Czytaj książkę: «Friedenstaube»

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Ričardas Gavelis

Friedenstaube

Sieben Vilniusser Geschichten

Aus dem Litauischen

von Klaus Berthel

ATHENA

Literatur aus Litauen

Band 1

Umschlagabbildung: »Taikos Balandis« von Marius Liugaila

Die litauische Originalausgabe erschien 1995 bei Alma Littera, Vilnius unter dem Titel »Taikos Balandis. Septyni Vilniaus Apsakymai«

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

1. Auflage 2012

Copyright © 1995 by Ričardas Gavelis,

Copyright © 2012 by ATHENA-Verlag,

Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen

www.athena-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Niehörster

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Print) 978-3-89896-211-7

ISBN (ePUB) 978-3-89896-826-3

Nachdem ich ein Jahr lang keine Kurzprosa mehr geschrieben hatte, spürte ich das magische Bedürfnis, mich erneut diesem Genre zu widmen. Der Titel des Bandes ist einer älteren Erzählung entnommen, traurig-sarkastisch »Friedenstaube« genannt. Damals brachte eine Vilniusser Taube dem Helden Hass und Vernichtungswut entgegen. Leider ist dieses verhängnisvolle Geschöpf hinübergeflattert in unsere Tage. Es gibt keine Eintracht unter den Fliederbäumen von Vilnius. Da verwandelt sich eine metaphysische Liebe in ein fiktives Verbrechen. Da schreiben Hunde blutige Tagebücher. Da gelingt es einem allwissenden Arhat, sich nahe der Karoliniškės in Luft aufzulösen. Und all das unter den gespenstischen Blicken von siechen, hinkenden Stadttauben, Sendboten eines Friedens, der keiner ist.

Ričardas Gavelis

Friedenstaube

Als ich ihn zum ersten Mal sah, diesen gefiederten Satan, war mein Verstand wahrscheinlich vernebelt gewesen. Ich hätte doch gleich kapieren müssen, und wie. Freilich war es entsetzlich heiß, bunte Ringe tanzten einem vor den Augen, der Kopf schien gleichsam mit trockenem Gras ausgestopft. Diese Hitze hat etwas Ungutes, dachte ich sogleich. Staub hatte sich über die Stadt gelegt, alle möglichen Gerüche waberten, ihnen allein schienen diese Temperaturen von Nutzen. Schweißgebadet kehrte ich heim, da wartete vor der Haustür bereits dieses Gestalt gewordene Verhängnis auf mich. Eine Taube, aber was für eine! Nicht mal richtig stehen konnte die, ständig kippte sie zur rechten Seite weg und musste sich mit dem Flügel abstützen. Eine rechte Missgeburt, die auch gar nicht daran dachte, wegzulaufen oder gar davonzufliegen. Die mich nur anstarrte. Weder Bösartigkeit noch Furcht waren in diesen gelben Knopfaugen zu lesen, eigentlich gar keine Emotionen. Und doch lief mir ein Schauder den Rücken hinunter. Mir schien, als blicke ein anderer da hindurch. Und dass man wahnsinnig würde, wenn man diesem Blick länger standzuhalten versuchte. Ich dreh’ ihr den Hals um, dachte ich unwillkürlich, aber die Beine gehorchten mir nicht. Ich konnte nur einen großen Bogen um die Erscheinung machen, mich zu nähern, fehlte mir der Mut. Widerlich war sie obendrein, dreckig, es konnte einem übel werden. Dass die Taube das rechte Bein nachzog, bemerkte ich zu dieser Zeit noch nicht.

Später bemerkte ich nicht nur das. Auch jetzt noch habe ich dieses Geschöpf vor Augen, dessen Vogelkrallen direkt auf das Herz zielen. Ein Wunder, dass ich überhaupt noch eins habe. Man hat sich alle Mühe gegeben, es mit scharfen und spitzen Gegenständen zu bearbeiten. Inzwischen ist es mit so vielen Narben übersät, dass ich gar nichts mehr spüre. So sieht es aus, ein rechtes Litauerherz. Schmerzresistent.

