Czytaj książkę: «Freiheit in der Demokratie», strona 3

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Zur integrativen Funktion des Verfassungsstaats

Der Nationalstaat als Verfassungsstaat steht im Fokus des vierten Teils. Menschenwürdige Freiheit und Demokratie gründen im Verfassungsstaat. In historischer Sicht ist bemerkenswert, dass der Siegeszug der Freiheitsidee im Gefolge der Französischen Revolution durch die Nationalstaatenbildung ermöglicht, begleitet und gestärkt wurde. Es waren die neu entstandenen Staaten, welche einheitliche bürgerliche Rechts- und Wirtschaftsordnungen, liberale Strafrechtsideen sowie einen Parlamentsvorbehalt für «Freiheit und Eigentum» schrittweise, oft auch annäherungsweise eingeführt und teilweise durchgesetzt haben. Dieser Staat steht angesichts von Globalisierung und Internationalisierung grossen Herausforderungen wie Migration, Sicherheit und Klimawandel gegenüber. In neuster Zeit, nach den Erfahrungen in der Coronapandemie und angesichts zunehmender Naturkatastrophen, gewinnt der Nationalstaat wieder an Attraktivität, oft gepaart mit einem wieder erwachten Souveränitätsmythos. Doch vermögen Schwarz-Weiss-Bilder – auch hier – nichts zur Diskussion über die Funktion moderner Staaten beizutragen. Der moderne Staat stellt weder ein Auslaufmodell dar noch bedarf er einer Re-Nationalisierung. Die Grundwerte des freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaats bleiben auf den Staat angewiesen. Freilich ist dieser heute einem epochalen Strukturwandel unterworfen, indem seine autonome Handlungsfähigkeit verringert und der Lösungsbedarf für globale oder grenzüberschreitende Probleme gesteigert wird. Der einheitsgeprägte Nationalstaat muss deshalb das «Nationale» in den Hintergrund und seine Verfassung in den Vordergrund rücken, so meine These. Als Verfassungsstaat basiert er auf einer multiplen gesellschaftlichen und politischen Vielfalt; er hat die Integration «seiner» unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen sowie deren Partizipation zu fördern sowie dem Bedürfnis der Menschen nach einer sich wandelnden Heimat positiv gegenüberzustehen. Das Ziel müssen entwicklungsfähige, binnendifferenzierte und integrative Verfassungsstaaten bilden, die auch zum Hort von Freiheit, Kultur und Frieden werden. Die Leistungen der Kultur für den Grundkonsens einer offenen, liberalen und vielfältigen Gesellschaft können kaum überschätzt werden. Gerade das Kreative und oft auch Anstössige in Kunst und Kultur bilden Brücken zu einem gemeinsinnigen Miteinander, zu Kohäsion und Kohärenz in der Gesellschaft.34 Dieses Bekenntnis zum Verfassungsstaat stellt keine Absage an Prozesse einer höherstufigen Integration dar, im Gegenteil. Ich meine aber, dass nur stabile Verfassungsstaaten das Fundament dauerhafter und erfolgreicher supranationaler Gemeinschaften zu bilden vermögen.

Freiheit gehört auch den Anderen

Freiheit und Menschenwürde

«Dass so wenige rot werden, wenn sie von der Freiheit reden, ist kein gutes Zeichen.»35 Friedrich Dürrenmatt

«Wenn einem die Frage gestellt wird, ob der Freiheit die Zukunft gehöre, dann muss man erwidern: etwas viel Besseres – die Ewigkeit.»36 Benedetto Croce

