Falles im Jahre 1928, nie wieder einen ernstlichen Rückstoß erlitten. Blenkin gründete ›Das neue Volk‹, und die ›Times‹ kam in Verfall, aber sonderbarerweise hielt sich das Oberhaus bis zum Jahre 1935, wo es zum letzten Male fiel. Die Staatskirche hatte sich im Jahre 1929 endgültig aufgelöst.« —
»Und welche Wirkung hatte dies in religiöser Beziehung?«, fragte Percy schnell, da der Greis innehielt, sich räusperte und seinen Inhalationsapparat höher stellte. Dem Priester lag viel daran, bei diesem Punkte stehenzubleiben.
»Es war weniger ein Ereignis«, erwiderte der andere, »als vielmehr eine Wirkung an und für sich. Sehen Sie, nachdem die Ritualisten, wie man sie zu nennen pflegte, ihr Möglichstes getan hatten, um mit der Arbeiterpartei voranzukommen, vereinigten sie sich nach dem Kongress von 1919, wo das Nizäische Glaubensbekenntnis abkam, mit der Kirche; und wahre Begeisterung war nur unter ihnen selbst zu finden. Aber insofern als die endgültige Auflösung eine Wirkung hervorbrachte, bestand diese, glaube ich, darin, dass das, was von der Staatskirche übrig geblieben war, sich mit der Freien Kirche vereinigte, und die Freie Kirche war, im Ganzen genommen, nichts weiter als eine Schwärmerei. Nach den in den zwanziger Jahren stattgehabten erneuten Angriffen von deutscher Seite her war die Bibel als Autorität vollständig aufgegeben worden, und einige sind der Meinung, dass der Glaube an die Gottheit Christi schon im Beginn des Jahrhunderts nur noch dem Namen nach bestand. Dafür hatte die Kenotische5 Theorie schon gesorgt. Jene sonderbare kleine Regung unter den Anhängern der Freien Kirche hatte sogar schon früher begonnen, damals, als die Pastoren, die eben nur mit dem Strom schwammen — die sozusagen etwas Zugluft spürten —, ihre bisherigen Stellungen verließen. Es ist seltsam unter den Berichten aus jener Zeit zu lesen, wie man sie damals als Freidenker begrüßte. Und gerade dies waren sie nicht … Aber, wo war ich denn stehengeblieben. Ja, richtig — nun, dadurch bekamen wir freies Feld, und die Kirche machte während einiger Zeit außerordentliche Fortschritte, — das heißt außerordentlich im Hinblick auf die Umstände, denn Sie müssen bedenken, dass die Dinge sich damals anders verhielten, als es vor zehn oder zwanzig Jahren der Fall gewesen war. Ich will damit sagen, um mich kurz auszudrücken, dass man schon begonnen hatte, die Böcke von den Schafen zu sondern. Die religiösen Leute waren eigentlich durchweg Katholiken und Individualisten, die Gottlosen wollten von dem übernatürlichen überhaupt nichts wissen und waren ausschließlich Materialisten und Kommunisten. Aber die Fortschritte, die wir machten, verdanken wir einigen hervorragenden Männern, — Delaney, dem Philosophen, den beiden Philanthropen McArthur und Largent und so weiter. Es schien wirklich, als ob Delaney und seine Anhänger aller erreichen würden. Erinnern Sie sich an seine Analogie? Ja, richtig, alles dies ist ja in den Textbüchern enthalten … Und dann hatten wir, am Ende des Vatikanischen Konzils, welches im neunzehnten Jahrhundert einberufen, aber nie geschlossen worden war, große Verluste durch die Entscheidungen. Man pflegte es den ›Exodus der Intellektuellen‹ zu nennen.« —
»Die biblischen Entscheidungen«, warf der jüngere der beiden Priester ein.
»Zum Teil; aber der ganze Konflikt begann mit dem Aufkommen des Modernismus zu Anfang des Jahrhunderts; mehr noch aber war es die Verurteilung Delaneys und im Allgemeinen der Neu-Transzendentalismus, wie man ihn damals auffasste, übrigens starb jener außerhalb der Kirche, wie Sie wissen. Dann wurde Sciottis Werk über vergleichende Religionswissenschaft verurteilt. Darauf machten die Kommunisten Fortschritte, wenn auch nur sehr langsame. Es mag Ihnen, vermute ich, merkwürdig Vorkommen, aber Sie können sich die Aufregung nicht vorstellen, als im Jahre 1960 das Gesetz, betreffend den Handel mit Gebrauchsmitteln, in Kraft trat. Die Leute glaubten, dass jede Tatkraft stocken müsste, wenn so viele Berufsstände verstaatlicht würden; aber wie Sie wissen, war das nicht der Fall.«
»In welchem Jahre war es, dass die Zweidrittelmehrheits-Vorlage durchging?«, fragte Percy.