Ich schleppte mich also in mein Zimmer, noch immer verwirrt und erschrocken, die ganze Hitze von draußen nahm ich mit rein. Alle in der Umgebung hatten die Fenster sperrangelweit offen, saßen mit freiem Oberkörper, dösten vor sich hin. Auch ich machte mich gerade am Fenster zu schaffen, da erstarrte ich. Man wartet ja mitunter geradezu darauf, dass sich dunkle Prophezeiungen erfüllen, und hofft dennoch, ihnen irgendwie zu entgehen. Und da – ein Blitz aus heiterem Himmel.

Die Taube hockte bereits in meinem Zimmer.

Wie hatte sie das geschafft, lahmend, ohne zu fliegen? Aber den eigenen Augen durfte man trauen. Jetzt konnte ich sie genauer betrachten. Und wieder ein Schock. Die Federn waren zerzaust und mit Kot beschmiert, der Hals fast kahl und mit grindigem Schorf bedeckt, wo sich obendrein, was besonders ekelhaft war, winzige weiße Maden tummelten. Ich stürzte los, sie zu verjagen, aber die flog natürlich nicht, obwohl sämtliche Fenster geöffnet waren. Sie flüchtete unter einen Stuhl, dann unters Bett. Ich werde sie totschlagen, entschied ich abermals, dann den Kadaver in eine Zeitung wickeln und hinausbefördern. Sie nur nicht anfassen! Schon hatte ich ein schweres Buch aus dem Regal gezerrt, ich beugte mich hinunter, der Atem stockte, die Hände zitterten.

Und da flatterte mir dieses Scheusal direkt ins Gesicht.

Auf dieser Welt habe ich schon Dinge erfahren müssen, die ich wirklich niemandem wünsche. Aber so etwas noch nicht. Das schlug mir seine Stummelflügel mitsamt dem Gewürm darin um die Ohren, Aasgeruch nahm mir die Luft. Und dazu diese Augen, die erbarmungslos waren. Und kalt wie der Tod. Ich stand da, gelähmt vor Ekel und Entsetzen. Selbst die Zeit schien stehen geblieben.

Und mir war, als hätte mir jemand ins Ohr geflüstert, dass es von nun an jeden Tag so sein würde. Unwillkürlich bekreuzigte ich mich, wie man sich vor bösen Geistern bekreuzigt, obwohl ich wusste, wie naiv das war. Nur alte Betschwestern glauben an den lieben Gott. Alles, aber auch alles, was uns widerfährt, ist Menschenwerk, allein der Mensch ist zum Fürchten. Er stellt die Dämonen und bösen Geister, er allein erdreistet sich, Gott zu spielen. Jedes Tier bin ich zu lieben fähig, jedes. Mit den Tigern im Dschungel würde ich mich anfreunden, in einer Schlangengrube mich einrichten. Auch der Wolf ist gut, auch der Esel klug, auch die Schlange schön. Aber sollte es mich mit unsereinem auf eine unbekannte Insel verschlagen, es wäre nicht zum Aushalten. Lieber gleich einen Strick nehmen. Die wildesten Köter balgen sich, bis der eine obenauf ist, der andere ihm den ungeschützten Unterbauch zudreht. Im Vertrauen, dass der ihm nicht das Gedärm aus dem Leib dreht, ihm nicht die Kehle durchbeißt. Aber der Mensch – unbedingt. Er ist das fürchterlichste Wesen, und zwar deshalb, weil er Verstand hat. Die bösen Geister hat er erfunden, um ihnen die eigenen Schandtaten aufzubürden.

Längst hatte ich begriffen, dass diese Taube keine Taube war. Das roch nach Mensch, nach Menschengeist. Und es gab nur einen, der einen solchen Pesthauch verbreiten konnte – Kazimieras Rugaitis. Darauf bin ich nicht sofort gekommen, natürlich nicht. Erst nach und nach fügte sich alles zusammen.