Im Zentrum des Liberalismus steht der Mensch und dessen Freiheit. Doch was ist Freiheit?37 Abraham Lincoln stellte lakonisch fest, die Welt habe noch nie eine gute Definition für das Wort Freiheit gefunden.38 So unterschiedlich «Freiheit» von verschiedenen Strömungen des Liberalismus verstanden wird,39 so unbestritten erscheint das alle Liberalen verbindende Ziel einer grösstmöglichen persönlichen Freiheit eines jeden Menschen in der Führung seines Lebens, die vereinbar ist mit der gleichen Freiheit jeder anderen erwachsenen Person. «Freiheit ist eine Frage der Lebenschancen des Einzelnen und eine Frage der Offenheit der politischen Ordnung» (Ralf Dahrendorf). Freiheit kann als Fähigkeit verstanden werden, ohne Zwang zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten auszuwählen und entscheiden zu können. Freiheit, in der abendländischen Tradition vor allem als Handlungsfreiheit verstanden, kann verschiedene Bedeutungsgehalte aufweisen. Im Alltag wird Freiheit als Abwesenheit von jeglichen Einschränkungen oder von allen Zwängen verstanden. Es handelt sich um eine Freiheit der Beliebigkeit. Dem steht die «grosse Freiheit» gegenüber, die sich dem totalitären Unrechtsstaat entgegenstellt, als individuelles und kollektives Vermögen, elementare Lebensfreiheiten gegen staatliche Bevormundung oder Gewaltanwendung abzuschirmen. Diese äussert sich vor allem im Schutz vor Verhaftungen, in der Bewegungsfreiheit, der Meinungs- und Pressefreiheit sowie der Religionsfreiheit. In der Zivilgesellschaft einer rechtsstaatlichen Demokratie wird Freiheit vor allem als Freiheit der persönlichen Lebensführung im Sinn möglichst grosser Selbstbestimmung,40 als Freiheit im Rahmen persönlicher Lebensverhältnisse sowie der sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen wahrgenommen und zunehmend auch als kommunikative Freiheit in der scheinbar grenzenlosen elektronischen Welt erlebt.41 Freiheit in diesem Sinn ist nicht in eins zu setzen mit Beliebigkeit, sondern Ausdruck der individuellen Persönlichkeit mit ihren existenziellen Bedürfnissen und Interessen – so wie auch die verfassungsrechtlich verbürgten Grundrechte die zentralen Voraussetzungen des individuellen Daseins schützen und Raum gewähren, welcher für die Entwicklung der Persönlichkeit in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft essenziell erscheint.

In der Schweiz kommt der Redewendung von der «Freiheit des Volkes» oder «der Freiheit des Landes» eine grosse Bedeutung zu. Diese Freiheit verlangt unter anderem die Wahrung von (relativer) Unabhängigkeit eines Gemeinwesens sowie den Schutz von Vielfalt, unterschiedlichen Mentalitäten und Kulturen. Obwohl diese kollektive Freiheit nicht im Fokus des Liberalismus steht, ergeben sich Berührungspunkte und Schnittmengen mit der individuellen Freiheit.

Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung

Selbstbestimmung in Freiheit ist das Kernanliegen des Liberalismus. Sie kann als Ausprägung eines Individualismus verstanden werden, der als Legitimationsgrundlage der eigenen, unabhängigen und verantwortungsgeprägten Lebensführung dient. Freilich wird Freiheit oft eher durch Negation als durch innere Überzeugung und sinnerfülltes, identitätserfüllendes Handeln begründet, etwa durch die Abwehr von unerwünschten oder lästigen Eingriffen in die eigene Lebenswelt sowie durch Konfrontation und Ablehnung, die sich vor allem gegen das Gemeinwesen und dessen Organe richtet. Wie zu zeigen sein wird, blendet das vorherrschende individualistische Anspruchsdenken aus, dass wir alle in einem Kontext leben und Freiheit nur im Plural und verantwortungsbezogen denkbar erscheint. Sie bedarf der Zuwendung zu Anderen, zu Mitmenschen und deren Anerkennung. Wie bereits mit Carsten Brosda zitiert, bilden gerade das Kreative und oft Anstössige in Kunst und Kultur Brücken zu einem gemeinsinnigen Miteinander, zu Kohäsion und Kohärenz in der Gesellschaft.42

