Czytaj książkę: «Vier gewinnt»
Rike Waldmann
Vier gewinnt
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Messe – der Wahnsinn
Ein attraktives Angebot
Home, sweet Home
Im Büro und anderswo
Früchte des Zorns
Das Tagebuch
Unter Freunden
Der ganz normale Wahnsinn
Ein Konzept mit Konsequenzen
Es knallt – und: Es knallt
Weihnachten am Bodensee
Eis und heiß
Im Krisenmodus
Überraschung
Auf ein Neues
Ein Plan ist ein Plan ist ein Plan
Tage am See
Eine Geschichte mit Happy End
Glück am Bodensee
Ein neuer Tag
Alles – nichts – oder?
Pizzeria Roma
Alles auf Anfang
Neue Wege
Lena Michaelis und andere Sorgen
Am Set
Wie im Drehbuch
Es klärt sich so manches
Pläne und andere Überflüssigkeiten
Abschied und Aufbruch
Summer meets Winter
Ein Tortentraum
Ganz in Weiß?
Ein perfekter Deal
Neue Ufer
Endspurt
Eine unruhige Nacht
Himmel Numero Sieben
Messe – der Wahnsinn
Impressum neobooks
Messe – der Wahnsinn
„Es ist doch jedes Jahr der gleiche Wahnsinn“, Marlene drehte sich zu ihrer Kollegin Sandra um, die in der winzigen Kabine des Messestands versuchte, Wein- und Sektgläser unfallfrei auf einem Tablett zu platzieren.
„Ich sollte es ja nun nach zehn Jahren Frankfurter Buchmesse wirklich besser wissen, aber am Tag unseres Autorenempfangs kann ich einfach nie ein Outfit finden, zu dem flache Schuhe passen. Und dann bin ich regelmäßig völlig fertig, kurz bevor es losgeht.“
Sandras Mitleid hielt sich in Grenzen: Wie jedes Jahr trug sie auch heute halbwegs schicke, aber vor allem flache Stiefeletten zu ihrem blauen Hosenanzug und fühlte sich um sechzehn Uhr immer noch topfit. Aber mit einem Meter und fünfundsiebzig Zentimetern konnte sie sich das auch leisten. Marlene fehlten glatte zehn Zentimeter, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. Und die glich sie halt mit schicken Pumps aus. Sie hatte einfach keine guten Erfahrungen damit gemacht, zu Einmeterneunzig-Autoren aufzublicken und ihnen gleichzeitig Entgegenkommen beim Honorar abhandeln zu wollen.
„Warum musst du auch ausgerechnet auf der Buchmesse versuchen, in Honorarverhandlungen die Oberhand zu gewinnen?“ Sandra kannte ihre Freundin gut genug, um deren heimliche Strategien zu durchschauen. „Nächstes Jahr machst du hier nur Smalltalk und zurrst die Details einfach anschließend fest. Nüchtern und vom Büro aus. In Ballerinas.“
„Sagst du mir das in einundfünfzig Wochen, wenn ich mein Köfferchen packe, bitte noch mal laut und deutlich?“ Marlene seufzte und schlüpfte probehalber aus dem linken Schuh. Nein, da würde sie nie wieder reinkommen, wenn sie es sich jetzt bequem machte. Und in einer halben Stunde war hier der Teufel los. Dann hieß es lächeln, lächeln, lächeln. Und dabei nicht gequält aussehen. Sie hatte es bisher noch jedes Jahr geschafft. Also würde sie es heute wohl auch hinbekommen.
Marlene schnappte sich ihr Notizbuch und zog sich in die kleine Besprechungsecke zurück. Ein letzter Blick zur Vorbereitung konnte ja nicht schaden. Mindestens zwei der Autoren, die sich angekündigt hatten, waren knallharte Verhandler. Da musste sie ihre Argumente beisammenhaben. Und dann kam ja auch noch ihre ‚Lieblings‘-Herausgeberin, Frau Meyer-Wübbecke. Immer unter Strom, immer mit völlig unerfüllbaren Sonderwünschen, immer für eine Überraschung gut. Und leider sehr wichtig und eine echte Umsatzgarantin. Die musste sie auf jeden Fall zufriedenstellen, sonst würde sie es bei der Manöverkritik nach der Messe auszubaden haben.
