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2.2 Multilateralismus

Grundsätze und Methoden der meist stabilitätsorientierten Außenpolitik und der immer konservativen Diplomatie ändern sich nur allmählich, aber seit dem 19. Jahrhundert entwickeln sich neben der klassischen bilateralen Kommunikation zwischen Staaten, die diskret oder gar als „Geheimdiplomatie“ verborgen bleibt, neue und sichtbarere – aber deswegen noch nicht transparente – Formen multilateraler Diplomatie im aufkommenden internationalen Konferenzwesen, dann im Völkerbund und nun in den Vereinten Nationen.

Entscheidend für den Spielraum von Diplomatie, zumal der multilateralen, ist ihr machtstruktureller Rahmen: wird die Welt eher unipolar dominiert von einer Hegemonialmacht (wie dem antiken Römischen Imperium), wird sie von zwei konkurrierenden Vormächten bipolar geführt (wie von Frankreich und Deutschland im 19. Jh., von den USA und der Sowjetunion im 20. Jh.) – oder sind in einer multipolaren Welt große und kleine Mächte auf Abstimmung und Zusammenarbeit angewiesen?

Unipolarität bzw. Bipolarität als Machtstruktur sind nicht zwingend gleichzusetzen mit Unilateralismus bzw. Bilateralismus als außenpolitischer Methode, aber Multipolarität jedenfalls erfordert einen wie immer gearteten Multilateralismus; allenfalls eine relativ große und starke Macht, die sich für autonom und gar autark hält, mag glauben, sich den Zumutungen und Mühen des Multilateralismus entziehen zu können – aber das funktioniert nicht auf Dauer.

„Multilateralität“ bedeutet, dass nicht nur ein starker Staat anderen (unilateral = einseitig) sagt, was zu tun ist, oder dass nicht nur zwei Staaten (bilateral = zweiseitig) miteinander zu verhandeln haben, sondern, dass viele, potentiell alle, zumindest mitreden, vielleicht sogar mitentscheiden können. Logisch ist inbegriffen, dass Multilateralität zu einem Verhältnis der Teilnehmer zueinander führt, das es idealerweise ermöglicht, gemeinsame Probleme als prinzipiell gleichberechtigte Staaten nach für alle verbindliche Regelungen kooperativ zu behandeln; im besten Fall würden die Interessen aller beteiligten Akteure angemessen berücksichtigt.

Multilateralismus entsteht

 aufgrund der Einsicht, dass zum effektiven Problemlösen international kooperierende Partner gebraucht werden,

 mittels daraufhin vereinbarter Normen, Prinzipien und Regeln

 als eine soziale Ordnung unter Staaten,

 die eine dauerhafte Regelung der Beziehungen und Koordination der Zusammenarbeit zwischen (mindestens drei, aber bis zu vielen oder allen) Staaten ermöglicht,

 was nicht notwendigerweise aber häufig mittels internationaler Organisationen praktisch umgesetzt wird.

Komplementäre Verständnisse von Multilateralismus

 Vertragsmultilateralismus oder kontraktueller Multilateralismus (Ikenberry 2003, S. 534-535): Das System aller explizit kodifizierten (oder aber auch implizit gültigen) Normen, Standards und Regeln zwischenstaatlichen Verhaltens

 Organisatorischer Multilateralismus (Keohane 1990, S. 731): Das System der zwischenstaatlichen Abmachungen zur politischen, ökonomischen oder administrativen Organisation globaler oder regionaler Ordnung

Wenn eine internationale Organisation (fast) alle existierenden Staaten als Mitglieder gewonnen hat, ist sie nicht nur multilateral, sondern auch (fast) universal. Politisch bedeutet das: Alle Regierungen sind dabei und können mitreden,

 was tragfähige Legitimation für Problemlösungen schaffen kann,

 aber wegen der Ungleichverteilung von Ressourcen aller Art automatisch zu Problemen in Interessenkonflikten führt.

Ein nicht universaler, sondern exklusiver Club von wenigen Mächtigen könnte sich zwar vielleicht leichter einigen, aber sicherlich nicht für alle sprechen.