In jüngerer Zeit wird oft im gleichen Atemzug mit der Selbstbestimmung auch die Selbstverwirklichung genannt: Der freie Mensch, so der Anspruch, soll sich nach seinen Wünschen «verwirklichen» können. Gegenüber dieser Vorstellung sind Fragezeichen zu setzen, denn unter Selbstverwirklichung wird Unterschiedliches verstanden.43 Selbstverwirklichung kann sich letztlich als unerfüllbare Verheissung erweisen. In der Multioptionsgesellschaft (Peter Gross) wächst die «Tyrannei der Möglichkeiten» (Hannah Arendt), sodass der Anteil an realisierbaren Optionen abnimmt und Frustrationen entstehen können. Immanuel Kant versteht Autonomie als die Möglichkeit und Aufgabe des Menschen, sich selbst als freiheits- und vernunftfähiges Wesen zu bestimmen und entsprechend aus Freiheit dem kategorischen Imperativ nach moralisch zu handeln. Davon unterscheidet sich eine Vorstellung von Freiheit, die im Sinn einer unbeschränkten Machbarkeit zur Erfüllung aller Lebenswünsche verstanden wird.44 Eine menschenwürdige und nachhaltige Idee der Freiheit ist in einer sich wandelnden Welt immer wieder neuen Herausforderungen und damit Veränderungen ausgesetzt.

Die Basler Philosophin Annemarie Pieper weist darauf hin, dass die Vorstellung eines unbeschränkten Rechts auf Selbstverwirklichung nicht unerheblich dazu beigetragen hat, dass Menschen einander diskriminieren und die Natur ausbeuten.45 Möglicherweise lässt sich die Wut von frustrierten, und (echt oder vermeintlich) vernachlässigten Menschen in dieser unerfüllten Erwartung auf schrankenlose Selbstverwirklichung verorten. Diese Erwartung richtet sich oft gegen Eliten und eine konstruierte politische Klasse, aufgeputscht von Populisten.46 Hat der «Pursuit of happiness» unermessliche Tore zu liberalistischen Extravaganzen und deren Torheiten geöffnet?47

Die Autonomie der oder des Einzelnen stellt ein unverzichtbares Ideal dar, das freilich oft nur unvollständig eingelöst werden kann. Selbstbestimmung ist auch von Faktoren abhängig, die individuell nicht beeinflussbar sind. Das Streben nach Autonomie trifft auch unzählige Hindernisse faktischer und rechtlicher Art. Doch das Ideal der Autonomie ist unverzichtbar und essenzieller Bestandteil der Selbstverantwortung. Fähigkeit und Möglichkeiten selbstbestimmten Handelns müssen gelebt und erkämpft werden. Dem demokratischen Gemeinwesen obliegt es, die Chancen autonomer Lebensführung aller zu fördern und zu garantieren.

Schliesslich: Menschen verwirklichen sich nicht alleine, sondern in einem bestimmten Umfeld und in unterschiedlichen Beziehungen. Dem «Sich-umeinander-Kümmern» kommt ein grosser Stellenwert zu. Empathie und Mitgefühl stehen einer isolierten Selbsterfüllung entgegen, was näher darzulegen sein wird. Es kommt im Leben, im Zusammenleben und bei der Gestaltung einer gemeinsamen Lebenswelt auch auf Vertrauen an, auf wechselseitige Anerkennung und Wertschätzung sowie auf das Gefühl und das Wissen, aufeinander angewiesen, voneinander abhängig und füreinander verantwortlich zu sein.48

Freiheitsinteressen

Die Interessen, individuelle Freiheit und Selbstbestimmung wahrnehmen zu können, reichen von der «Trivialität der Lebenszwecke» (Hermann Lübbe) bis hin zum «anarchischen Grundimpuls» (Ralf Dahrendorf in Anlehnung an Isaiah Berlin). Aufgrund geschichtlicher Erfahrung und angesichts autoritärer politischer Systeme der Gegenwart kann ein grundlegendes Freiheitsinteresse im Schutz vor staatlichem Machtmissbrauch und gegenüber Formen der Willkür erblickt werden. Das Tor der Freiheitsinteressen steht weit offen, doch wird mit der Anerkennung einer Vielfalt von Freiheitsinteressen noch nichts ausgesagt über die Gewichtung der Freiheitsinteressen, über deren Qualität. In den Freiheitsrechten kommen elementare Freiheitsanliegen und Schutzbedürfnisse zum Ausdruck – es geht um eine Unverletzlichkeit von Lebensbereichen, die gegen Machtausübung, gegen staatliche Eingriffe und andere Mächte und Einwirkungen in autonome Handlungsfelder abschirmen soll.49 Es darf heute als unbestritten gelten, dass den Freiheitsrechten der modernen rechtsstaatlich-demokratischen Verfassungen eine konstitutive, den demokratischen Staat legitimierende Tragweite zukommt. Sie wirken nicht nur staatsbegrenzend; aus ihnen kann auch eine Verpflichtung des Staates fliessen, positiv zur Verwirklichung der Grundrechte beizutragen. Gemäss Art. 35 Abs. 1 der Bundesverfassung müssen die Grundrechte in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen. Darauf ist später näher einzugehen. Den Grundrechten kommt eine legitimierende Funktion für die Verfassung einer rechtsstaatlichen Demokratie und für die ganze Rechtsordnung zu.50