»O, lange vorher, im ersten oder zweiten Jahre nach dem Fall des Oberhauses. Es war dies, glaube ich, notwendig, sonst wären die Individualisten noch vollständig verrückt geworden. Nun, das Gebrauchsmittelgesetz war nicht zu vermeiden. Schon damals, als die Eisenbahnen in Landesbesitz übergingen, hatte das Volk angefangen, das einzusehen. Für eine Weile nahm das Handwerk einen starken Aufschwung, denn alle die Individualisten, welche sich zu einem solchen eigneten, verlegten sich darauf (gerade damals war es, dass auch die Toller Schule gegründet wurde); aber nach und nach wandten sie sich doch wieder staatlichen Anstellungen zu. Die Gewinngrenze von sechs Prozent für Privatunternehmen hatte eben nicht viel Verlockendes — und der Staat zahlte gut.« —
Percy schüttelte den Kopf.
»Ja, aber ich begreife den gegenwärtigen Stand der Dinge nicht. Sie sagten vorhin, dass es nur mit kleinen Schritten voranging.«
»Ja«, meinte der alte Herr, »Sie müssen an die Armengesetzgebung denken. Dadurch hatten die Kommunisten für alle Zukunft gewonnen. Man muss sagen, Braithwaite verstand sich auf sein Geschäft.«
Der junge Percy sah ihn fragend an.
»Die Abschaffung des Arbeitshaus-Systems!«, sagte Mr. Templeton. »Natürlich ist das alles für Sie alte Geschichte; aber ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre. Eben das war es, was der Monarchie und den Universitäten ein Ende bereitete.«
»Ah«, sagte Percy, »darüber möchte ich gerne einiges von Ihnen erfahren.«
»Sofort. Also, Braithwaites Werk war dies: Nach dem alten System wurden alle Armen gleichbehandelt und fühlten dies. Nach dem neuen System gab es die drei Grade, die wir jetzt haben, und die Erteilung des Wahlrechtes an die beiden höheren. Nur der ganz Wertlose wurde dem dritten Grade zugewiesen und mehr oder weniger als Verbrecher behandelt — natürlich erst nach sorgfältiger Prüfung. Dann kam die Reorganisation der Altersunterstützungen. Also sehen Sie daraus nicht, wie sehr das den Kommunisten zugutekam? Die Individualisten — Tories nannte man sie, als ich noch ein Knabe war — die Individualisten haben seither keine Aussichten mehr gehabt. Heutzutage sind sie nur mehr ein leeres Netz. Die arbeitenden Klassen in ihrer Gesamtheit — und das bedeutete: neunundneunzig vom Hundert — hatten sie gegen sich.« Percy sah auf, aber sein Gegenüber fuhr fort: »Dann hatten wir das Gefängnisreformgesetz unter Macpherson und die Abschaffung der Todesstrafe; dann endlich das Unterrichtsgesetz von 1959, das den dogmatischen Säkularismus einsetzte: die tatsächliche Abschaffung des Erbrechts, verbunden mit der Reformierung der Verbindlichkeiten Verstorbener. —« »Ich erinnere mich nicht mehr an das alte System, wie war es eigentlich?« unterbrach Percy.
»Ja, man sollte es nicht für möglich halten, aber nach dem alten System waren alle gleich hoch besteuert. Zuerst kam die Erbschaftseinschätzung, und dann wurde diese so umgeändert, dass die Steuer auf ererbtes Vermögen dreimal so hoch war, als die auf erworbenes Vermögen, wodurch man im Jahre 1989 die Lehre Karl Marx’ angenommen hatte, — Erstere trat aber im Jahre 1977 in Kraft. Nun, durch all diese Vorgänge hielt England Schritt mit dem Kontinent; wir kamen gerade noch zurecht, uns an dem endgültigen Entwurf, betreffend den amerikanischen Freihandel, zu beteiligen. Wie Sie sich erinnern, war das die erste Wirkung des Sieges der Sozialdemokratie in Deutschland.«
»Aber wie gelangten wir dazu, nicht in den Krieg im Osten verwickelt zu werden?«, fragte Percy etwas erregt.