Rugaitis hatte zuletzt ganz in meiner Nähe seinen Wohnsitz. Absichtlich, ich weiß es. So ein Herrenmensch hätte sich doch irgendwo in Antakalnis niederlassen können, standesgemäß, in der Nähe eines Kiefernwaldes. Die Gegend hier war ziemlich trostlos. Es heißt, die Wohnung dort habe er seinen Kindern vermacht, aber ich kenne den wahren Grund. Ich sollte ihn alle Tage zu sehen bekommen. Ein Leben lang hat er mich belauert, hat Vergnügen daran gefunden, mich zu quälen und zu demütigen. Ständig spazierte er hier vorbei, eine gnomenhafte Gestalt, den Bauch herausgestreckt, das kleine Gesicht rot und rund. Mit den Nachbarn pflegte er zu schwatzen, den Mädchen stieg er nach. Man muss sich das vorstellen, dieser alte Knacker und junge Mädchen. Mich beachtete er nicht, tat so, als sei ich Luft für ihn. Es gibt solche Leute: Hassen sie dich, dann blicken sie jedes Mal zur Seite, wenn du dich näherst. Nie können sie sich deinen Namen merken, verdrehen nur die Augen – na, der, wie heißt der gleich, dieser Dingsda. Und du weißt doch, dass dein Name und Vorname ihnen die Galle ins Blut treibt, ihnen schlaflose Nächte beschert. Schauspieler sind sie alle, aber Rugaitis war der größte. Der wechselte nicht nur die Hautfarbe wie ein Chamäleon, sondern auch noch die Augenfarbe und die Stimme dazu. Sogar seine schwarze Seele hat er drei Mal am Tag gewechselt.

Während dieser Hitzetage war er plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Ich meinte schon, ein paar Wochen Ruhe zu haben, aber von wegen. An seiner Stelle hat er mir diese Horrortaube beschert. Nie hätte ich gedacht, dass ein solches Geschöpf einen so hartnäckig verfolgen könnte. Keinen Schritt konnte ich allein tun, immer zuckelte das Mistvieh hinter mir her. Zuweilen startete es unbeholfene Flugversuche, um dann zu Boden zu stürzen, das war grotesk, aber komisch war es nicht. Hatte ich im Hof zu tun, schien es zunächst verschwunden, aber dann spürte ich, wie es mich aus irgendeinem Versteck heraus beobachtete. Das war entsetzlich, das raubte einem sämtliche Kraft. Meine Hände fühlten sich taub an, im Hirn schien ein Eisklumpen zu schmelzen. Bis in die Nacht hinein hielt mich die Bestie in Atem. Dann lag ich wach, wusste, sie hockt draußen auf dem Fensterbrett. Und wird mir im Schlaf den Garaus machen.

Längst war ich es, der sich versteckte. Auf leisen Sohlen schlich ich herum, nervös und gehetzt, in meinen eigenen vier Wänden. Ich sah in den Spiegel: Das Gesicht war bleich, die Wangen eingefallen, die Augen glänzten fiebrig. Man musste sich wehren, es gab sonst keine Rettung. Andere um Hilfe zu bitten, war sinnlos. In Vilnius kennt keiner seinen Nachbarn, weiß nicht mal seinen Namen. Mit wem sich auch anfreunden, wenn in der ganzen Gegend nur noch dreieinhalb Litauer übrig geblieben sind? Alles musste man allein tun, sich selbst Mut machen, sich selbst trösten. Und da fiel mir ein grünliches Pulver ein.

Ein sehr nützliches Pulver: Es tötete alles, was man wollte. Einen Wurm, eine Ratte oder einen Hund. Zwei Mal hab ich davon geträumt, Rugaitis eine Torte zu überreichen, die über und über mit diesem grünen Pulver bestreut war. Sogleich bereitete ich der Taube eine leckere Mahlzeit und gab so viel von dem Zeug dazu, dass es für ein Pferd hätte reichen müssen. Obwohl ich, nach allen Erfahrungen, partout nicht glauben wollte, dass es klappen könnte. Doch gierig machte sie sich darüber her. Mich überkam eine große Ruhe. Ich goss mir selbst einen ein und wartete darauf, dass sie krepierte. Oho, schon kippte sie etwas zur Seite, ich griff bereits nach einem Eimer. Doch als ich mich bückte, hätte sie mich beinahe wieder angefallen. Noch heftiger als zuvor. Sie schien regelrecht aufgedunsen und zischte wie eine Natter. Dachte gar nicht daran, zu krepieren. Nur das rechte Bein zog sie noch mehr nach. Es war alles umsonst. Es gab kein Entrinnen.

Wäre nicht dieser hinkende und schlurfende Gang gewesen, mir wäre vielleicht nie etwas aufgefallen. Erst allmählich begriff ich, dass ich Rugaitis lange nicht mehr gesehen hatte.

