Zwischen Zeit und Ewigkeit

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Zwischen Zeit und Ewigkeit
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Richard Stiegler

Zwischen Zeit und Ewigkeit

Eine Entdeckungsreise durch die drei Ebenen des menschlichen Bewusstseins


© 2021 Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2021

Lektorat: Thomas Böhmer

Titelfoto: ©pixel2013/S. Hermann & F. Richter

Umschlaggestaltung und Satz: mediengenossen.de

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-370-9


Wichtiger Hinweis

Die Ratschläge und Übungen in diesem Buch sind von der Autorin sowie dem Verlag sorgfältig geprüft worden. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Bei Beschwerden sollten Sie auf jeden Fall eine Ärztin, Psychotherapeutin, Psychologin oder Heilpraktikerin Ihres Vertrauens zu Rate ziehen. Eine Haftung der Autorin oder des Verlages für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Im Bemühen um einen Beitrag zu achtsamer Gendergerechtigkeit wechseln generisches Maskulinum und generisches Femininum im folgenden Text ab, stets beginnend mit dem Femininum. Ist dies sprachlich nicht möglich oder inhaltlich nicht präzise, werden auch bloßes Femininum, Alternativauszeichnungen oder ein Binnen-I verwendet. Ist nicht inhaltlich explizit auf eine Geschlechtsidentität hingewiesen, stehen beide Formen stets für Personen beliebiger, im jeweiligen Kontext irrelevanter Geschlechtsidentität.

Die Seele ist geschaffen an einem Ort

zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit,

in die beide sie hineinragt.

Mit ihren höchsten Kräften

rührt sie an die Ewigkeit,

aber mit ihren untersten Kräften

berührt sie die Zeitlichkeit.

Meister Eckhart

Inhalt

Einleitung

Fragen über Fragen

Eine Entdeckungsreise

Kapitel 1

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Bewusstseinszustände und ihre Wirkung

Viele Rollen und die Frage nach der Identität

Wie die Dinge lebendig werden

Mit den Augen einer Libelle schauen

Nur eine Welt?

Die Schlüsselrolle des Bewusstseins

Kapitel 2

Die äußere Wirklichkeit – die Alltagsrealität

Eine Welt der Abstraktion

Wie wir eine äußere Wirklichkeit erschaffen

Die Fähigkeit der Zusammenarbeit

Wie die Alltagsrealität uns begrenzt

Ein kurzer Ausflug ins Gehirn

Ich und die Ich-Identität

Wo kommen unsere Ängste her?

Kapitel 3

Im Reich der Seele – die Seelische Realität

Der Fluss in uns

Eine innere Perspektive

Subjektivität und die Falle der Generalisierung

Erfüllung und das Verstehen

Das Wesen des Mangels

Was wir suchen, ist in uns

Die Tiefendimension der Seele

Motivation und Gestaltkraft

Eine fließende Identität

Ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten

Das Mysterium des Lebens

Kapitel 4

Am Grund aller Dinge – die Absolute Realität

Das Unermessliche

Phasen der Offenbarung

Die Ohnmacht im gegenwärtigen Moment

Wer wir sind

Nach innen fallen

Das Gewahrsein – eine eigene Welt

Losgelöst und frei

Unberührt und zeitlos

Einverstanden und heil

Empfangend und schöpferisch

Verbunden und allesdurchdringend

Demütig und dankbar

Kapitel 5

Vom Entstehen der Bewusstseinswelten

Die Verzahnung von individueller und kollektiver Entwicklung

Leben in der Einheit

Die Vertreibung aus dem Paradies

Wie die Welt entsteht

Sich in der Welt zurechtfinden

Wie wir zwei Welten erschaffen

Vom Funktionalen Ich zur Ich-Identität

Das Ich – ein Chamäleon

Innere Stabilität und Ich-Struktur

Primärerfahrungen der seelischen Entwicklung

Das erste und wichtigste Sinnesorgan

Das Hören als Tor zur Seele

Bewegung und Selbstausdruck

Natur als Seelenraum

Magische Phase und emotionale Kompetenz

Zusammenfassung und wie es weitergeht

Kapitel 6

Das Zusammenspiel der Ebenen

Das individuelle Bewusstsein

Eine dialogische Grundhaltung einnehmen

Wie wir uns auf Realitätsebenen fixieren

Das Anerkennen der Ebenen

Die Realitätsebenen im Tagesablauf

Projekte gestalten

Die Bedeutung des Absoluten für Projekte

 