Freiheitsrechte können zum Schutz der Grundrechte Anderer oder durch ein das Freiheitsinteresse überwiegendes öffentliches Interesse beschränkt werden.51 Die Kategorie des öffentlichen Interesses ist schwer zu definieren, weil diese nicht nur von der Bundesverfassung bestimmt wird und keinen Numerus clausus kennt.52 Einziges Kriterium bildet die Differenz zu einem rein privaten Interesse. Doch Anliegen von Privaten und solche der Allgemeinheit können sich decken. In den öffentlichen Interessen verbergen sich oft auch private Interessen.53 Bei diesen muss es sich allerdings um Interessen einer nicht abschliessend fassbaren Gruppe handeln, wie etwa von einer unbestimmten Vielzahl von Individuen, Verbänden oder Unternehmen.54 So liegt die Wahrung der individuellen Autonomie auch im öffentlichen Interesse, denn die gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung ist auf schöpferische Individuen und ihre Kooperationen angewiesen.

Willensfreiheit?

Selbstbestimmung setzt Willensfreiheit voraus. Aber gibt es überhaupt eine Willensfreiheit? Wie frei ist unser Wille wirklich? Die neuere Hirnforschung kommt zu unterschiedlichen Folgerungen. Die Thematik ist auch für den Liberalismus brisant, denn Verantwortung und Schuldfähigkeit hängen von einem freien Willen ab. Genügt unser subjektives Freiheitsbewusstsein, um Verantwortung zu begründen?55

Prominente Hirnforscher und Kognitionspsychologen bestreiten, dass es eine innere Willensfreiheit geben kann, etwa einen «freien» oder einen kausalbestimmten Handlungswillen. Freiheit sei eine Täuschung, ja ein Aberglaube. Die mentalen Zustände des Menschen, insbesondere seine Willensfreiheit, seien durch neuronale Zustände vollständig festgelegt. Diese – insbesondere von Wolf Singer, Richard Thaler und Daniel Kahneman vertretene – These eines Neurodeterminismus ist oft widerlegt worden.56 Doch können Ergebnisse der Hirnforschung überhaupt eine Definitionshoheit über Willensfreiheit, Schuld und Verantwortung erlangen? Nach dem Schweizer Philosophen Peter Bieri ist jeder freie Wille durch unser Denken und Urteilen «bedingt»; er folgt unserem Urteil und Entschluss. Der freie Wille sei eine Freiheit durch Nachdenken.57 Allerdings ist die menschliche Wahrnehmung fehleranfällig und vorurteilsbeladen. Offenbar nehmen wir zuerst wahr, was uns emotional entgegenkommt, wir orientieren uns zudem an bereits vorhandenen Vorurteilen und gemachten Erfahrungen – dies als Folge einer aufwendigen Verarbeitung der vielen auf uns einstürzenden Informationen. Und wir vertrauen jenen, die nach eigenem Empfinden eine höhere Wahrnehmungskompetenz besitzen. Andere Sichtweisen und Einsichten haben es demzufolge schwer.58 Die Verhaltensökonomik macht auch die Schwächen des Modells der rationalen Entscheidung deutlich. Menschen verhalten sich oft nicht rational, sondern ziehen zum Beispiel Standardverhalten vor oder ahmen die Aktivitäten Anderer in ihrer Umgebung nach.59 Das menschliche Handlungswissen ist begrenzt und bruchstückhaft, es unterliegt dem Paradoxon, dass mehr Wissen oft gepaart ist mit mehr Unwissen. Nassim Nicholas Taleb prägte den Begriff der «narrativen Verzerrung», mit dem er zum Ausdruck bringen will, wie falsche Geschichten über die Vergangenheit unsere Weltanschauungen und Zukunftserwartungen formen.60