Politische Funktion und sachliche Aufgabe des Multilateralismus ist die Bereitstellung bzw. Sicherung von globalen öffentlichen Gütern (global public goods): Frieden und Sicherheit, funktionierende Güter- und Finanz-Märkte, intakte Umwelt und stabiles Klima, sowie Gerechtigkeit, Gesundheitsvorsorge, Freiheit des kulturellen Leben u.v.m., soweit diese Güter im einzelstaatlichen Rahmen nicht zu gewährleisten sind. Die Grundidee für jede multilaterale Kooperation ist die einer Versicherung auf Gegenseitigkeit.

Das wird paradigmatisch deutlich an der klassischen und wichtigsten Art globaler öffentlicher Güter, Frieden und Sicherheit: Zur Verhinderung von Krieg sind im unilateral/bilateralen Bezugssystem nur einseitige Aufrüstung zur Abschreckung und bestenfalls gegenseitige Ausbalancierung der Zerstörungspotentiale realistisch, während in einer multilateral organisierten Welt eine Versicherung auf Gegenseitigkeit als Ausweg möglich wird, indem alle potentiell kriegführenden Mächte sich einander in einem kollektiven Sicherheitssystem verlässlichen Schutz vor einander durch gegenseitigen Beistand garantieren.

Multilaterale Zusammenarbeit auf Gegenseitigkeit funktioniert in Abhängigkeit von der Art des politischen Problems unterschiedlich gut – die Struktur der zu behandelnden Themen und besonders die Zahl und Art der dafür relevanten Akteure bedingen die Erfolgsaussichten. Wenn (wie in Fragen der nuklearen Abrüstung) nur wenige Akteure von besonderer Bedeutung (weil sie über die realen Machtmittel Atomwaffen verfügen) miteinander verhandeln müssen, kann dies leichter bilateral oder wenigstens in einer nur kleinen Gruppe geschehen, während ein multilaterales Vorgehen nur von symbolischer Natur wäre (z.B. zur Bekräftigung der Friedenssehnsucht der „Weltgemeinschaft“). Wenn sehr viele oder alle Staaten mit einbezogen sein oder gar aktiv mitarbeiten sollen (wie bei Menschrechtsfragen oder im Umweltschutz) ist letztlich nur das mühsame multilaterale Geschäft erfolgversprechend.

Multilateralität ist heute in den vielfältigen Dimensionen des Nord-Süd-Konfliktes von größerer Bedeutung und Wirksamkeit als sie es im bipolaren Ost-West-Konflikt war. Neben rahmensetzenden Regelungen für die weltweite Ökonomie sind es die Entwicklungspolitik sowie Umwelt- und Klimaschutz, die zur Schaffung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine friedlichere Welt multilateral verhandelt und organisiert werden müssen. Dafür müssen viele recht zähe Brocken analytisch zerkaut und politisch verdaut werden. Die Entscheidungsfindung in der sog. „Entwicklungszusammenarbeit“ wird z.B. durch einen klassischen Konflikt zwischen bilateralen und multilateralen Methoden erschwert: Die politischen und wirtschaftlichen Interessen der beteiligten Regierungen – der Geber wie meist auch der Nehmer – werden leichter bilateral befriedigt, während unter sach-rationalen Aspekten zumindest langfristig eine multilaterale Durchführung durch internationale Fachorganisationen viel sinnvoller wäre.

Sofern sie nicht nur eine getarnte Hegemonialität ist – also hinter dem vielfältig-bunten Betrieb eine Vormacht oder auch konkurrierende Führungsmächte verschiedener Block-Konstellationen (wie Ost gegen West, reiche gegen arme Länder o.ä.) die Entscheidungen treffen und durchziehen – hat Multilateralität einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem bilateralem Austrag von Interessenkonflikten: die Großen dürfen weniger unbekümmert ihre Macht ausüben und die kleineren Mächte können besser ihre Interessen verfolgen, weil alle ein gemeinsames höheres Interesse zumindest grundsätzlich anerkennen.