Wenn wir krank werden

Der Ort, an dem wir heil sind

Es gibt nur ein Bewusstsein

Wie sich die Realitätsebenen durchwirken

Kapitel 7

Missverständnisse und Verwechslungen

Die Bedeutung von Gesetzmäßigkeiten

Das falsche Werkzeug benutzen

Kann der Glaube Berge versetzen?

Über das Missverständnis der Magie

Vom Wesen des Wunders

Sich in der Innenwelt verlieren

Ängste bei veränderten Bewusstseinszuständen

Gibt es Engel?

Als Jesus übers Wasser ging

Warum Gespräche manchmal so unbefriedigend sind

Zwischen Relativität und Fundamentalismus

Der Verlust der Bodenhaftung

Kapitel 8

Ein neuer Blick aufs Leben

Wachstum und Bildung

Sicherheit und Vertrauen

Wert und Vollkommenheit

Wissen und Weisheit

Freiheit

Verbundenheit und Liebe

Wer sind wir?

Zwischen Zeit und Ewigkeit

Anhang

Zitatquellen

Dank

Begriffsklärungen

Ergänzende und weiterführende Literatur

Zum Autor

Einleitung

Können wir Menschen wie Vögel fliegen? Ganz klar, natürlich nicht. Und doch kann ich mich an Träume erinnern, in denen ich mich auf wundersame Weise vom Boden lösen konnte und durch den Raum schwebte. Eine beglückende Erfahrung. Ist eine innere Erfahrung weniger wirklich als eine äußere?

Konnte Jesus übers Wasser laufen? So steht es doch in der Bibel geschrieben. Ist hier wirklich die physische Realität gemeint, oder ist die Geschichte eine Metapher für eine seelische Dimension? Oder beides?

Wenn in den heiligen Schriften steht, dass der Glaube Berge versetzen kann, heißt das, dass wir nur fest genug glauben müssen, um sogar große Berge verrücken zu können? Oder anders gefragt: Können wir aufgrund von Gedanken und Wünschen unser äußeres Leben oder das von anderen Menschen beeinflussen, ja vielleicht sogar erwünschte Situationen hervorrufen und kontrollieren? Können wir, wie es manche Menschen praktizieren, einen Parkplatz qua Gedankenkraft bestellen oder einen anderen Menschen heilen, wenn wir nur fest genug daran glauben? Mit anderen Worten: Haben wir magische Kräfte?

Sollen wir nicht auf der anderen Seite uns anvertrauen und hingeben? Heißt es nicht im Vaterunser: »Dein Wille geschehe«? Wenn sein Wille geschieht, wie kann es dann sein, dass ich versuche, ihm meinen Willen abzutrotzen? Wie weiß ich denn überhaupt, was sein Wille ist?

Gibt es Engel und geistige Wesen? Manche behaupten, dass sie Kontakt zu diesen Wesen hätten. Dass sie sie sehen und hören könnten. Sind diese Menschen schizophren, oder ist der Normalsterbliche, der nicht mit Engeln verkehrt, geistig blind?

Wenn ein Erwachter wie Sri Nisargadatta Maharaj, angesprochen auf das Leiden in der Welt, antwortet: »Nichts geschieht«, ist er dann erwacht oder herzlos und abgestumpft? Wenn Menschen in der Meditation in Räume eintauchen, in denen sie mit leuchtenden Augen schildern, dass alles zutiefst in Ordnung sei, spalten sie dann etwas ab, oder sind sie verrückt geworden? Gibt es für diese Menschen kein Leiden mehr? Würden sie das auch noch sagen, wenn sie in der Zeitung über die Kriege und Hungersnöte dieser Welt lesen?