Sie sah Peters zerknitterte Miene förmlich vor sich: Wenn ihm etwas missfiel, konnte ihr Chef seine Stirn in unglaublich viele Falten legen. Und man tat gut daran, die Quelle seines Missfallens möglichst umgehend zu beseitigen. Auch wenn er sonst als Vorgesetzter echt ein Glückstreffer war – man reizte ihn besser nicht.
Marlene liebte ihren Beruf und ging darin auf. Aber auf einen missgestimmten Peter konnte sie verzichten. Der ruinierte locker eine ganze Arbeitswoche.
„Wie viele Gäste haben sich eigentlich angemeldet?“, fragte Sandra aus dem Hintergrund. „Es wird doch bestimmt wieder voll, oder?“ „Rappelvoll. Vorgestern waren wir bei achtundsechzig Anmeldungen. Und du weißt ja: Manche kommen spontan dann doch noch, weil ein anderer Termin ausgefallen ist. Oder weil die Häppchen einen guten Ruf haben.
Zum Glück ist das fast meine letzte Amtshandlung auf der Messe. Morgen hab ich nur noch zwei Vorträge, die ich gern hören möchte. Und dann geht es ab ins Wochenende.“ Marlene war die Vorfreude anzuhören: ausschlafen, gemütlich frühstücken, vielleicht ein langer Spaziergang. Danach wäre sie für die nächste Arbeitswoche wieder gewappnet.
Sandra guckte neidisch. „Du hast es gut. Und während du dir mit deinem Lukas einen schönen Tag machst, darf ich hier an vorbeiziehende Horden Kugelschreiber verteilen und bis spät abends Bücher zusammenpacken.“ Tja, so war das, wenn man für den letzten Messetag eingeteilt war. Beliebt war das nicht. Das Fachpublikum war bereits zu Hause und die „Horden“, wie Sandra sie wenig liebevoll genannt hatte, bestanden aus begeisterten Buchliebhabern, die möglichst viele Promis sehen wollten und möglichst viele Bücher möglichst preiswert mit nach Hause nehmen wollten. Am letzten Tag waren die Verlage ja froh über jeden Band, den sie nicht wieder einpacken mussten.
Ehe die beiden Freundinnen sich weiter über das bevorstehende Wochenende austauschen konnten, brach auf der anderen Seite des Messestands ein kleiner Tumult aus. Was war denn da los?
„Oh, Prominenz im Anmarsch“, hauchte Sandra und bekam ganz rosige Wangen. „Guck mal, Marlene, den kennen wir doch!“ Marlene drehte sich um. In der Tat, da stand Stefan Sommer, bekannt aus Film und Fernsehen, Schwarm aller Schwiegermütter, inmitten einer Traube von Fotografen. „Na, der hat sich doch bestimmt verlaufen. Von uns kann er ja wohl nichts wollen.“ Marlene blieb gelassen. Ihr Verlag war auf Sachbücher und wissenschaftliche Publikationen spezialisiert. Wohl kaum die richtige Adresse für einen Promi, der sich als Schriftsteller versuchen wollte. Und noch weniger geeignet, um eine dümpelnde Karriere mit autobiografischen Informationen anzukurbeln.
„Nee, als Verlag kommen wir für den nicht infrage“, Sandra war da ganz ihrer Meinung. „Ich glaube auch kaum, dass er es nötig hat, als Autor zu dilettieren. Seitdem er den Hauptkommissar Wendrich spielt, kann er sich ja offenbar vor Angeboten kaum retten. Wahrscheinlich ist dies hier einfach der schnellste Weg zum Ausgang für ihn.“ Sandra holte das Handy aus der Tasche, um wenigstens ein Erinnerungsfoto von diesem denkwürdigen Besuch zu schießen. Da war sie Marketing-Profi. Das könnte man auf der Website posten. Es würde bestimmt ein paar Menschen zum Verweilen einladen. Und wer verweilt, kauft. Jedenfalls manchmal.