Das Funktionieren von Multilateralität wird aber durch diverse Hemmnisse und innere Wiedersprüche beeinträchtigt oder gefährdet; besonders der für multilaterale Verfahren nötige kommunikative und organisatorische Aufwand hat politisch prägende Auswirkungen: Eigentlich kann Multilateralität gar nicht richtig funktionieren, weil es praktisch nicht möglich ist, dass viele oder gar alle Regierungen so einfach miteinander reden und gemeinsam entscheiden – was mehr bedeutet als eine bloße Stimmabgabe; es müssen dafür Verfahren und Verhaltensweisen entwickelt werden, die zwangsläufig kompliziert, umständlich und wahrscheinlich oft ineffizient sind (siehe 7.).

Oft wurde als ein weiterer Vorzug von Multilateralität genannt, dass sie im Gegensatz zur geheimnistuerischen bilateralen Diplomatie zwangsläufig transparenter und somit vielleicht auch legitimer sei; das dürfte aber in den meisten Fällen ein frommer Wunsch bleiben: Eine Lüge wird dadurch nicht wahrer, dass sie öffentlich vorgebracht wird. Bedeutsamer und problematisch ist, dass die scheinbar transparente Multilateralität spezielle Formen diskreter Absprachen und Verhandlungen in kleinem Kreis herausbildet oder auch nicht-multilaterale Alternativen suchen lässt.

Denn durch komplexe Arbeitsweisen oder politische Unvereinbarkeiten überbeanspruchte Multilateralität kann auch typische Gegenreaktionen provozieren:

 Austritt einzelner Staaten aus einer Organisation oder die Drohung damit (z.B. der USA aus der UNESCO wegen deren Politisierung im Nahostkonflikt, 1984-2003 und wieder 2017);

 Bildung einer „coalition of the willing“ durch eine Gruppe „gleichgesinnter“ Staaten, die ihr eigenes Programm verfolgen (z.B. den Krieg im Irak 2003);

 Schaffung interner Alternativen durch Doppelung/Überlappung, so dass politisch und/oder methodisch sehr unterschiedlich ausgerichtete Organisationen bzw. Unterorganisationen das gleiche Problem komplementär oder konkurrierend bearbeiten, was beides eine etablierte Institution bedeutungslos machen kann (z.B. UNCTAD vs. GATT/WTO);

 Nutzung externer Alternativen wie die Zusammenarbeit spezieller Staatengruppen (z.B. G7[/8]), G20), was universale Multilateralität zu untergraben droht.

Gruppenbildung ist eine zwangsläufig nötige Methode multilateraler Zusammenarbeit (siehe 7.4), aber in deren regulatorischem und organisatorischem Rahmen, nicht außerhalb. Die sich seit 1975 stetig weiter entwickelte Praxis, dass sich die führenden Wirtschaftsnationen und nun auch aufkommende Schwellenländer jenseits der Zwänge des multilateralen Geschäfts regelmäßig treffen und untereinander offiziell nur weltwirtschaftspolitische Fragen behandeln, aber auch andere besprechen oder gar entscheiden, erzwingt schon die kritische Frage: Sind die G7 und G20 als eine nicht legitimierte Konkurrenz zu den multilateralen Mechanismen der etablierten internationalen Organisationen einzuschätzen – oder als eine informelle Weiterentwicklung zu einer Art exklusivem Multilateralismus?

Internationale Kooperation kann ideal erwünscht werden, normal funktionieren oder real gefährdet sein: Ideal ist der kooperative Multilateralismus, in dem die Regeln gelingender internationaler Zusammenarbeit möglichst aller Staaten gelten und eingehalten werden. Normal ist ein imperialer oder besser hegemonialer Multilateralismus, in dem die Regeln gelingender internationaler Zusammenarbeit möglichst aller Staaten formal und auch politisch einigermaßen gewahrt, multilaterale Mechanismen aber in erster Linie doch zur Durchsetzung von Dominanz eingesetzt werden; eingeschränkte oder nur scheinbare Kooperation kann zudem unilaterale Verhaltensweisen mächtiger Regierungen maskieren.

Diese zweite Möglichkeit kann deswegen als Normalfall angenommen werden, weil die ideale Situation nur real werden könnte, wenn in einer möglichst multipolaren Welt keine gravierende Ungleichheit der Ressourcen- und Machtpotentiale der Staaten gegeben wäre – das war bisher in der Geschichte der internationalen Zusammenarbeit noch nie der Fall, weder in der UNO noch in der EU.