Ist eine Person, die über viele Jahre an einem Trauma, also an einer seelischen Verwundung, leidet und dann plötzlich die Erfahrung macht, dass sie zuinnerst heil ist und sie hier niemals verletzt wurde und niemals verletzt werden kann, in Zukunft immun gegen Verletzungen? Und wenn sie doch wieder psychisch oder physisch verletzt wird und Schmerz empfindet, war dann die Erfahrung des Heilseins eine schöne Illusion?

Wie ist das zu bewerten, wenn Menschen in ein Meditationsretreat gehen und dann nach Tagen der Stille eine universale Liebe zu allen Wesen fühlen, lieben sie dann jeden Menschen gleich? Könnten sie jede Person heiraten? Oder können sie dann nicht mehr heiraten, da sie eine Person nicht mehr ausschließlich lieben können und daher eine Bindung zu einer Person nicht mehr möglich ist?

Wie ist das überhaupt mit den Bedürfnissen? Wir alle haben doch individuelle Bedürfnisse und brauchen Nahrung, Wärme, seelische Zuwendung und vieles mehr? Wenn, wie Buddha sagt, wir das Leiden überwinden können und in Räume der absoluten Freiheit und ­Verbundenheit ­eintauchen können, in denen es offenbar kein Leiden mehr gibt, oder vielleicht sogar nur noch Glückseligkeit, so wie manche Erwachte es ausdrücken, haben wir dann keine Bedürfnisse mehr oder sind sie dann alle erfüllt? Leben wir dann in einem inneren Schlaraffenland?

Ist nicht laut dem Buddhismus das Höchste, was ein Mensch verwirklichen kann, die nonduale Dimension des Gewahrseins? Wenn diese Art von spiritueller Verwirklichung die eigentliche Krönung des menschlichen Lebens darstellt, was bedeutet das dann für unsere Kinder? Sollen wir ihnen sagen: »Vergesst die Schule und das Lernen, gründet keine Familien, mischt euch nicht in die Politik ein und engagiert euch nicht in der Gesellschaft?«

Sagt nicht Buddha, dass es ein getrenntes, individuelles Selbst nicht gibt? Dass der Ich-Gedanke die Grundillusion des Menschen ist, die allem Leiden zugrunde liegt? Wenn unsere wahre Identität grenzenlose Verbundenheit ist, oder anders gesagt, wenn ich alles bin, was sage ich dann im Alltag, wenn ich nach meiner Identität gefragt werde? Soll ich weiterhin mit meinem individuellen Namen unterschreiben? Bin ich dann überhaupt noch persönlich verantwortlich, wenn es kein individuelles Selbst gibt? Auch dann nicht, wenn mir ein Fehler unterlaufen ist oder ich jemanden verletzt habe? Sagt nicht C.G. Jung andererseits, dass es um die Individuation – die Selbstverwirklichung – des Einzelnen geht? Gibt es also doch eine Individualität?

Fragen über Fragen

Wer sich diesen Fragen ernsthaft stellt und Erfahrungsdimensionen, die widersprüchlich sind, als menschliche Lebenswelten zulässt, wird wahrscheinlich zunächst in Verwirrung geraten. Betrachten wir nur einmal die letzte Frage: Wie kann es sein, dass wir uns einerseits so deutlich im Alltag als Individuum wahrnehmen und dieses sogar uneingeschränkt als das Zentrum unserer Welt behandeln? Ist es nicht sogar so, dass wir es verteidigen, falls es bedroht ist? Und was bedeutet es dann, dass wir andererseits in tiefer Meditation erfahren können, dass es kein Ich gibt? Ist das nicht zutiefst widersprüchlich?

Mein eigener Weg führte mich zunächst als noch junger Erwachsener in Selbsterfahrungsgruppen, in denen es viel um Gefühle und Bedürfnisse ging. Wahrhaftige Begegnung mit anderen schien mir damals ein Lebenselixier zu sein, das auf mich zutiefst sinnstiftend wirkte. Obwohl ich bereits zu diesem Zeitpunkt meditierte, war mir die Dimension des Gewahrseins mit seiner unbedingten Präsenz, seiner Freiheit und Verbundenheit noch nicht zugänglich. Entsprechend suchte ich die Erfüllung in tiefen Gefühlen und intensiven Begegnungen.