Er hatte sich mir in den Weg gestellt damals, an jenem Sommertag, und ist seitdem nicht mehr von meiner Seite gewichen. Es war ebenso teuflisch heiß gewesen, deshalb auch geriet ich in einen Hinterhalt. Fünf Jahre lang war es ihnen nicht gelungen, mich zu erwischen, bis dieser Gnom auftauchte. Hündisch hatte er auf der Lauer gelegen. Ich hatte mich eben mal seitwärts in die Büsche geschlagen, um zu pissen, da stand er plötzlich vor mir. »Ergib dich, du hirnloser Bandit!«, das waren seine Worte. Und dabei glotzte er mir auch noch zwischen die Beine. Jahrelang hab ich im Bunker gehockt, ihnen immer wieder ein Schnippchen geschlagen, nur um mich am Ende diesem Zwergpinscher ergeben zu müssen. Ich stand noch immer, die Hände erhoben, und der starrte immer an die gleiche Stelle, mir wurde schon kalt untenherum. Das war’s, Povilas, sagte ich mir. Sag deinem Ding da unten auf Wiedersehen, denn alle deine Kinderlein werden gleich in den Himmel fahren, bevor sie auch nur angefangen wurden. Es ist alles aus.

An diese fatale Szene erinnerte ich mich später immer wieder, im Lager und danach. Das war mein Grunderlebnis: Vor mir dieser mickrige Kerl, den man mit links hätte erledigen können. Und du stehst da, beim Pissen festgenommen, und kannst nichts tun.

Dieses Gefühl des Unvermögens, des Nichtstunkönnens zog sich fortan durch mein Leben. Damit stand ich auf, damit ging ich zu Bett. Zuerst einmal hatte ich keine Freiheit, überhaupt keine, nicht die geringste. Gras durfte ich fressen, halb verfaulte Beeren von den Sträuchern klauben. Und jeden Tag Rugaitis. Später konnte ich nicht arbeiten, wo ich wollte. Anfangs dachte ich, dass er sich nur in meiner Einbildung mit mir befasse. Doch es zeigte sich, dass er tatsächlich jeden meiner Schritte verfolgte, dieser verfluchte Stribas[1]. Selbst von denen ist keiner mehr geblieben, er ist der einzige in ganz Litauen. Mich auf der Stelle kaltzumachen, hat er damals nicht gewagt. So hat er wohl beschlossen, mir ganz allmählich die Luft abzudrehen. Wohin es mich seither auch verschlug, überall spürte ich seine Hand. Dazu ein lautlos geflüstertes »hirnloser Bandit«. Es gab Zeiten, in denen ich mich wieder unter Menschen wagte, zu vergessen suchte, dieses und jenes zustande brachte. Und dann tauchte er auf jeden Fall auf.

Es gibt da so eine Meinung, stammelte einer, dass diese Tätigkeit für Sie ungeeignet ist. Was für eine Meinung, fragte ich, welchen Namen hat diese Meinung? Aber man hätte gar nicht zu fragen brauchen, alles war klar. Von einem Rayon zog ich in den nächsten und er hinter mir her. Und je höher er kletterte auf der Karriereleiter, desto mehr suchte er mich nach unten zu drücken. Hatte ich erfahren, dass man ihm einen noch einflussreicheren Posten anvertraute, wusste ich: Er wird mich noch tiefer in den Dreck stoßen. Rugaitis hat meine Existenz ruiniert. Meine Frau ist früh gestorben, er ist schuld. Der Sohn kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben, ohne Rugaitis wäre das nicht passiert. Ich weiß nicht, wie er es schaffte, die Straße zu präparieren oder die Bremsen zu lockern, aber das ist seine Handschrift. Tropfen um Tropfen wollte er mich wie einen Stein aushöhlen. Bis ich ihm vor die Füße stürze und um Gnade winsele.

