Czytaj książkę: «Strafrecht Besonderer Teil. Teilband 1», strona 3

Czcionka:

Anmerkungen

[1]

Schroeder Staatsschutz 294 f.

[2]

Vgl. Schroeder Staatsschutz 34 ff., 76.

[3]

Schroeder FS Welzel 867.

[4]

Dazu Schroeder FS Roxin 2002, 38 ff.

2. Die Rechtsgüterordnung als Grundlage eines Lehrsystems

15

a) Ist eine systematische Darstellung des Besonderen Teils an die Legalordnung des StGB gebunden, oder ist sie bei ihrer Anordnung vom Gesetz unabhängig? Diese Frage ist bestritten; indes lehren die Tatsachen, dass nur die wenigsten Lehrbücher versucht haben, sich der Systematik des StGB anzuschließen, und auch dann nicht ohne Abweichungen im Einzelnen.

Zu nennen sind hier für die Vergangenheit das Lehrbuch von Berner (12. Aufl. 1882), für die neuere Zeit die Darstellung von Niethammer (1950), die aber ebenfalls notgedrungen gelegentlich von der Systematik des StGB abweicht, so bei dem Hausfriedensbruch als einem Angriff auf die sittlichen Grundlagen der Gemeinschaft. Gehorsam gegenüber der Legalordnung ist damit weniger eine Tatsache als ein Wunsch, zuletzt vertreten von Oehler aaO 213 und Wegner[1], der sich gegen den „Hochmut der Wissenschaft bei Vernachlässigung der Legalordnung“ wendet. Demgegenüber betonte schon Binding, der wohl treueste Interpret des geltenden Rechts, dass die Wissenschaft nur eines heilig zu halten habe: die positiv-rechtliche Natur der einzelnen Verbrechensarten; „in allem weiteren hat sie die Pflicht voller Unabhängigkeit vom Gesetz. Sie muss diesem zum Trotz Gleiches als gleich nachweisen, angeblich Gleiches zerlegen, zu Unrecht Getrenntes verbinden, zu Unrecht Verbundenes scheiden“, „mit einem Wort – das Gesetz des Lebens dem der Erkenntnis unterwerfen“ (Lb. I 5). Diese Auffassung hat sich allgemein durchgesetzt. Die wissenschaftliche Systematik erleichtert nicht nur den Zugang zu der umfangreichen Materie, sondern bildet bereits den ersten Schritt bei der Auslegung der einzelnen Tatbestände[2]. Während das StGB in erster Linie auf die Praktikabilität der Anwendung, in zweiter Linie erst darauf zu sehen hat, dass seine Gliederung Ausdruck bestimmter Wertvorstellungen ist, gilt für die systematischen Darstellungen des Strafrechts das Umgekehrte. In der Gesamtwirkung beider bedeutet das nicht einen störenden Gegensatz, sondern eine fruchtbare Ergänzung.

16

b) Es besteht also die Möglichkeit unabhängiger Systematik; diese wird angesichts der Unzulänglichkeit des StGB in bestimmtem Umfang zum Zwang. Es fragt sich nur, nach welchen Gesichtspunkten die Ordnung erfolgen muss. Hier besteht tatsächlich nur ein Weg. Die Straftaten nach Begehungsmitteln und Angriffsart (z.B. Gewalt gegen Sachen, Personen, Behörden, Staatsrepräsentanten) zusammenzufassen, ist als allgemeiner Grundsatz unbrauchbar; das gleiche gilt für den von Sauer (System des Strafrechts 1954) unternommenen Versuch, eine Klassifizierung der Straftaten nach den Tatmotiven (Nutz- und Notdelikte, Trieb- und Schwächedelikte usw.) durchzuführen. Es verbleibt der Rückgriff auf die abstrakten Schutzobjekte der Verbrechen, die Rechtsgüter. Die Schutzwürdigkeit des gleichen Rechtsgutes (z.B. des Lebens) führt zur Anerkennung der die Unverletzlichkeit des gleichen Gutes aussprechenden Norm (du sollst nicht töten); um die gleiche Norm gruppieren sich die den einzelnen Angriffsarten angepassten Strafdrohungen (Tatbestände des Totschlags, des Mordes, der Tötung auf Verlangen, der Kindestötung usw.). Diese sind als in sich geschlossene Teilgebiete im Rahmen des Möglichen nicht nur nach ihrem Zusammenhang, sondern auch nach der vom Betrachtenden vertretenen Rangordnung der Werte zu gruppieren: zwar nicht Legalordnung, wohl aber Rechtsgüterordnung.