„Egal. Hauptsache, er ist wieder weg, wenn unsere Autoren hier aufschlagen. Sonst stiehlt er denen noch die Show. Und das mögen sie gar nicht.“ Marlene lachte. „Ich möchte nicht wissen, was Frau Meyer-Wübbecke unternimmt, wenn sie die ihr gebührende Aufmerksamkeit mit einem Fernsehfuzzy teilen muss.“
Der Pulk, der sich um Stefan Sommer gebildet hatte, löste sich langsam auf. Fotografen auf der Buchmesse hatten nicht ewig Zeit, sich einem Prominenten zu widmen. Dafür gab es einfach zu viele. Foto im Kasten – fertig. Er sah übrigens aus der Nähe betrachtet gar nicht schlecht aus, der Stefan Sommer. Marlene hatte in den letzten zehn Jahren auf der Messe viele Stars und Sternchen aus der Nähe betrachten können. Und meistens hatte sie festgestellt, dass der Bildschirm der Ausstrahlung offenbar guttat. Im wirklichen Leben waren die Idole häufig weit weniger eindrucksvoll: viel kleiner als gedacht, doch schon ziemlich faltig, mit künstlichem Lächeln im Gesicht und geschmacklos bis schlampig angezogen. Aber der hier …
Unauffällig musterte sie den Schauspieler. blonde, leicht wellige Haare, Dreitagebart, perfekt sitzende Jeans mit knackigem Hintern, lässiger Hoody, nettes Grinsen im Gesicht …
Moment mal. Grinsen im Gesicht? Marlene wurde rot. Der sah ja zu ihr rüber! Der hatte mitbekommen, dass sie ihn angestarrt hatte. Wie peinlich. Wie oberpeinlich. Sie drehte sich abrupt um und verschwand in der kleinen Kabine, die Sandra soeben verlassen hatte.
Durchatmen. War ja nichts passiert. Sie arrangierte Kekse auf kleinen Tellern, um ein Alibi für ihre Anwesenheit zu haben. Nicht, dass es irgendwen interessiert hätte.
Als sie nach wenigen Minuten wieder zum Vorschein kam, war niemand mehr zu sehen. Und dann ging der Rummel auch schon los. In der nächsten Stunde kam Marlene kaum zum Luftholen. Küsschen hier, Smalltalk da. Ein Prosecco mit dieser Autorin, eine Verabredung zur Durchsicht des neuen Manuskripts mit jenem Herausgeber. Business as usual.
Nach achtzehn Uhr leerte sich der Stand allmählich wieder. Die Leute wollten nach Hause. Sich umziehen, sich zum Abendessen einladen lassen, entspannen nach dem harten Tag. Marlene ging es nicht anders. Aber erst musste hier noch klar Schiff gemacht werden. Morgen früh würde dafür keine Zeit sein, da begann der Sturm pünktlich mit dem Öffnen der Tore.
Sie hatte gerade die letzten leeren Gläser aus den Regalen gefischt und die Prospekte aufgefüllt, als hinter ihr plötzlich eine dunkle Stimme ertönte: „Ich hatte ja keine Ahnung, dass Cheflektorinnen sich auch aufs Putzmanagement verstehen.“
Marlene wirbelte herum. So ein Depp hatte ihr jetzt grade noch gefehlt. Aber die saftige Entgegnung blieb ihr förmlich im Hals stecken. Das war doch – schon wieder Stefan Sommer. Sie starrte ihn wortlos an.
„Guten Abend“, sagte er höflich. „Sie sind doch Marlene Winter, nicht wahr?“ Marlene nickte stumm. Der kannte sie??? Es verschlug ihr die Sprache.