Mindestens tausend Mal hab ich ihn getötet. Beinahe jede Nacht. Tagsüber tat er das Seine, nachts zahlte ich es ihm heim. Oft war es schwer, den Abend abzuwarten, so viele Schuftigkeiten hatte ich wieder ertragen müssen. Dabei war es mein größter Wunsch, mal etwas Schönes zu träumen, eine blühende Wiese oder die Küste eines Meeres. Aber kaum war ich eingeschlafen, ging es schon wieder los. Und zuweilen erschien das seltsam lebensecht. War ich erwacht, blieb unklar, ob ich mich an einen Traum erinnerte oder an eine tatsächliche Begebenheit. Dabei wollte ich diesen Horror gar nicht träumen, wirklich nicht. Aber am Morgen danach fühlte ich mich besser. Ich wusste, ich würde den Kerl auch weiter auf dem Hals haben, aber die größte Wut war verflogen. Man hatte mir noch nicht alles genommen, wenigstens Träume waren mir geblieben. Am besten fühlte ich mich, wenn nicht ich persönlich ihm den Garaus machte, sondern das Schicksal selbst oder die Natur. Einmal war ich eine Biene, die wusste, dass ihr Stachel nur für einen tödlich sein konnte, andere würden den Stich gar nicht spüren. Ich musste mich vorsehen, nicht den Falschen zu erwischen und mein Gift zu vergeuden. Ich summte und brummte die ganze Nacht, dann hatte ich Rugaitis ausgemacht und ihn gestochen – er trank gerade in seiner Villa tschechisches Bier. Ein anderes Mal verkörperte ich ein von Perkunas[2] geweihtes Schwert, mit dem ein litauischer Recke Rugaitis die Brust durchbohrte. Er hatte unsere Burg an die Kreuzritter verraten. Selbst ein Stein bin ich gewesen, der ihm zentimetergenau auf den Kopf fiel. Ich stürzte aus großer Höhe und freute mich, wie sein Schädel immer näher kam. Solche Träume waren das. Ich war wirklich ein Stein, aber ich sah alles und konnte selbst mein Ziel bestimmen.

So kam es, dass Rugaitis und ich ewig miteinander im Clinch lagen. Er quälte mich tagsüber, ich rächte mich in den darauf folgenden Nächten.

Ein Tag verging wie der andere, die Hitze hatte sich gelegt, die Menschen atmeten leichter. Und ich verstand plötzlich das Geheimnis der hinkenden Taube. Es gab nur eine Erklärung: Rugaitis war gestorben, war endlich in die Grube gefahren. Aber mich gedachte er noch lange nicht freizugeben. Nicht umsonst heißt es, Tauben seien die Sendboten der Toten. Nun begriff ich, welchen Namen die hier hatte. Und Rugaitis’ Gang erkannte ich, der zog ebenfalls das rechte Bein nach. Er hatte damit gerechnet, mich zu seinen Lebzeiten kleinzukriegen. An die neuen Verhältnisse hatte er sich angepasst, ein Herrchen war er geworden, mit immer mehr Macht und immer größeren Befugnissen. Aber er vergaß eine einfache Tatsache: dass nämlich erst der Tod die endgültige Rechnung aufmacht. Der große Stribas war hinüber und ich als Sieger auf dem Kampfplatz geblieben, sogar noch recht gut bei Kräften. O, wie musste ihn das wurmen! Dass er es nicht geschafft hatte, was für ein Abteilungsleiter oder gar Halbminister er auch gewesen war. Daher fasste er den Entschluss, mich auch noch aus dem Grab heraus zu verfolgen. So etwas kann nur Kazimieras Rugaitis einfallen, ich kenne ihn wie keinen anderen. Aber er hat sich abermals verrechnet. Mich überkam beinahe so etwas wie ein Glücksgefühl. Jetzt war die Gelegenheit, ihn für immer loszuwerden. Man musste nur noch diesen gefiederten Satan vernichten. Ein Leben lang, so schien mir jetzt, hatte ich insgeheim auf diesen Augenblick gewartet, ohne es selbst recht zu wissen. Jetzt war die große Stunde gekommen. Man musste entschlossen und ohne zu zittern die Hand ausstrecken.

Und dann war es passiert. Man sagt, Katzen hätten sieben Leben, das hier hatte wohl zweihundert gehabt. Ich fetzte es so lange in Stücke, bis nichts mehr übrig blieb. Danach wusch ich mir eine Stunde lang die Hände mit der besten Seife, nicht mal das half. Erschöpft legte ich mich schlafen, von Freude oder Erleichterung keine Spur. Konnte der sich denn wirklich so leicht geschlagen geben? Was für eine Hundsgemeinheit würde er noch für mich in petto haben?