17

Indes muss sich jede Systematik der Grenzen ihrer Möglichkeiten bewusst bleiben. Vollendung ist unmöglich, erreichbar nur ein gewisses, und zwar stets weitgehend subjektiv bestimmtes Optimum. Letzteres gilt insbesondere für die Reihenfolge der einzelnen Verbrechensgruppen, so bei Voranstellung der Delikte gegen den Einzelnen oder umgekehrt derjenigen gegen die Gesamtheit. Immerhin besteht hierbei die Möglichkeit, sich an herrschende Wertvorstellungen anzuschließen (vgl. u. c.). Ferner lässt sich die Einordnung nach dem Rechtsgut nicht ganz ohne Ausnahmen durchführen. Es gibt Verbrechensgruppen, die sich solchen Versuchen entziehen: die gemeingefährlichen Straftaten (Tlbd. 2 §§ 50 ff.) lassen sich nur nach der Art des Rechtsgutsangriffes oder der Komplexität des Rechtsgüterschutzes als geschlossene Gruppe begreifen. Andere Autoren, wie z.B. Liszt-Schmidt (457), ziehen trotz grundsätzlichen Bekenntnisses zum Rechtsgut als Ausgangspunkt den Begriff der „vagierenden“ Delikte noch weiter, indem sie auch die Fälschungsdelikte dazurechnen. Im Prinzip wird aber stets vom Rechtsgut ausgegangen. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn der gleiche Tatbestand mehrere Rechtsgüter umfasst: die Einordnung der Tat bestimmt sich in diesen Fällen nach dem dominant getroffenen, dem „Zweck-Rechtsgut“, während das nur als Mittel zum Zweck in Mitleidenschaft gezogene Gut entweder auf den zweiten Plan tritt oder als selbstständig schutzunwürdig ganz ausscheidet. Daher ist die Erpressung ein Angriff auf Vermögen und Freiheit mit Vorrang des Ersteren (u. § 42 Rn. 19), der Betrug ein Angriff nur auf das Vermögen (u. § 41 Rn. 19), während bei der Falschverdächtigung der Ehrangriff wenigstens in Nebenwirkungen in Erscheinung tritt (Tlbd. 2 § 99 Rn. 5, 25).

18

Grundsätzlich beherrscht die Rechtsgutsorientierung auch diejenigen Lehrsysteme, die wie Binding (Lb. I 7) und Arzt/Weber eine aufgelockerte, durch das praktische Zusammentreffen systematisch verschiedener Verbrechensgruppen angezeigte Betrachtung befürworten: so die Verbindung der Delikte gegen die Person mit denen gegen die Sittlichkeit (jetzt: sexuelle Selbstbestimmung), der Lebensgefährdung und der fahrlässigen Tötung mit den allgemeinen Gefährdungsdelikten, der Urkundendelikte mit Begünstigung und Hehlerei. Für diese Systeme gilt das Eingeständnis Bindings (Lb. I 7): „ohne Zwang, freilich auch ohne volle Präzision“.

19

Nach Welzel (§ 37 II) ist das System des Besonderen Teils wegen der geschichtlichen Bedingtheit der Verbrechensarten und des dadurch gegebenen „fragmentarischen Charakters“ des Besonderen Teils im Gegensatz zum System des Allgemeinen Teils kein System im „strengen, materialen Sinne“. Hierzu Schroeder FS Welzel 860.