Doch dann vertiefte sich mein spiritueller Weg, und die Meditation führte mich in die Stille des Bewusstseins, in dem alle Gefühle und Bedürfnisse verstummten. In manchen Momenten verschwanden das Ich und die äußere Welt vollständig. Es blieb nur noch SEIN. Gefühle, Bedürfnisse und auch Begegnungen, die zuvor für mich so wichtig gewesen waren, waren zwar weiterhin da, verloren aber in der Folge dieser Erfahrungen für eine ganze Zeit an Bedeutung (obwohl ich weiterhin als Psychotherapeut arbeitete). Die Erfüllung suchte ich im Lauschen auf das SEIN.

Doch nach ein paar Jahren musste ich in einer Krise mit meiner damaligen Frau feststellen, dass die Gefühle und seelischen Welten und die Beziehungen sehr wohl eine Bedeutung hatten und mich wieder einholten. Dies war für mich eine andere Art des Erwachens. Das Erwachen aus der Leugnung von seelischen Kräften, denen ich mehrere Jahre keine große Bedeutung mehr gab und entsprechend kaum mehr Beachtung schenkte. Jetzt, in der Beziehungskrise, kamen die Gefühle mit Macht in mein Leben zurück und es war nicht zu leugnen, dass es in mir seelische Kräfte gab, die ich vernachlässigt hatte und die jetzt ihr Recht forderten und mein Leben bestimmten. Es kam zu einer Trennung von meiner damaligen Frau.

Mit der äußeren Krise ging auch ein innerer Umbruch einher. Jahrelang erschien mir das Heilbringendste und Erfüllendste das Lauschen auf das SEIN. Hier eröffnete sich mir eine Dimension, die frei von inneren und äußeren Bedingtheiten war. Hier erfuhr ich mich als zutiefst heil und konnte einen zeitlosen Frieden schmecken. Jetzt stand dies alles infrage. Wie konnte es sein, dass ich mich so getäuscht hatte und unbeachtet meines inneren Friedens starke seelische Schattenanteile in mir schlummerten, die bei nächster Gelegenheit dämonengleich ausbrachen und über mich herfielen? War der innere Friede, den ich jahrelang erfuhr, eine Illusion? War vielleicht sogar mein Meditationsweg ein einziger Irrweg? Eine Flucht vor dem Leben und den Gefühlen?

Aber nein. Das konnte auch nicht stimmen. Denn in der Lebenskrise, in all den aufwühlenden Gefühlen und mitten in der schwierigen äußeren Situation, hatte ich weiterhin einen Zugang zur Stille. Es gab weiterhin Momente von großer Freiheit und tiefem Frieden. Momente, in denen alles zutiefst in Ordnung war, obwohl mein Leben äußerlich wie innerlich offensichtlich in tiefster Unordnung war.

Mit der Zeit erkannte ich zunehmend, dass sich der Widerspruch zwischen meiner aufgewühlten Gefühlswelt und der Dimension des Friedens dadurch ergab, dass es sich um zwei verschiedene Lebenswelten handelte, die nebeneinander in meinem Menschsein existierten. Wenn ich den Gefühlen und der äußeren schwierigen Situation meine Aufmerksamkeit schenkte, hatte ich mit starken Emotionen und offensichtlichen Problemen zu tun. Wenn ich aber den Fokus meiner Aufmerksamkeit auf die Stille lenkte und in den offenen Raum des Gewahrseins eintauchte, war alles friedlich und weiterhin in bester Ordnung.

Wie ein Schwimmer sich entscheiden kann, an der Oberfläche des Ozeans zu bleiben und dabei vielleicht mit starkem Wellengang zu kämpfen hat, oder aber hinabzutauchen, um dort in der Tiefe vollkommene Ruhe zu erfahren, so können wir kraft unserer Aufmerksamkeit die Ebene wechseln. Das bedeutet nicht, dass die andere Ebene nicht existiert, aber sie hat in dem Moment keine Wirkkraft auf uns. Beide Ebenen, die Oberfläche mit ihren Wellen und die Tiefendimension des Meeres, existieren parallel. Über kurz oder lang wird die Ebene aber, der wir gerade keine Aufmerksamkeit schenken und die wir damit ausblenden, uns wieder rufen und unweigerlich unsere Aufmerksamkeit fordern.