„Ich hab Sie vorhin schon erkannt, nach der Beschreibung, die mein Freund Andreas mir gegeben hat. Aber ich wollte dann doch bei einem ersten Kennenlernen lieber keine Presse dabeihaben.“
„Kennenlernen? Sie mich?“ Marlene riss sich zusammen. „Andreas? Äh, welcher Andreas?“ Stefan Sommer nickte und reichte ihr freundlich die Hand. „Richtig. Andreas Martens. Den kennen Sie doch, oder?“ „Ja, das ist ein Autor, mit dem zusammen ich schon einige Bücher gemacht habe.“ Marlene nickte. „Also, geschrieben hat er sie natürlich. Das ist ein Freund von Ihnen?“
„Ja, wir kennen uns schon seit Kindertagen. Und Andreas hat zu mir gesagt: ‚Stefan, wenn du wirklich schreiben willst, brauchst du eine gute Lektorin. Und die beste, die ich kenne, arbeitet beim Gärtner-Verlag. Das ist zwar vielleicht nicht die erste Adresse für einen Roman. Und woanders könntest du mit deinem Promibonus vielleicht mehr Honorar rausschlagen. Aber wenn es dir ernst ist, wenn dein Erstling gut werden soll, dann bist du bei Marlene Winter genau richtig.“
Marlene stand da und reagierte nicht. Sie blieb einfach stumm. Das passierte ihr äußerst selten. Nein, eigentlich war ihr das noch nie passiert. Aber ein derartiges Angebot hatte sie ja auch noch nie erhalten. Geschweige denn, erwartet.
Stefan Sommer deutete ihr Schweigen offensichtlich falsch. „Äh, ich verstehe natürlich, dass Sie sich mit einem Anfänger wie mir gar nicht beschäftigen wollen. Und so ganz Ihr Metier ist ein Roman ja vermutlich auch nicht. Aber ich dachte, ich versuch‘s einfach mal. Na ja …“ Nun wusste offenbar auch er nicht mehr so richtig weiter.
„Nein, nein, das ist es nicht. Ich bin nur einfach vollkommen überrascht. Bitte entschuldigen Sie.“ Allmählich gewann die Professionalität bei Marlene wieder an Boden. „Natürlich ist ein Buch von Ihnen für jeden Verlag ein Knaller. Und für unseren ganz sicher. Da würde ich zumindest nicht ablehnen, ohne das Manuskript vorher gelesen zu haben. Und es müsste schon grottenschlecht sein …“ Sie lächelte entschuldigend.
„Oh, wunderbar“, Sommer atmete auf. „Was halten Sie davon, wenn ich Sie zum Abendessen im Bayerischen Hof einlade und wir alles Weitere dort besprechen? Ich bin da untergebracht, deswegen wäre es für mich recht bequem.“ Marlene überlegte einen Moment. „Eigentlich bin ich völlig erledigt, aber da kann ich natürlich schlecht Nein sagen, ohne meinen Job aufs Spiel zu setzen.“ Marlene lächelte – das sollte ironisch klingen, aber es war auch ziemlich nahe an der Wahrheit. „Nur: Bayerischer Hof? Dann stehen Sie morgen auf jeden Fall in der Zeitung. Und ich bzw. der Verlag gleich mit. Keine gute Idee.“
„Da haben Sie natürlich recht. Ich bin ein Trottel. Haben Sie einen Vorschlag?“ „Wenn Sie Thai-Essen mögen? Da gibt es in der Nähe meines Hotels ein kleines Lokal. Und das wäre dann für mich recht bequem.“ Marlene grinste. „Es hat den Vorteil, dass heute dort keine Kollegen auftauchen, weil die alle beim Empfang des Börsenvereins sind. Und bezahlbar ist es für unseren klammen Verlag auch. Denn natürlich zahle ich das Essen. Dafür gibt es schließlich Spesen.“
Marlene übersah geflissentlich Sandras weit aufgerissene Augen, schnappte sich ihren Mantel und verließ den Messestand. Zusammen mit einem sehr attraktiven international bekannten Schauspieler, der ausgerechnet sie als Lektorin für seinen Debütroman wollte.