20

c) Die folgende Darstellung geht vom Vorrang der gegen den einzelnen gerichteten Straftaten aus. Damit ist nicht zum Ausdruck gebracht, dass der Gemeinschaftsschutz dem Individualschutz zu weichen habe, wohl aber, dass Anerkennung und Schutzwürdigkeit des Ersteren die Achtung vor der Persönlichkeit unabdingbar voraussetzen. Ein Staat, der die Persönlichkeit des Menschen zu einem auswechselbaren Roboter degradiert, mag für begrenzte Zeit eine schlagkräftige Machtorganisation darstellen; seine lebendigen Kräfte aber werden ihres sittlichen Gehalts beraubt. Früher oder später ist der kriminelle Staat die Folge der Entpersönlichung der ihn Tragenden. Daher muss auch für die Rangordnung der Güter das Wort gelten:

πάντων χρημάτων μέτρον έστìν ἂνθρωπος (Aller Dinge Maß ist der Mensch)

21

Bei ihrer Ordnung folgt das System im Wesentlichen der Reihenfolge der Grundrechte des Grundgesetzes: Straftaten gegen das Leben, das werdende Leben und gegen die Unversehrtheit des Menschen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG); Straftaten gegen die persönliche Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG); Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 2 Abs. 1 GG); Straftaten gegen die Ehre (Art. 5 GG); Straftaten gegen sonstige Persönlichkeitswerte, und zwar die Verletzung fremder Geheimnisse (Art. 10 GG) und des Hausrechts (Art. 13 GG)[3].

22

Bei den letzten drei Gruppen löst sich allerdings bereits die Beziehung auf den Einzelnen: diese Rechte stehen auch juristischen Personen, und zwar auch des öffentlichen Rechts, zu. Insbesondere der Hausfriedensbruch in öffentlichen Gebäuden spielt eine erhebliche Rolle (s.u. § 30 Rn. 3).

23

Auch in der Wertung des Verfassungsrechts schließen sich (Art. 14 GG) nun die Angriffe gegen Vermögenswerte an. Diese Straftaten entziehen sich angesichts des auch in der Bundesrepublik zunehmenden Vermögens der öffentlichen Hand noch mehr der Zweiteilung zwischen Straftaten gegen den Einzelnen und gegen die Gesamtheit (Schroeder FS Welzel 865).

24

Die Delikte gegen die Gesamtheit werden von den bisherigen Gliederungen des Besonderen Teils in die Straftaten gegen die Gemeinschaft und gegen den Staat unterteilt. Diese Untergliederung hat sich seit dem Beginn des 19. Jhndts. herausgebildet und erhielt durch Hegels Unterscheidung von Staat und Gesellschaft eine starke Unterstützung[4]. Die Straftaten gegen den Staat umfassen dabei sowohl Angriffe gegen den sog. „Bestand des Staates“ als auch gegen die Staatsgewalt und „Einrichtungen des Staates“. Diese Unterteilung leidet zunächst daran, dass einerseits die sog. gemeingefährlichen Delikte, die der Anlass für sie waren[5], sich immer mehr in allgemeine Gefährdungen des Einzelnen verwandelt haben (Tlbd. 2 § 50 I), andererseits die Straftaten gegen fremde Staaten und den Frieden sowie der Völkermord entweder in egoistische Bestimmungen zum Schutz des eigenen Staates umgedeutet werden mussten oder nur als sachfremder Annex behandelt werden konnten. Beide Bereiche werden daher hier als eigene Abschnitte ausgegliedert. Dabei wird zugleich der beachtliche Umfang sichtbar, den der Schutz fremder Staaten und Völker im deutschen Recht inzwischen erreicht hat.

25

Aber auch abgesehen davon erscheint die überkommene Gliederung heute verfehlt, und zwar in nicht weniger als drei Punkten. Erstens beruht sie auf einer nur durch die Abwehr des Obrigkeitsstaates erklärbaren Entgegensetzung von Gemeinschaft und Staat. Moderne anarchistische Bestrebungen haben dagegen die Unabdingbarkeit staatlicher Ordnung und Gewalt für die Gemeinschaft eindringlich dargetan. Die engen Beziehungen insbesondere zwischen dem Schutz der Staatsgewalt und dem des inneren Friedens wurden hier schon früher herausgestellt[6]. Das umgekehrte Extrem findet sich übrigens im Vorentwurf 1909, wo die Straftaten gegen die Gemeinschaft als „Verbrechen und Vergehen gegen Einrichtungen des Staates“ angesehen wurden. Zweitens sind Straftaten gegen die Staatsgewalt noch keine Straftaten gegen „den Staat“. Ihre Eingliederung in die Straftaten gegen „den Staat“ ist nicht nur eine unbeholfene Begradigung des Systems des Besonderen Teils, sondern zugleich Ausfluss der für das Staatsschutzrecht charakteristischen Aufwertungstendenz[7]: jeder Tritt gegen das Schienbein eines Polizisten – ein „Staatsverbrechen“! Drittens schließlich sind selbst die Straftaten gegen den Staat i.e.S. überwiegend keine Straftaten gegen „den“ Staat. Dies gilt exakt nur für Delikte, die sich gegen die Existenz des Staates richten, also für Spaltungsbewegungen und die Begünstigung fremder Annexionen. Wichtiger erscheint nach heutiger Auffassung die Gestaltung des politischen Lebens, also die Verfassung. Vornehmlich ihrem Schutz dienen neben den Vorschriften gegen den Hochverrat auch diejenigen gegen den Landesverrat und die Landesverteidigung. Die Zusammenfassung mit den Straftaten gegen die Staatsgewalt erweist sich insofern als unangemessene Abwertung.