Als ich endlich eingeschlafen war, lief sogleich ein altbekanntes Szenario ab. Wieder zog ich aus, um mit Rugaitis abzurechnen. Aber selbst im Traum überkam mich diesmal ein mulmiges Gefühl. Schon deswegen, weil der immer noch da war. Diesmal war es ganz wie im Leben, selbst meine Stube erkannte ich. Ich bereitete mich vor, ihn in seiner Wohnung zu stellen. Nur in einem Punkt unterschied sich dieser Traum von der Realität. In Wirklichkeit wusste ich nie genau, wo er wohnte. Ich stand vor dem Spiegel, holte tief Luft, sah mir in die Augen. Erst dachte ich an eine Axt oder ein Messer, dann begriff ich, dass ich ihn mit bloßen Händen erwürgen musste. Seine letzten Zuckungen wollte ich zwischen den Fingern spüren. Ich stürzte in sein Zimmer wie der Racheengel persönlich, er brachte nicht mal ein Wort hervor. Sofort verstand er, was ihn erwartete. Früher habe ich ihn eher unwillig gekillt, zwanghaft gleichsam, aber diesmal fühlte ich eine seltsame Befriedigung. Er versuchte sich zu verstecken, schlüpfte in sämtliche Ecken, aber ich konnte mir Zeit lassen. Wusste ich doch, der war wieder mal dran, wie so oft. Wieder stürzte er davon, stieß einen Tisch um, Bücher aus seinem Regal polterten zu Boden. Ein paar Minuten spielte ich Katz und Maus mit ihm, dann griff ich ihn mir. Ich brauchte kaum stärker zuzudrücken – ein Halswirbel knackte und aus war’s. Ich setzte mich, um mir eine Zigarette anzuzünden, diese amerikanischen waren über den ganzen Tisch verstreut. Wenig Rauch, eine Schachtel »Prima« wäre mir lieber gewesen. Hier war nur die Verpackung schön.

Es dauerte nicht lange, da hämmerte es gegen die Tür. Das Schloss wurde aufgebrochen. Fünf Männer traten ins Zimmer, drehten mir die Arme auf den Rücken. Dann brachten sie mich irgendwohin, schlossen mich in eine ungeheizte Zelle ein. Ich saß auf dem Boden, rauchte weiter amerikanische Zigaretten und wartete auf das Ende des Traums. So einen Irrsinn hatte es noch nicht gegeben. Es wurde Nacht, dann wieder Morgen. Ein schnauzbärtiger Typ besuchte mich, betrachtete mich sehr lange.

»Wussten Sie eigentlich«, begann er, »dass Rugaitis schon den zweiten Monat nicht mehr aus dem Haus gekommen ist, dass er Krebs hatte, im letzten Stadium? Wussten Sie das? Verhören werden wir Sie später. Jetzt bewegen mich als Mensch solche Fragen. Warum haben Sie das getan? Wer hat Ihnen die Hand geführt?«

Ich antwortete nicht. Eine Weile saßen wir uns schweigend gegenüber, dann ging er. Nur einen Gedanken hatte ich: Warum ist dieser Traum immer noch nicht zu Ende? Dutzende Male hatte ich versucht aufzuwachen, es klappte nicht. Ich saß in einer kalten Zelle auf dem Boden, der Vorrat an Zigaretten ging langsam zu Ende, und verstand überhaupt nichts mehr. Auch früher dachte ich zuweilen: Was, wenn das alles wirklich passiert ist? Aber das kann doch nicht sein. Stirbt so ein hohes Tier allein in seinem Haus? Dem hätten sie ein Zimmer im besten Krankenhaus reserviert, ihn mit Blumen und Genesungswünschen überhäuft.

Ein Leben lang hab ich unter Kazimieras Rugaitis zu leiden gehabt, sogar seine widerliche Vėle[3] hat er mir nachgeschickt, mich in dieses Loch hier gesteckt. Nie hat er mich in Ruhe gelassen, er wird mich auch in Zukunft nicht in Ruhe lassen. Zurzeit weiß ich selber nicht, ob er noch lebt. Was, wenn der Schnauzbärtige die Wahrheit gesagt hat? Die Zigaretten waren zu Ende, so entschloss ich mich zu einem Selbstversuch: Wenn jetzt von irgendwoher eine neue Schachtel kommt, werde ich wissen, dass es ein Traum ist. Und wenn keine mehr kommt?

[1] Stribas: Angehöriger von Sondereinheiten des KGB, in der Nachkriegszeit bei der Partisanenbekämpfung eingesetzt.

[2] Perkunas: Donnergott, Hauptgott der heidnischen Litauer.

[3] Seele eines Verstorbenen (lit.).

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