Informationen werden für wahr gehalten, wenn sie häufig gehört oder gelesen werden. Falschinformationen bleiben umso mehr haften, als sie hohe emotionale Komponenten aufweisen und mit entsprechenden Schlagzeilen bewusst auf Erregung oder Empörung abzielen. Entscheidungen erfolgen unter begrenzter Rationalität. Routine, Erfahrungen in ähnlichen Situationen und vor allem Gefühle wie Gier, Angst, Lust oder Panik beeinflussen den Verstand, sodass sich dieser nicht von den Emotionen abkoppeln lässt. Es gibt offenbar keine Entscheidungen ohne Emotionen. Der Trumpismus darf als Beleg für diese Thesen angeführt werden.61 Der Neurobiologe Joachim Bauer plädiert für eine «Wiederentdeckung» des freien Willens zur «Selbststeuerung», wie er es nennt. Darunter versteht er eine «ganzheitliche Selbstfürsorge» als Kunst, zwei menschliche Eigenheiten miteinander zu verbinden: Affekte oder Impulse einerseits und die notwendigen Selbstkontrollen andererseits. Die Behauptung, die Existenz eines freien Willens sei experimentell widerlegt, erachtet er als unhaltbar. Dank den evolutionär entstandenen Konstruktionsmerkmalen des Gehirns, insbesondere dank dem präfrontalen Cortex, sind gesunde Menschen in der Lage, in einer gegebenen Situation Handlungsoptionen gegeneinander abzuwägen und sich zu entscheiden, auch wenn alle sozialen Verständigungsprozesse unausweichlich mit Beeinflussungen verbunden sind. Das Ziel muss es sein, diese mithilfe der Vernunft aufzudecken, zu erkennen und sich ihnen zu stellen. Ausserhalb dieser beeinflussten Verständigungsprozesse gibt es keine Wahrheit, denn diese ist immer nur das, auf was wir uns gemeinsam verständigen können.62 Der Empathie kommt eine grosse Bedeutung für das Überleben von Menschheit und Natur zu. Sie ist der Kern unseres Wesens und einer Kultur der komplexen Gemeinschaft.63 Zudem: Wer die Freiheit des Willens bestreitet, nimmt selbst diese Freiheit in Anspruch, was in der Philosophie einen «pragmatischen Widerspruch» genannt wird. Ihrer Skepsis zum Trotz führen die Neurodeterministen ein Leben in Freiheit und Verantwortung.64

Gelebte Freiheit

Freiheit muss nicht nur garantiert, sondern auch gelebt, geübt und praktiziert werden, wie Friedrich Schiller in seinem Schauspiel «Wilhelm Tell» anschaulich vor Augen führt.65 Die schweizerische Bundesverfassung proklamiert – in Anlehnung an eine Formulierung des Schriftstellers Adolf Muschg – in ihrer Präambel, «dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht». Die Verfassung geht davon aus, dass Freiheit nur insoweit sinnvoll ist, als eine tatsächliche Freiheit offensteht und praktiziert wird. Erfüllte Freiheit ist immer auch tätige Freiheit, nicht nur Chance des Handelns. Apathie kann Freiheit zerstören. Freiheit ist laut Carl Friedrich von Weizsäcker «ein Gut, das durch Gebrauch wächst, durch Nichtgebrauch dahinschwindet».