Gefährdet ist Multilateralismus immer und in verschiedener Weise:

 Das Phänomen eines „angefochtenen Multilateralismus“ (Morse/Keohane 2014: „contested multilateralism“) ist zu beobachten, wenn Regierungen Aufgabenstellung, Regeln und/oder Arbeitsweise multilateraler Institutionen herausfordern und auf ihre Belastbarkeit austesten, um ihr Missfallen auszudrücken und entsprechende Veränderungen zu erzwingen – oder gar alternative bzw. konkurrierende multilaterale Institutionen zu etablieren und durchzusetzen; einzelne existierende Institutionen können durch solche „Anfechtungen“ Autorität verlieren, aber auch gewinnen.

 Starke Staaten, zumal heute die USA, können sich es oft leisten, eine Strategie des instrumentellen bzw. selektiven Multilateralismus zu verfolgen, also aus den besten Angeboten zu wählen, ob sie in einzelnen Fragen oder ganzen Politikfeldern kooperativ oder unilateral vorgehen – aus der Sicht internationaler Organisationen ist das ein schädlicher „kompetitiver Multi-Multilateralismus“ (Braml 2009, S. 374).

 Für die UNO könnte besonders der exklusive Multilateralismus nach Art der G7/G20 gefährlich werden.

Literaturverweis zu 2.2.: Multilateralismus

Acharya 2018; Barnett/Finnemore 2018; Braml 2009; Brühl 2019; Ikenberry 2003; Griffin 2018; Kahler 1992; Keohane 1990; Menzel 2001; Morse/Keohane 2014; Schieder 2018; Touval/Zartman 2010; Zürn 1998

2.3 Internationale Organisationen

Multilateralismus setzt logisch wie politisch voraus, dass sich der moderne Nationalstaat als Ordnungsprinzip historisch durchgesetzt und damit sogleich inter-nationale Zusammenarbeit für Frieden und Wohlstand nötig und sinnvoll gemacht hat: dafür geeignete Instrumente sind internationale Institutionen aller Art – informelle wie eine lockere Folge von Konferenzen oder formelle wie eine auf einem Vertrag fest basierte und organisierte Struktur:

 Die meisten internationalen Institutionen sind Internationale Organisationen, doch auch sog. Internationale Regime sind zu beobachten;

 Organisationen sind entweder Internationale zwischenstaatliche (oder intergouvernementale) Organisationen (International Governmental Organisations/IGOs) oder Internationale nichtstaatliche (oder Nichtregierungs-) Organisationen (International Non-Governmental Organisations/INGOs).

Die INGOs werden meist nur „NGOs“ genannt – und mit „Internationale Organisationen“ sind fast immer die zwischenstaatlichen bzw. Regierungsorganisationen gemeint. Die INGOs müssen weiter unterschieden werden in international operierende Dachverbände nationaler Interessenverbände (aus Wirtschaft und Sport oder auch aus Religion, Wissenschaft und Kultur) und ebenfalls in der sog. Zivilgesellschaft basierte Organisationen mit kritisch-politischem Anspruch zu themen- bzw. problemspezifischen Zielen und Aktions- oder Hilfs-Programmen. Wenn von den „NGOs“ gesprochen wird sind meist die zivilgesellschaftlich Guten wie amnesty international oder der World Wildlife Fund gemeint, aber auch ein Verband der ölfördernden Industrie ist eine Nichtregierungsorganisation – und letztlich gehört auch die Mafia zur Zivilgesellschaft.

Während IGOs nur auf der internationalen Ebene zwischen Staaten bzw. Regierungen arbeiten, wirken INGOs auch transnational staatenübergreifend auf zivilgesellschaftlicher Ebene. Auch Militärbündnisse wie die NATO sind IGOs, die – ungeachtet realer Machtverhältnisse – zwischen souveränen Staaten funktionieren. Mit Ausnahme der Europäschen Union (EU) als spezifischem Sonderfall gibt es noch keine supranationale Organisation, die über-staatliche Kompetenzen hätte; nur der Sicherheitsrat der UNO hat bislang in bestimmten seltenen Situationen das Recht, über-staatlich einzelnen souveränen Staaten gegenüber anzuordnen, was sie zu tun oder zu unterlassen haben (siehe 6.1.2 und 8.1).