 

Diese Dynamik, die mir mit meiner Gefühlswelt widerfahren war, konnte ich auf eine andere Art bei manchen Meditierenden beobachten, die ausschließlich die Zurückgezogenheit der Meditation suchten und dabei der alltäglichen Welt mit ihren Verantwortlichkeiten immer weniger Bedeutung beimaßen. Am liebsten hätten sie die äußere Welt ganz abgestreift. Doch auch sie wurden über kurz oder lang von dieser wieder eingeholt und mussten sich ums Geldverdienen oder um andere äußere Belange kümmern. So wie ich von meiner Gefühlswelt gerufen wurde, wurden sie von der Alltagswelt mit ihren Notwendigkeiten gerufen und wachgerüttelt.

Was ist nun aber mit den Menschen, die keinen unmittelbaren Zugang zur Dimension der Stille haben? Oder den Menschen, die so stark in den Pflichten und Oberflächlichkeiten der Alltagswelt und im Funktionieren aufgehen, dass sie sogar ihre Gefühle als unvernünftige Störenfriede ansehen und im Grunde nichts damit zu tun haben wollen? Werden diese Menschen auch von den anderen Ebenen unseres Menschseins gerufen?

Wenn man sieht, wie häufig auch äußerlich höchst erfolgreiche Menschen, bei denen oberflächlich alles glatt läuft, in ihrem Leben irgendwann von einer Sinnkrise oder einem Burn-out heimgesucht werden, dann muss man diese Frage mit Ja beantworten. Immer wenn wir einer Realitätsebene (oder sogar mehreren) keine Aufmerksamkeit schenken oder sie übergehen, wird diese über kurz oder lang sich melden und mit Macht unsere Aufmerksamkeit einfordern.

Eine Entdeckungsreise

Diese Erfahrungen führten mich mit der Zeit zu der Erkenntnis, die Existenz von drei parallelen Lebenswelten anzuerkennen, die menschliches Leben ausmachen: die Alltagsrealität mit ihren äußeren Notwendigkeiten, die Seelische Realität der Gefühle und die Absolute Realität des Gewahrseins. Wenn man diese verschiedenen Aspekte des Menschseins erkennt und ihre Bedeutung für unser Leben anerkennt, ergibt sich daraus eine zwingende Aufgabe: Menschsein verlangt, dass wir alle drei Wirklichkeiten in den Blick nehmen und uns diese Welten erschließen.

Sich mit den Realitätsebenen des Menschseins zu befassen, ist dabei mehr als eine Notwendigkeit. Es ist ein großes Abenteuer – eine Entdeckungsreise –, bei der uns zunehmend bewusst wird, was unser menschliches Leben ausmacht, welche Kräfte hier wirken und welch beeindruckende Möglichkeiten unser Geist hat.

Wir werden feststellen, dass jede dieser drei grundlegenden Wirklichkeiten ganz eigene Potenziale beinhaltet, aber auch eigenen Gesetzmäßigkeiten und Begrenzungen unterliegt. Solange wir diese Welten mit ihren Besonderheiten nicht kennen und sie nur unbewusst nutzen, sind wir wie ein Wanderer in einem fremden Land, der die Sprache und Gebräuche nicht versteht. Wir leben zwar darin, können jedoch die Möglichkeiten in diesem Land nicht ausschöpfen und unterliegen zudem ständig Missverständnissen, die uns verwirren und verunsichern.

Wie tiefgreifend das Wissen um die drei Ebenen menschlichen Lebens sich auswirkt, merken wir erst, wenn wir uns längere Zeit mit ihnen befassen. Wir entdecken dann zunehmend, wie diese Welten immer anwesend sind und in jede Lebenssituation hineingreifen. So werden wir mit der Zeit erkennen, wie jede Frage, die uns bewegt, und jede Situation, die eine Antwort von uns fordert, aus den unterschiedlichen Realitäts­ebenen heraus vollkommen anders beantwortet werden würde. Wenn es aber mehrere Antworten gibt, dann kann es nicht darum gehen, nur eine Antwort zu leben und sie für die »einzig richtige« zu halten.