26

Aus der Aufzählung dieser Mängel ergeben sich von selbst die Ziele der hier vorgenommenen Gliederung: 1. Vermeidung der Diskriminierung der staatlichen Tätigkeit als von der Gemeinschaft isoliert oder gar im Gegensatz zu ihr stehend. 2. Vermeidung der Aufwertung der Staatsgewalt zum Staat schlechthin. 3. Herausstellung der Bedeutung von Angriffen auf Verfassung und oberste Staatsorgane und Vermeidung ihrer Abwertung zu bloßen Staatsverbrechen.

27

Bei der herkömmlichen Gliederung ergab sich schließlich noch der Mangel, dass die in der letzten Zeit immer mehr zunehmenden Strafvorschriften zur Verhütung und Bekämpfung von Straftaten selbst unter mehr oder weniger blassen Oberbegriffen teils in die Straftaten gegen die Staatsgewalt, teils in diejenigen gegen die Rechtspflege eingegliedert wurden. Diese Tatbestände werden hier in einem eigenen Abschnitt zusammengefasst. Da sie Straftaten aller Art, auch gegen die Staatsgewalt und die Rechtspflege selbst und gegen ausländische Staaten verhindern sollen, gehören sie an das Ende des Besonderen Teils.

28

Damit ergibt sich folgendes System des Besonderen Teils:


1. Straftaten gegen Persönlichkeitswerte
2. Straftaten gegen Vermögenswerte
3. Allgemeine Gefährdungsstraftaten
4. Straftaten gegen staatsunabhängige Gemeinschaftswerte
5. Straftaten gegen die staatliche Tätigkeit
6. Straftaten gegen Verfassung, Staatsbestand, oberste Staatsorgane und Landesverteidigung
7. Straftaten gegen fremde Völker, Rassen und Staaten
8. Straftaten gegen die Durchsetzung des Strafrechts.

Die Abschnitte 1 und 2 sind im vorliegenden Teilband 1 dargestellt; Teilband 2 enthält die Abschnitte 3–8.

29

Nach dem Vorbild von Krey (1972) werden die neueren Lehrbücher zum Besonderen Teil zumeist in zwei Bände 1. Straftaten gegen Persönlichkeits- und Gemeinschaftswerte 2. Straftaten gegen Vermögenswerte unterteilt[8]. Wenngleich Übergänge zwischen den Straftaten gegen den Einzelnen und gegen die Allgemeinheit bestehen, so beruht die Zusammenfassung der Straftaten gegen Persönlichkeits- und Gemeinschaftswerte in den genannten Lehrbüchern offensichtlich nicht auf systematischen Gesichtspunkten, sondern auf dem editorischen Gesichtspunkt der stofflichen Gleichgewichtigkeit der beiden Teilbände[9]. In der letzten Zeit sind auch wieder zusammenfassende Darstellungen erschienen (Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, 2009; Klesczewski, 2016, allerdings beschränkt auf den Pflichtstoff des Staatsexamens).

Anmerkungen

[1]

Allg. Teil des Strafrechts 1951, 57.

[2]

Schroeder FS Welzel 860.