Menschenwürde als Basis der Freiheit

Die Freiheit des Liberalismus bedeutet nicht Beliebigkeit, sondern ist in der Menschenwürde verankert, die allen gleichermassen zukommt. Das ist die Ausgangsthese meines Freiheitsverständnisses. Nach Immanuel Kant ist Freiheit das «einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht». «Allein der Mensch als Person […] ist als Zweck an sich selbst zu schützen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten inneren Wert), wodurch er allen anderen vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt.»66 Die realen Möglichkeiten solcher Freiheit hängen nach Kant von der Überwindung gegebener Formen der Abhängigkeit und Fremdbestimmung ab, auch wenn diese eine gewisse Sicherheit zu bieten scheinen. Deshalb fordert Kant von jedem Menschen den Mut, sich seines eigenen Verstands zu bedienen.67 Nicht der Begriff der Menschenwürde ist entscheidend, sondern die Autonomie jedes Menschen, die sich in der rechtlichen und politischen Ordnung verwirklichen will. Sie stellt nicht etwas per se Feststehendes dar, sondern eine «Qualität der Zwischenmenschlichkeit», die immer wieder neu zu konkretisieren ist.68 Die Forderung nach Achtung und Schutz der Menschenwürde lässt sich nach Werner Maihofer «als Freiheitsraum der Selbstbestimmung zur Erhaltung und Entfaltung menschlicher Persönlichkeit verstehen, der für Liberale unantastbar bleiben muss gegenüber jeder Fremdbestimmung und allem Anpassungsdruck nicht nur eines übermächtigen Staates, sondern auch einer übermächtigen Gesellschaft».69

Es war der israelische Philosoph Avishai Margalit, der 1998 ein Plädoyer für eine Politik des Anstands («Decency») veröffentlicht hat. In einer anständigen Gesellschaft wird niemand von staatlichen Institutionen gedemütigt. Denn allen Menschen kommt Würde zu – als Ausdruck der Achtung, die Menschen aufgrund ihres Menschseins sich selbst entgegenbringen.70

Es darf heute als unbestritten gelten, dass die allen Menschen zukommende Würde zu achten und zu schützen ist. Darin sehen moderne Verfassungen – so auch die schweizerische Bundesverfassung in Artikel 7 – das Fundament aller Menschenrechte. Menschenwürde ist sowohl ein Kerngehalt aller Grundrechte als auch ein essenzielles Kriterium für ihre Konkretisierung. Als Grundnorm gerechter politischer Ordnung bildet sie die grundlegende Legitimationsbasis der rechtsstaatlichen Demokratie.71

Freilich erscheint es nicht einfach, die Menschenwürde inhaltlich zu definieren; es fällt leichter, sie negativ zu bestimmen, im Sinn eines Verbots entwürdigender Behandlungen wie etwa Sklaverei, Folter, Verletzung der persönlichen Integrität oder Erniedrigungen aller Art. Es geht um das nicht fassbare Eigentliche des Menschseins. Menschenwürde nährt sich aus vielen kulturellen Quellen und muss auch für Zukunftsmöglichkeiten und zukünftige Gefährdungen relevant sein.72 Für unseren liberalen Ansatz von besonderer Bedeutung erscheint die soziale Dimension der Menschenwürde, die von Jörg Paul Müller hervorgehobene «Qualität der Zwischenmenschlichkeit», die im Gedanken der Menschenwürde zum Ausdruck gelangt, auch beispielsweise gegenüber Fremden, Schwächeren oder Kranken. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO verlangt in Artikel 22, dass jeder, gestützt auf seine Würde, Anspruch darauf besitzt, in den Genuss der für seine Würde und die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen.

Auf die Versuche verschiedener Autorinnen und Autoren, einzelne Aspekte und Ausprägungen der Menschenwürde näher zu umschreiben, ist hier nicht einzugehen.73 Nach Jürgen Habermas stellt die Idee der Menschenwürde das begriffliche Scharnier dar, welches die Moral der gleichen Achtung für jeden Menschen mit dem positiven Recht und der demokratischen Rechtsetzung zusammenfügt.74 Peter Bieri hat eindrücklich die Vielfalt menschlicher Würde ausgebreitet, ohne der Gefahr eines Definitionsversuchs derjenigen zu erliegen.75 Er stützt sich auf drei Dimensionen der Würde ab: Wie behandeln mich die anderen? Wie stehe ich zu den anderen? Wie stehe ich zu mir selbst? Doch scheint Bieri die Würde nicht als Gut des Menschen zu verstehen, das ihm von niemandem und unter keinen Umständen genommen werden kann, sondern als eine bestimmte Art der Lebensführung, die auch misslingen kann.