Genauso erhalten Begriffe, die auf den ersten Moment klar zu sein scheinen, wie »Gegenwart«, »Freiheit« oder »Liebe«, auf jeder Ebene eine neue Bedeutung, die vollkommen anders, ja sogar widersprüchlich sein kann. Missverständnisse lösen sich in Wohlgefallen auf, da wir erkennen, wie sich zum Beispiel in einem Gespräch zwischen zwei Menschen unbewusst die Ebenen kreuzen und es insofern zu keinem Verständnis füreinander kommen kann. Und alte spirituelle Texte, deren Bedeutung sich meist erst erschließt, wenn wir sehen, aus welcher Realitätsebene ­heraus sie geschrieben wurden, offenbaren sich auf eine neue Weise. Nicht zuletzt wird sichtbar werden, welche Schlüsselrolle das Bewusstsein in unserem Leben einnimmt.

Seit vielen Jahren begleitet mich nun das Interesse an der Relevanz der drei Realitätsebenen für unser Leben und es ergeben sich immer neue Facetten von Einsichten daraus. So hat sich zum Beispiel mein Verständnis eines spirituellen Weges, und daraus ergebend meine spirituelle Praxis, verwandelt. Zur Meditation des offenen Gewahrseins hat sich eine weitere zentrale Praxis etabliert: das Innere Erforschen, das sich mehr auf die Seelenrealität bezieht und heute fester Bestandteil all meiner Schweige­kurse ist. Beide Praxisformen habe ich in meinem zweiten Buch »Nach innen lauschen« beschrieben. Die Alltagsrealität hingegen, genauer die Relevanz einer spirituellen Grundhaltung für den Alltag, war das Thema meines dritten Buches »Im Einklang leben«.

Im vorliegenden Buch will ich nun endlich die Philosophie beleuchten, die seit vielen Jahren das Fundament meiner Arbeit und meines Lebens ist. Es ist mir ein echtes Anliegen, die drei Realitätsebenen in ihrem Facettenreichtum und in ihrer Relevanz für das menschliche Leben darzustellen, um ein differenziertes Verständnis dieser drei Ebenen zu ermöglichen. Letztlich geht es um nichts Geringeres als darum, in diesem Buch eine Landkarte des Bewusstseins zu erstellen.

Im ersten Kapitel werde ich zunächst die tradierte Sicht einer einheitlichen äußeren Welt, in der wir leben, infrage stellen und auseinandernehmen. Im Anschluss werde ich in Kapitel 2–4 die drei grundlegenden Realitätsebenen mit ihren Potenzialen und Grenzen beschreiben. Im Kapitel 5 will ich einen Geschmack davon vermitteln, wie diese Facetten unseres Menschseins in den ersten Jahren unseres Lebens entstehen und wie sie in dieser Zeit gefördert werden können. Danach in Kapitel 6 will ich darauf eingehen, wie die Ebenen sich wechselseitig beeinflussen und welche Haltung wir einnehmen müssen, damit sie auf eine konstruktive Weise für unser Leben wirkmächtig werden. In Kapitel 7 werde ich typische Missverständnisse und Schwierigkeiten erläutern, die sich ergeben, wenn wir die Ebenen nicht sauber auseinanderhalten. Und schließlich in Kapitel 8 werden noch einmal verschiedene zentrale Bereiche unseres menschlichen Lebens auf dem Hintergrund der drei Realitätsebenen betrachtet. Wir werden sehen, dass sie dabei in einem neuen Licht erscheinen.

Ich würde mir sehr wünschen, dass beim Lesen dieses Buches eine Lust geweckt wird, selbst die Weiten und Tiefen der inneren Welten zu erkunden und diese Dimensionen mit dem äußeren Leben in Einklang zu bringen. Und ich würde mir wünschen, dass das Wissen um die Realitätsebenen eine große Verbreitung findet. Mir scheint, dass dieses Wissen das Potenzial beinhaltet, viele Missverständnisse zu bereinigen und viele scheinbare innere und äußere Widersprüche aufzulösen. So kann dieses Buch eine Grundlage sein für einen integrativen und ganzheitlichen Bewusstheitsweg.

Richard Stiegler