»Ja, das ist eine lange Geschichte, aber, mit einem Wort, Amerika hinderte uns daran, und auf diese Weise gingen uns Indien und Australien verloren. Ich glaube, seit dem Jahre 1925 sind die Kommunisten ihrem Falle nie so nahe gewesen, wie damals. Aber Braithwaite wusste in sehr kluger Weise sich herauszuarbeiten, indem er uns das Protektorat von Südafrika ein für alle Mal erwarb, obwohl er damals schon ein alter Mann war.«
Mr. Templeton unterbrach sich, um zu husten, während Father Francis leicht seufzte und auf seinem Stuhl hin und her rückte.
»Und Amerika?«, fragte dieser.
»Ja, das ist alles sehr kompliziert. Amerika war, wie Sie wissen, sich seiner Stärke bewusst und annektierte noch im selben Jahre Kanada. Das war der schlimmste Zeitpunkt für uns.«
Percy erhob sich.
»Haben Sie einen Geschichtsatlas, Mr. Templeton?«, fragte er.
Der Greis wies auf ein Bücherbrett. »Dort ist er.«
Ein paar Augenblicke betrachtete Percy schweigend die Karten, indem er sie auf seinen Knien aufschlug.
»Jedenfalls ist so alles viel einfacher«, sagte er zu sich selbst, während er die vielfarbige Karte des beginnenden zwanzigsten mit den drei großen Farbflächen auf jener des einundzwanzigsten Jahrhunderts verglich.
Er fuhr mit dem Finger über Asien entlang. Auf dem in Mattgelb gezeichneten Gebiete, das vom Ural im Westen bis zur Beringstraße6 im Osten reichte und sich über Indien, Australien und Neuseeland erstreckte, stand in großen Buchstaben »Reich des Ostens«. Sein Blick fiel auf das Rot; es war viel kleiner, aber doch noch bedeutend genug, da es nicht nur das eigentliche Europa, sondern auch Russland bis zum Ural und ganz Afrika bedeckte. Die in Blau gehaltene Amerikanische Republik umfasste die Gesamtheit dieses Kontinentes und verschwand gegen den Rand der westlichen Halbkugel in einer Unzahl blauer Punkte, die aus dem weißen Ozean auftauchten.
»Ja, einfacher ist es«, bemerkte der alte Herr trocken.
Percy klappte das Buch zu und stellte es neben seinen Stuhl.
»Und jetzt, Mr. Templeton, was wird zunächst geschehen?«
Der alte Tory-Staatsmann lächelte.
»Weiß Gott«, sagte er, »wenn der Osten sich entschließt, sich zu regen, können wir nichts machen. Ich weiß überhaupt nicht, warum er sich noch nicht erhoben hat. Ich glaube, die Ursache liegt in religiösen Differenzen.«
»Europa wird sich nicht spalten?«, fragte der Priester.
»Nein, nein. Wir wissen jetzt, wo auf unserer Seite die Gefahr ist. Und Amerika wird sicherlich auf unserer Seite sein. Aber, wie dem auch sei, Gott helfe uns — oder Ihnen, möchte ich eher sagen —, wenn das Reich sich regt, es kennt nun endlich seine eigene Stärke.«
Stillschweigen herrschte für einige Momente. Ein schwaches Zittern ging durch den Raum; eine der Riesenlokomotiven passierte den über ihnen gelegenen breiten Boulevard.
»Prophezeien Sie!« brach Percy das Schweigen. »Ich meine, bezüglich der Religion.«
Mr. Templeton tat einen langen Atemzug aus seinem Apparat; dann nahm er die Unterhaltung wieder auf.