Ein attraktives Angebot
Während sie auf dem Weg zum Taxistand Smalltalk machte (natürlich fuhr ein Promi nicht U-Bahn), überlegte Marlene im Stillen, was genau ‚Andreas‘ seinem Kumpel Stefan wohl vorgeschwärmt haben mochte. Es fiel ihr aber absolut nichts ein, was in der Zusammenarbeit mit ihm besonders aufregend gewesen wäre. Sehr angenehm war es gewesen, er war nicht nur kompetent, sondern konnte auch gut schreiben. Solche Autoren waren für kleine Verbesserungstipps immer echt dankbar, während die weniger souveränen oft um jedes falsche Komma feilschten. Insofern erinnerte sie sich gern an die Zusammenarbeit. Aber spektakulär war da nichts gewesen. Vielleicht reichte es ja heutzutage schon zu etwas Besonderem, wenn man einfach nur seinen Job machte?
„In die Düsseldorfer Straße, bitte“, instruierte sie den Taxifahrer. Dann wandte sie sich an ihren Begleiter. Es ließ ihr einfach keine Ruhe. „Sagen Sie, was genau hat Ihr Freund Andreas denn so gelobt an mir? Mir will gar nichts Außergewöhnliches einfallen im Zusammenhang mit seinen Projekten.“
Stefan Sommer schmunzelte. „Nun, er publiziert ja zur Geschichte des Mittelalters. Und er hatte wohl das Gefühl, dass Sie wirklich gelesen und verstanden haben, was er da zusammengeschrieben hat. Das scheint nicht in jedem Verlag selbstverständlich zu sein.“ Aha, alles klar. Marlene entspannte sich.
„Und genau genommen“, fuhr der Schauspieler fort, „hat er vor allem versucht, mir die Idee komplett auszureden. Weil ich da unter besonderer Beobachtung des gesamten Feuilletons stehen würde. Weil ich mich nur blamieren könnte. Weil: Schuster, bleib bei deinen Leisten. Weil, weil, weil … Und ich gebe ja zu: Er hat nicht ganz unrecht. Ich weiß ja wirklich nicht, ob ich das hinbekomme.“
Marlene stutzte: „Ach, das Opus gibt es noch gar nicht?“ „In meinem Kopf schon. Aber auf dem Papier steht noch keine einzige Zeile.“
Das Taxi hielt. Marlene belastete ihr Spesenkonto, obwohl Stefan Sommer protestierte. Sie würde sich nicht einladen lassen. Das wäre unprofessionell.
Wenig später saßen sie in einer gemütlichen Ecke, in der wie durch ein Wunder noch ein Tisch für zwei Personen frei war. Die Erkältungswelle, die gerade durch Frankfurt schwappte, hatte auch ihr Gutes. Sie bestellten beide die Spezialität des Hauses, Gai Phad Prig. Das war gewürztes Hähnchenfleisch mit Peperoni, Frühlingszwiebeln, Champignons, Paprika, Knoblauch und Chili in Sojasoße, dazu gab es Jasmin-Reis. Das Ganze für Stefan Sommer scharf, für Marlene sehr scharf. Und ein Bier dazu, um die staubige Luft der Messehallen wegzuspülen.
„Also“, nahm Marlene den Faden wieder auf, als der freundliche Kellner die Getränke auf den Tisch gestellt hatte, „Sie wollen ein Buch schreiben, es steht noch keine Zeile davon, aber Sie suchen schon einmal einen Verlag und möchten meine Dienste als Lektorin in Anspruch nehmen. Habe ich das richtig verstanden?“ Der Autorennovize nickte. „Dann erzählen Sie mir doch am besten erst mal, worum es gehen wird. Zum Wohl!“ Marlene hob ihr Glas und prostete Stefan Sommer zu.