[3]

Nach Jakobs in: Bernsmann/Ulsenheimer (Hrsg.), Bochumer Beiträge zu akt. Strafrechtsthemen, 2002, 63 ff. sind die Delikte gegen die Person keine Rechtsguts-, sondern Rechtsverletzungen (mit Folgen für die Auslegung der Nötigung, der Täuschung und der Vermögensdelikte).

[4]

Eingehend Schroeder FS Welzel 864 f.

[5]

Vgl. Klein, Grundsätze des gemeinen dtsch. und preuß. peinlichen Rechts, 1796, §§ 481 ff.

[6]

5. Aufl. 386, Nachtrag I 30.

[7]

Näher Schroeder Staatsschutz 309.

[8]

Wessels/Hettinger/Engländer, Wessels/Hillenkamp; Rengier; Küpper/Mitsch; Hohmann/Sander; Kindhäuser/Eisele.

[9]

Grotesk allerdings das Lehrbuch von Küpper/Mitsch, bei dem der Teil 1 (Delikte gegen Rechtsgüter der Person und der Gemeinschaft) 208 S. umfasst, der Teil 2 (Vermögensdelikte) dagegen zwei Teilbände mit zusammen 1114 S. Systematisch unglücklich auch, dass bei Rengier die Vermögensdelikte den Teil I bilden.

1. Abschnitt Straftaten gegen Persönlichkeitswerte

1. Abschnitt Straftaten gegen Persönlichkeitswerte

1. Abschnitt Straftaten gegen Persönlichkeitswerte › 1. Kapitel Straftaten gegen das Leben

1. Kapitel Straftaten gegen das Leben

§ 1 System und Umfang des Lebensschutzes im Strafrecht

Schrifttum:

Gropp, Der Grundsatz des absoluten Lebensschutzes und die fragmentarische Natur des Strafrechts, Brauneck-Ehr., 1999, 285; Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, 2004; Laber, Der Schutz des Lebens im Strafrecht, 1997.

I. Die Systematik des Abschnitts „Straftaten gegen das Leben“

1

Das StGB bezeichnet den Inhalt des 16. Abschnittes des Besonderen Teils mit den §§ 211–222 als „Straftaten gegen das Leben“. Angesichts der Pönalisierung der grundlosen Tötung von Wirbeltieren im Tierschutzgesetz von 1972 (s. Tlbd. 2 § 59 IV) müsste die Überschrift genau „Straftaten gegen das menschliche Leben“ lauten. Der Begriff des menschlichen Lebens ist weit gespannt, der ihm gewährte Schutz umfassend: die §§ 211–216 behandeln die vorsätzlichen Straftaten gegen das Leben (u. § 2); § 217 erfasst mit der Förderung der Selbsttötung eine Lebensgefährdung (s.u. Rn. 23). § 221 umreißt als „Aussetzung“ einen Teil der vorsätzlichen Lebensgefährdungen (u. § 4 II); § 222 endlich bildet den Tatbestand der fahrlässigen Tötung (u. § 3).

2

Bemerkenswerterweise betrachtet der 16. Abschnitt auch den Schwangerschaftsabbruch (§§ 218–219b) als Straftat „gegen das Leben“[1]. Entwicklungsbiologisch ist auch die Frucht, das „werdende Leben“, schon menschliches Leben und als solches schutzwürdig. In der sozialen und damit strafrechtlichen Wertung kann aber das werdende Leben nicht den gleichen Rangwert beanspruchen wie das bereits aus dem Schoß der Mutter gelöste Leben des Menschen; dies zeigt sich insbesondere in Kollisionsfällen zwischen beiden Gütern. Der Schutz des werdenden Lebens ist daher gesondert zu behandeln (u. §§ 5–7)[2]. Das gleiche gilt für § 6 VStGB, der unter der irreführenden Bezeichnung „Völkermord“ Handlungen zur – nicht notwendig physischen – Zerstörung nationaler, rassischer, religiöser oder ethnischer Gruppen erfasst (Tlbd. 2 § 89 I).

3

Durch die Abschaffung der Vorschriften für den Zweikampf mit tödlichen Waffen (15. Abschnitt i.d.F. von 1871) durch das 1. StrRG 1969 sind einerseits privilegierende Sondervorschriften für die Tötung aufgehoben und die entsprechenden Verhaltensweisen in die Tötungstatbestände zurückgefallen, andererseits zusätzliche Lebensgefährdungstatbestände als nicht mehr erforderlich beseitigt[3].