»Kurz gesagt«, begann er, »wir haben drei religiöse Mächte — den Katholizismus, den Humanitarismus und die Religionen des Ostens. Was die Letzteren betrifft, kann ich nichts prophezeien, wenn ich auch glaube, dass schließlich die Sufis Sieger bleiben werden. Etwas wird geschehen; der Esoterizismus — und damit der Pantheismus — schreitet mächtig voran; und die Verschmelzung der chinesischen mit der japanischen Dynastie wirft alle unsere Berechnungen über den Haufen. Aber, und daran ist kein Zweifel, in Europa und Amerika vollzieht sich der Kampf zwischen den beiden anderen. Wir können alles Übrige beiseitelassen. Und, wenn Sie wünschen, dass ich meine Meinung sage, ich glaube, dass, menschlich gesprochen, der Katholizismus rasch zurückgehen wird. Es ist vollkommen wahr, dass der Protestantismus tot ist. Die Menschheit hat endlich erkannt, dass eine übernatürliche Religion eine absolute Autorität erfordert, und dass die Freiheit in Glaubensfragen nichts anderes ist, als der Beginn der Zersetzung. Und ebenso wahr ist es, dass, nachdem die katholische Kirche die einzige Institution ist, welche für sich übernatürliche Autorität mit all ihren erbarmungslosen Konsequenzen in Anspruch nimmt, sie allein die Anhängerschaft so ziemlich aller Christen besitzt, die sich noch irgend einen übernatürlichen Glauben bewahrt haben. Es gibt wohl einige Besserwisser, besonders in Amerika und bei uns, aber sie kommen nicht in Betracht. Das ist alles ganz gut; aber andrerseits dürfen Sie nicht vergessen, dass der Humanitarismus entgegen den Erwartungen aller im Begriff ist, selbst eine, wenn auch der übernatürlichen entgegengesetzte, Religion zu werden. Er ist nichts anderes, als Pantheismus; er schafft sich unter dem Deckmantel der Freimaurerei einen eigenen Ritus, er hat sein eigenes Credo: ›Gott ist der Mensch‹, und so fort. Er bietet daher religiösem Forschen in gewisser Beziehung wirklichen Stoff, er idealisiert, ohne dabei irgendwelche Anforderungen an geistige Fähigkeit zu stellen. Dazu kommt, dass ihm alle Kirchen und Kathedralen, die unsrigen ausgenommen, zur Verfügung stehen, und dass man dort endlich angefangen hat, dem Gefühle Rechnung zu tragen. Es ist ihm außerdem möglich, seine Symbole zur Schau zu tragen, was wir nicht dürfen. Ich glaube, in spätestens zehn Jahren wird er gesetzlich anerkannt sein.
Nun bedenken Sie, dass wir Katholiken bereits abnehmen; seit mehr als fünfzig Jahren gehen wir stetig zurück. Nach meiner Schätzung machen wir ungefähr ein Vierzigste! Amerikas aus, — und das ist das Resultat der katholischen Bewegung vom Anfang der zwanziger Jahre. In Frankreich und Spanien existieren wir nicht mehr, geschweige denn in Deutschland. Wir halten allerdings unsere Stellung im Osten, aber selbst da bilden wir ein halbes Prozent — die Statistiken sagen es wenigstens — und dieses ist sehr verstreut. In Italien. Es ist richtig, Rom gehört wieder uns, das ist aber auch alles; hier haben wir das gesamte Irland und ungefähr einen Katholiken auf sechzig Einwohner in England, Wales und Schottland, aber wir hatten noch vor siebzig Jahren einen auf vierzig. Dazu kommen die enormen Fortschritte der Psychologie, die seit mindestens einem Jahrhundert sich direkt gegen uns richten. Anfangs, sehen Sie, herrschte der reine und nackte Materialismus, — dieser versagte mehr oder weniger, — er war zu roh, — bis ihm die Psychologie zu Hilfe kam. Nunmehr beansprucht die Psychologie das ganze übrige Gebiet, und der Sinn für Übernatürliches scheint sich für jene zu erklären. So stehen die Dinge. Nein, Father, wir nehmen ab; und wir werden weiter abnehmen, und ich glaube, wir müssen jeden Moment auf eine Katastrophe gefasst sein.«
»Aber —«, begann Percy.
»Sie halten das für die Schwäche eines alten Mannes, der am Rande des Grabes steht. Nun, es ist, wie ich denke. Ich sehe keine Hoffnung. In der Tat, es scheint mir sogar, dass gerade jetzt etwas Unerwartetes über uns hereinbrechen wird. Nein, ich sehe keine Hoffnung, bis —«
Percy blickte rasch auf.