Der lächelte sie über sein Bier hinweg freundlich an, nahm einen großen Schluck und seufzte zufrieden. „Also, ehrlich gesagt: Dass ich heute sozusagen öffentlich darüber rede und zugebe, seit einiger Zeit diese fixe Idee nicht mehr loszuwerden, setzt mich natürlich unter Zugzwang. Ich möchte ja nicht in ein paar Monaten in der Klatschpresse lesen, es gebe da ein Gerücht, Stefan Sommer schreibe einen Liebesroman. Aber er habe den Mund wohl zu voll genommen und die Sache sei im Sande verlaufen.“
„Einen Liebesroman?“ Marlene schaute entgeistert. „Also, da sind Sie bei uns nun wirklich nicht an der richtigen Adresse.“ „Nein, na ja – es ist so …“, ihr Gegenüber holte tief Luft. „Es geht um die Geschichte von Mathilde Jäger. Die lebte im neunzehnten Jahrhundert und starb kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Unverheiratet. Denn als Leiterin einer höheren Mädchenschule in Berlin konnte sie natürlich nicht die liebende Gattin eines Rechtsanwalts sein. Oder die Gattin von überhaupt irgendjemand. Und das machte meinen Urgroßvater Friedrich Sommer eine Zeitlang sehr unglücklich. Er war nämlich dieser Rechtsanwalt. Nach dem Tod seiner Mathilde hat er im reifen Alter von dreiundfünfzig Johanna, eine junge Frau von zweiundzwanzig Jahren, geheiratet und ‚meinen‘ Zweig der Familie begründet. Aber zu seinem Sohn aus erster Ehe soll er ein herzliches Verhältnis gehabt haben. Die Geschichte wird in unserer Familie immer zu hohen Feiertagen erzählt, und vom Leben der beiden war ich schon als kleiner Junge fasziniert. Sie fanden dann nämlich doch einen Weg, um zusammen zu sein.“
„Als historische Arbeit wird schon eher ein Buch daraus, das in unser Programm passt“, Marlene dachte laut. „Aber eine wissenschaftliche Abhandlung wollen Sie ja offenbar gerade nicht schreiben?“ Sie schaute ihr Gegenüber fragend an.
Der antwortete nicht gleich, sondern schaute erst einmal erfreut dem Kellner entgegen, der sich mit zwei appetitlich aussehenden riesigen Tellern ihrem Tisch näherte. „Mann, hab ich einen Hunger. Seit dem Frühstück war irgendwie keine Zeit zum Essen. Das sieht verdammt gut aus.“ Stefan Sommer brauchte jetzt offenbar erst mal ein paar Gabeln voll Soulfood. Und Marlene ging es nicht anders, auch bei ihr hatte es über Mittag nur zu einem Schokoriegel gereicht.
In einträchtigem Schweigen fielen die beiden über ihr Abendessen her. Es war köstlich. Nach einigen Minuten seufzte Marlene genüsslich. Jetzt war sie wieder zu weiteren Überlegungen bereit. „Wir verlegen natürlich auch Sachbücher mit historischem Hintergrund. Da könnten Sie schon durchaus reinpassen.“
„Es freut mich, dass Sie das auch so sehen. Genau das hat Andreas nämlich auch gesagt, als ich ihm von meinem Fund berichtet habe.“ – „Ein Fund?“ Jetzt war Marlene ganz Ohr. „Was haben Sie denn gefunden?“
„Meine Großmutter ist im Frühjahr verstorben.“ „Das tut mir sehr leid“, Marlenes Mitgefühl war nicht gespielt. Sie konnte sich noch gut erinnern, wie sie vor zwei Jahren um ihre eigene Großmutter getrauert hatte, mit der sie wunderbare Kindheitserinnerungen verbanden.
„Ja, es war schwer für mich. Sie hat mich praktisch großgezogen, weil meine Eltern den ganzen Tag im Geschäft waren. Sie betreiben einen kleinen Schuhladen mit edlen italienischen Marken. Und hatten nie Zeit für mich. Zum Glück bin ich ein Einzelkind geblieben, schon damit waren sie überfordert.“ Hmm, besonders unglücklich sah Stefan Sommer eigentlich nicht aus.