4

Im Übrigen beschränkt sich das StGB im 16. Abschnitt entsprechend der traditionellen Einteilung auf den Schutz des Lebens als solchen. Außerhalb des Abschnittes und damit auch unserer Darstellung bleiben die Tatgruppen, in denen die Lebensvernichtung nur Anknüpfungsmoment mit qualifizierender Wirkung für solche Straftaten darstellt, die sich primär gegen andere Güter wenden, wie z.B. Vergewaltigung mit Todesfolge (§ 178), Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227), Freiheitsberaubung mit Todesfolge (§ 239 Abs. 4), Raub mit Todesfolge (§ 251), ferner die allgemeinen Gefährdungstatbestände, die zwar vornehmlich ebenfalls das Leben, daneben aber auch andere Rechtsgüter schützen (Tlbd. 2, §§ 51 ff.).

Überblick über die Versuche zur kriminologischen Systematisierung der Tötungsdelikte und umfangreiches statistisches Material bei Dotzauer/Jarosch: Tötungsdelikte, 1971.

Anmerkungen

[1]

Noch weitergehend Hofmann ÖJZ 63, 284: Abtreibung als privilegierter Fall des Totschlags.

[2]

Binding I 22 ff. und Eser/Sternberg-Lieben S/S Vor §§ 211 ff. 1 unterscheiden das geborene und das ungeborene Leben.

[3]

Hierzu eingehend Baumgarten, Zweikampf – §§ 201–210 a.F. StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung von 1870 bis zur Aufhebung der Zweikampfbestimmungen, 2002.

II. Die „Absolutheit“ des Lebensschutzes

5

Das Strafrecht betrachtet das menschliche Leben als eine biologisch-soziologisch untrennbar verbundene Erscheinung; es sieht in ihm einen Vorgang, dessen einzelne Phasen vom Beginn der Menschwerdung bis zum Ende des Lebensprozesses gleichwertig sind. Hieraus folgt der Grundsatz des absoluten Lebensschutzes: das Leben wird in jeder Phase als Rechtsgut anerkannt; es ist schutzwürdig ohne Rücksicht auf das Lebensgefühl, das Lebensinteresse des Einzelnen; es wird ebenso absolut geschützt ohne Rücksicht auf die Wertschätzung, welche die Gesamtheit dem Leben des Einzelnen als sozialer Funktion entgegenbringt.

6

Gegenüber dieser Absolutheit des Lebensschutzes tritt die bei anderen Rechtsgütern wichtige Frage nach dem Rechtsgutsträger in ihrer praktischen Bedeutung zurück: Wird die Gemeinschaft als Träger des Rechtsguts betrachtet, so folgt dessen Unverzichtbarkeit gerade aus diesem Verhältnis. Betrachtet man dagegen wie hier den einzelnen als Rechtsgutsträger, so liegt ein zwar personengebundenes, aber der Disposition des Inhabers entzogenes Rechtsgut vor.

Aus dieser komplexen Natur eines der Verfügungsgewalt schlechthin entzogenen Gutes folgt die Beurteilung der zahlreichen streitigen Grenzfälle (u. III–VII).

7

Der absolute Lebensschutz zeigt sich auch in der Abschaffung der Todesstrafe durch Art. 102 GG (zust. BGH 41, 325). Eine indirekte Auswirkung des Grundsatzes des absoluten Lebensschutzes liegt darin, dass das jugendliche Alter eines Tötungsopfers nicht strafschärfend berücksichtigt werden darf[4].

Der von Maurach entwickelte Grundsatz der Absolutheit des Lebensschutzes[5] hat dazu provoziert, die Ausnahmen von diesem Grundsatz aufzulisten (Selbsttötung, Notwehrrecht, Tötung und Kriegsrecht)[6]. Diese Ausnahmen, die im Übrigen geringer sind als bei anderen Rechtsgütern, sollten aber nicht dazu führen, die Absolutheit des Lebensschutzes durch dessen Relativität zu ersetzen[7] oder die rechtspädagogisch eindrucksvolle Formulierung Maurachs zu einer „nur noch verbalen Schablone“ zu erklären[8].