»Bis unser Heiland wiederkehrt«, sagte der alte Staatsmann. —
Father Franzis seufzte abermals und Schweigen trat ein.
»Und der Fall der Universitäten?«, fragte Percy nach einer Weile.
»Mein lieber Herr, das war genau wie beim Fall der Klöster unter Heinrich VIII. — dieselben Ergebnisse, dieselben Beweisgründe, dieselben Zwischenfälle. Sie waren die Bollwerke des Individualismus, wie die Klöster jene des Papsttums waren, und sie wurden mit derselben Scheu und dem gleichen Neid betrachtet. Dann begann die gewöhnliche Art von Bemerkungen über die Menge des dort getrunkenen Portweins, und sogleich sagte man, die Universitäten hätten sich überlebt, dass ihre Insassen Mittel und Zweck verwechselten, — und man hatte sehr viel mehr Grund, das zu sagen. Jedenfalls, wo übernatürlicher Glaube besteht, sind Klöster eine einfache Konsequenz desselben; der Zweck einer rein weltlichen Erziehung aber ist wohl die Schaffung von etwas Wahrnehmbarem — entweder Charakter oder Kenntnissen; und es kam dahin, dass es unmöglich mehr bewiesen werden konnte, dass die Leistungen der Universitäten deren Existenz gerechtfertigt hätten. Die Unterscheidung zwischen ον und μη7 ist noch nicht Zweck an sich, und die Menschen, die durch ein solches Studium gebildet wurden, waren nicht das, was das England des Zwanzigsten Jahrhunderts brauchte. Und ich möchte nicht einmal behaupten, dass dieselben etwa mir besonders entsprachen (und ich bin immer ein unentwegter Individualist gewesen) — ausgenommen vielleicht durch ihr Pathos.«
»Ja?«, sagte Percy.
»O, an Pathos fehlte es am allerwenigsten. Die Hochschulen von Cambridge und die Kolonialakademie von Oxford waren die letzte Hoffnung, und endlich gingen auch diese ein. Die alten Herren Professoren, die ›Dons‹, zogen mit ihren Büchern umher, aber niemand fragte mehr nach ihnen, — sie waren zu einseitig theoretisch; einige landeten in Armenhäusern ersten oder zweiten Grades, um andere nahmen sich mitleidige Geistliche an, auch wurde ein Versuch gemacht, sie gemeinsam in Dublin unterzubringen, aber auch dieser scheiterte, und bald hatte man ihrer ganz vergessen. Die Gebäulichkeiten wurden, wie Ihnen ja bekannt, für alle möglichen Zwecke verwendet. Oxford war dann für einige Zeit Maschinenfabrik, und Cambridge eine Art staatliches Laboratorium. Ich war ja seinerzeit, wie Sie wissen, selbst in Kings College, und darum hätten diese Dinge für mich nicht schrecklicher sein können; immerhin freut es mich, dass wenigstens die Kapelle offenblieb, wenn auch nur als Museum. Es war wirklich nicht hübsch, in den Chorstühlen anatomische Präparate aufgestellt zu sehen. Nun, ich denke, viel hässlicher war es auch nicht, als Stolen und Torröcke darin hängen zu sehen.«
»Und was geschah mit Ihnen?«
»O, ich kam sehr bald ins Parlament und besaß zudem etwas eigenes Vermögen. Aber für manchen der anderen war es sehr hart; sie hatte eine geringe Pension, wenigstens alle diejenigen, die arbeitsunfähig waren. Und doch, ich weiß nicht, ich glaube, es musste so kommen. Sie waren ja nur wenig mehr als pittoreske Überbleibsel, die nicht einmal die Gnade religiöser Überzeugung hatten.«
Percy seufzte wieder und blickte in das Gesicht des alten Mannes, der, froh gelaunt, Erinnerungen alter Zeiten auffrischte. Plötzlich, das Thema wechselnd, fragte er: »Wie denken Sie hinsichtlich des europäischen Parlaments?«
Der alte Herr begann von Neuem.