Er schien Marlenes Gedanken zu lesen, denn er fuhr rasch fort. „Sie sind schon irgendwie großartig. Aber sie waren halt immer unterwegs: im Laden, auf Messen, in Italien, um die neuesten Trends aufzuspüren. Als ich älter war, haben sie mich manchmal mitgenommen. Das war toll. Dann hatte ich den ganzen Tag für mich und machte Florenz, Lucca oder Rom unsicher. Hab ganz ordentlich Italienisch gelernt in der Zeit.“ Stefan Sommer schob noch einen Bissen Huhn auf die Gabel. „Wenn wir mal zusammen waren, war es super, wie gesagt. Und für die ganze restliche Zeit hatte ich halt Oma. Die sorgte dafür, dass ich ordentlich ernährt wurde, dass meine Hemden sauber waren und dass ich wenigstens ab und zu mal Hausaufgaben machte. Wir haben uns geliebt.“
Er seufzte: „Als ich nach dem Abi auf die Schauspielschule wollte, hat sie für mich bei meinen Eltern ein gutes Wort eingelegt. Na ja, inzwischen haben die sich auch damit abgefunden, dass ich ihren Laden nicht übernehme. Ja, und im Frühjahr, Oma war inzwischen neunundachtzig, da ist sie gestorben und hat mir ihr Haus vererbt. Unser Haus. Ich wohnte da natürlich schon lange nicht mehr. War nur ein paarmal im Jahr zu Besuch dort. Und jetzt musste ich es ausräumen.“
„Das war bestimmt nicht leicht.“ Marlene sah ihn mitfühlend an. „Nein. Aber ich habe beschlossen, dort wieder einzuziehen: Ein wunderschönes Gründerzeithaus mitten in Köln, zentral und komfortabel. Für Oma war es eigentlich schon längst viel zu groß. Aber sie wollte nicht mehr umziehen. Was ich immer gut verstanden habe.“
Nachdenklich blickte Stefan Sommer auf seinen Teller. Da lag nur noch eine einsame halbe Knoblauchzehe herum. „Zufrieden blickte er Marlene an: „Bestellen wir noch einen Nachtisch? Ich liebe gebackene Bananen.“ Damit war er nicht allein.
„Als sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, erzählte Stefan schließlich den Rest der Geschichte: „Natürlich musste ich entrümpeln. Und renovieren. Und wie gut, dass ich nicht einfach ein Unternehmen beauftragt habe, sondern alles selbst einmal in die Hand genommen habe. In der Wäschekommode fand ich eine Blechschatulle. Eine alte Keksschachtel. Und darin ein dickes, handgeschriebenes Tagebuch. In Sütterlin, versteht sich. Das wird mich noch Nerven kosten. Auf der ersten Seite stand in Schönschrift: ‚Mein Leben, meine Liebe und meine Passion. Von Mathilde Jäger‘.
„Ein Tagebuch. Ein authentisches Zeitzeugnis“, Marlene war fasziniert. „Das ist ja fantastisch. Wollen Sie es edieren? Oder als Basis für ein beschreibendes Werk nehmen?“
„Das ist genau die Frage, für die ich Beratung brauche. Eigentlich möchte ich beides. Das Original sprechen lassen, aber den Leser und die Leserin nicht im Nebel stochern lassen. Ich denke, man muss da schon ein paar Infos dazugeben, damit es verständlich wird. Aber dröge Wissenschaft soll es natürlich nicht werden. Das könnte ich auch gar nicht.“
„Hmm, verstehe. Würden Sie es mir anvertrauen, damit ich mir ein Bild machen kann, bevor ich eine Empfehlung ausspreche?“ Jetzt hatte Marlene Blut geleckt und war ganz in ihrem Element. Sie bestellten noch ein zweites Bier und verließen das Restaurant erst, als der Kellner diskret begann, die Beleuchtung zu dimmen.
Draußen sagte Stefan Sommer: „Jetzt weiß ich, warum Andreas Sie mir empfohlen hat. Zum ersten Mal seit Monaten sehe ich das Ganze plastisch vor mir. Weil Sie die richtigen Fragen gestellt haben. Ich danke Ihnen sehr für die Zeit, die Sie mir geschenkt haben. Und jetzt bringe ich Sie zu Ihrem Hotel und rufe mir da ein Taxi.“
Marlene war es recht. Allmählich merkte sie doch, wie müde und kaputt sie inzwischen war. Kein Wunder, Mitternacht war bereits vorbei. Sie mussten nur einmal um die Ecke gehen, dann stand sie schon vor dem kleinen Hotel, in dessen Apartments der Verlag seine Mitarbeiter während der Messe immer unterbrachte. Zufrieden verabschiedete sie sich von Stefan Sommer. Das versprach eine runde Sache zu werden.