Freiheit wurzelt in dieser, jedem Menschen unabhängig von seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten und seiner sozialen Stellung zukommenden, unverlierbaren Würde. Würde ist zudem nicht allein ein ethisch-philosophisch begründetes Menschenrecht, sondern kann auch als innerer Kompass verstanden werden, der uns in die Lage versetzt, uns in der Vielfalt der äusseren Anforderungen und Zwänge in der hochkomplexen Welt nicht zu verlieren. Umso wichtiger ist es, dass wir lernen, die Wahrnehmung der eigenen Würde zu stärken.76

Die amerikanische Rechtsphilosophin Martha Nussbaum postuliert schliesslich, dass Menschen nicht nur ihre Würde haben, sondern dass ihnen reelle Möglichkeiten offenstehen müssen, ein lebenswertes Leben zu führen, das ihrer Würde entspricht. Damit spricht sie die Kernaufgabe des Liberalismus an, auf die später näher einzugehen sein wird.77

Die ausgewählten Stimmen zur Menschenwürde belegen, dass deren Grenzen in der Praxis immer wieder umstritten und auszuhandeln sind, etwa in der modernen Biomedizin oder in den digitalen Einflussnahmen und Kontrollen. Was Menschenwürde im konkreten Fall bedeutet, was sie gebietet oder verbietet, ist in den Grenzbereichen der demokratischen Ausmarchung oder der justiziellen Entscheidung anheimgestellt.78 Ein bedeutungsvolles Beispiel für die Verwirklichung der Menschenwürde kann in der Rotkreuzbewegung erblickt werden. Sie setzt sich dafür ein, menschliches Leiden überall und jederzeit zu verhüten und zu lindern, Leben und Gesundheit zu schützen und der Würde des Menschen Achtung zu verschaffen.

In der Menschenwürde fundierte Freiheit lässt sich nicht reduzieren auf eine Garantie des Existenzminimums, dass alle Liberalen jedem Menschen zubilligen. Das blosse «Dach über dem Kopf» und eine überlebensnotwendige Nahrungsversorgung allein gewährleisten in aller Regel und auf Dauer keine menschenwürdige Selbstbestimmung und autonomen Entfaltungsmöglichkeiten. Sie bedeutet aber auch nicht nivellierende Wohlstandsangleichung an eine gesellschaftliche Mehrheit. Die in Artikel 41 der Bundesverfassung formulierten Sozialziele nehmen wesentliche Voraussetzungen einer würdigen Freiheitsentfaltung auf, namentlich in den Bereichen der sozialen Sicherheit, Gesundheitsversorgung, Arbeit, Wohnung, Bildung und Weiterbildung.

Die Anerkennung und Anrufung der Menschenwürde darf nicht zur Glaubensangelegenheit werden. Die Ausmarchung über den Bedeutungsgehalt der Menschenwürde im politischen Prozess soll nicht zu deren Sakralisierung führen.79 Glaubenskämpfe widerstreiten einer vernunftgeleiteten und auf Dialog basierenden Auseinandersetzung. Einem Rekurs auf die Menschenwürde kann auch Appellcharakter zukommen. Dieser soll die menschliche Dimension der Freiheit in lebensweltlichen Umständen hervorheben, zur Reflexion führen, was Anerkennung von Freiheit in Würde bedeuten kann und muss. Die Vorstellung einer menschenwürdigen Freiheit nimmt auch Ideen auf, wie sie Vertreter der sogenannten ökonomischen Sicht der Menschenwürde sowie auch Werner Maihofer in Deutschland betont haben: die Forderung nach einem menschenwürdigen Dasein als ökonomische Würdebedingung. Diese verlangt die Verwirklichung materieller Voraussetzungen der Menschenwürde.80

Was menschenwürdige Freiheit in der lebensweltlichen Praxis bedeuten kann, zeigt illustrativ das abschreckende Beispiel der USA mit ihrer kulturell gespaltenen Gesellschaft. Grossen Bevölkerungsschichten fehlt eine elementare Ausstattung für ein menschenwürdiges Leben, wie etwa ausreichende Bildungseinrichtungen und eine Krankenversicherung. Hinzu kommt das Gefühl der Ausgrenzung und der Erniedrigung durch eine finanzkräftige Elite. Wäre es nicht primäre Aufgabe von Liberalen, sich zu fragen, welchen Beitrag sie für die Überwindung von Gräben zwischen Gesellschaftsschichten und für die Auflösung sozialer Segregation zu leisten vermögen? Müssen sich nicht Liberale an vorderster Front für die Anerkennung der Würde aller Menschen einsetzen?