»O! … ich denke, das wird auch noch kommen, wenn der richtige Mann gefunden werden kann, der es durchsetzt. Das ganze abgelaufene Jahrhundert drängte, wie Sie sehen, darauf hin. Und der Patriotismus ist schnell ausgestorben; aber er musste verschwinden, wie die Sklaverei und anderes unter dem Einfluss der katholischen Kirche verschwunden sind. Nun ist es geschehen ohne die Kirche und die Folge davon ist, dass die Welt im Begriffe steht, sich gegen uns zu wenden, es ist ein organisierter Antagonismus, — eine Art katholischer, allgemeiner Antikirche. Die Demokratie hat besorgt, was die göttliche Monarchie getan haben sollte. Wenn das Projekt verwirklicht wird, glaube ich, mag uns noch einmal so etwas wie eine Verfolgung bevorstehen … Aber ich wiederhole, vielleicht rettet uns die Erhebung des Fernen Ostens, wenn sie zustande kommt … Ich weiß nicht …«
Einen Augenblick noch blieb Percy ruhig sitzen, dann stand er plötzlich auf.
»Ich muss gehen, Mr. Templeton«, sagte er, sich nun der Weltsprache Esperanto bedienend, »es ist bereits nach neunzehn Uhr. Meinen besten Dank. Kommen Sie mit, Father?«
Dieser in seinem dunkelgrauen Gewand, das den Priestern zu tragen gestattet war, erhob sich ebenfalls und nahm seinen Hut.
»Also, Father«, begann der alte Herr nochmals, »kommen Sie wieder einmal, wenn ich Ihnen heute nicht etwa zu schwatzhaft gewesen bin. Vermute ich recht, Sie haben noch Ihren Brief zu schreiben?«
Percy nickte. »Die Hälfte besorgte ich schon heute Morgen«, sagte er, »aber ich fühlte, es fehlte mir noch ein weiterer Überblick, wie er zum völligen Verständnis unbedingt notwendig ist, und ich danke Ihnen herzlich, dass Sie ihn mir gegeben haben. Es ist wirklich eine große Arbeit, dieser tägliche Bericht an den Kardinal-Protektor, und ich denke schon daran, zu resignieren, wenn man es mir gestattet.«
»Mein lieber Herr, tun Sie das nicht. Wenn ich mir erlauben darf, es Ihnen ins Gesicht zu sagen, ich glaube, Sie besitzen sehr scharfen Verstand; und ehe Rom nicht allseitig unterrichtet ist, kann es nichts tun. Ich bezweifle, ob Ihre Kollegen hierin so genau wären, wie Sie.«
Percy lächelte, durch Heben seiner dunklen Augenbrauen abwehrend.
»Kommen Sie, gehen wir«, sagte er.
Die beiden Priester trennten sich an der Schwelle des Korridors, und Percy stand eine oder zwei Minuten, in die wohlbekannte Herbstlandschaft hinausblickend und sich bemühend, sie ganz zu erfassen. Was er dort unten gehört hatte, schien ihm so eigentümlich diese Vision glänzenden Gedeihens, die da vor ihm lag, zu beleuchten.
Es schien heller Tag zu sein. Künstliches Sonnenlicht hatte alles überwunden, und London kannte jetzt keinen Unterschied mehr zwischen Dunkelheit und Licht. Er befand sich in einer Art emaillierter Arkade, grob gepflastert mit einer Kautschukmasse, die den Fußtritt lautlos machte. Unter ihm, am Fuße der Treppe, strömte eine endlose Doppellinie von Leuten, durch ein Geländer getrennt, nach rechts und links hin, geräuschlos, abgesehen von dem Gemurmel der Esperantoworte, die sie während des Gehens austauschten. Durch die klaren, massiven Scheiben des öffentlichen Gangsteiges sah man auf eine breite, glatte Straße von dunklem Aussehen, nach den Seiten hin ansteigend und in der Mitte gefurcht, die bezeichnenderweise leer war. Und als er so dort stand, tönte ein Geräusch fernher von Alt-Westminster, gleich dem Summen eines Riesenbienenstockes und mit dem Näherkommen stärker werdend. Im nächsten Augenblick sauste ein durchsichtiges, nach allen Seiten Licht ausstrahlendes Etwas vorüber, und dann nahm das Geräusch wieder ab, in Summen und schließlich Schweigen übergehend, — der große Staatsmotor vom Süden war vorbeigerast, um die Post nach dem östlichen London zu befördern. Dies war eine reservierte Straße, nur Staatsfahrzeuge durften sie benützen, und auch diesen war eine Schnelligkeit von nicht mehr als hundert englischen Meilen in der Stunde gestattet.