Zur Anzahl Internationaler Organisationen

Internationale Organisationen aller Art gibt es überraschend viele. Exakte Zahlen sind nicht verfügbar, doch waren in 2010er-Jahren ungefähr

 zweieinhalbtausend multilaterale Verträge bzw. Abkommen in Kraft,

 mehrere Tausend Internationale Nicht-Staatliche Organisationen (INGOs) aktiv, davon ein halbes Tausend von universaler Bedeutung,

 zwei- bis dreihundert Internationale (Regierungs-)Organisationen (IGOs), davon über dreißig universale, im Dienst (z.B. 2001: 232/34, 2006: 246/34, 2013: 265/33)

(nach der Datenbank der Union of International Associations/UIA, Brüssel [http:/www.uia.org] bzw. das von der UIA herausgegebene „Yearbook of International Organizations“)

Eine allseits anerkannte Definition für „Internationale (Regierungs-)Organisationen“ (IGOs) gibt es nicht; auch hier gehen immer theoretische und politische Annahmen in die Formulierungen ein.

„Internationale Organisationen“: typische Definitionen

„[…] sowohl problemfeldbezogene als auch problemfeldübergreifende zwischenstaatliche Institutionen, die gegenüber ihrer Umwelt aufgrund ihrer organschaftlichen Struktur als Akteure auftreten können und die intern durch auf zwischenstaatlich vereinbarten Normen und Regeln basierende Verhaltensmuster charakterisiert sind, welche Verhaltenserwartungen einander angleichen.“ (Rittberger/Zangl 2008, S. 25)

„Unter einer IGO wird eine durch multilateralen völkerrechtlichen Vertrag geschaffene Staatenverbindung mit eigenen Organen und Kompetenzen verstanden, die sich als Ziel die Zusammenarbeit von mindestens drei Staaten auf politischem und/oder ökonomischem, militärischem, kulturellem Gebiet gesetzt hat und die gegenüber ihrer Umwelt als selbständiger Akteur auftreten kann.“ (Woyke 2007, S. 203)

„Die internationalen Organisationen sind ein Zusammenschluss souveräner Staaten. Was sie erreichen können, hängt von dem Grad der Übereinstimmung ab, den sie untereinander erzielen.“ (Schraepler 1994, S. IX; Hervorhebung R.W.)

Internationale Regierungs-Organisationen (IGOs) haben immer einen Internationalen Vertrag als für die ihm beitretenden Staaten verbindliche Rechtsgrundlage (siehe 2.4). Dieser Vertrag und damit die Organisation stehen aber immer in einem größeren historischen und politischen Kontext, der Problemzusammenhänge und Arbeitsfelder absteckt, die nicht kongruent sind mit dem Zuschnitt dieser Internationalen Organisationen.

Der klassische politikwissenschaftliche Regime-Ansatz versucht deswegen, komplexe Regelungssysteme zu bestimmen und zu untersuchen, um die internationale Kooperation bezogen auf einen umfassenden Problem- und Arbeitsbereich als Ganzes in den Blick zu bekommen – wie die Nichtverbreitung von Atomwaffen, den Menschenrechtsschutz, die Regelung des Welthandels oder den Kampf gegen die Klimaerwärmung. Leider ist zumindest im Deutschen der Begriff „Regime“ uneindeutig konnotiert; alltagssprachlich ist damit meist abwertend eine eher fragwürdige einzelne Regierung gemeint.

Internationale Organisationen sind sicht- und greifbarer als die Internationalen Regime, die aber wiederum das wichtigere Bezugssystem für die Erfolgschancen internationaler Kooperation bilden. Der Problemfeld-Bezug der Organisationen ist für einzelne Fragen spezifisch (wie die OPWC zur Chemiewaffenkontrolle), Themen übergreifend (wie die FAO für Landwirtschaft) oder universal (wie die UNO), der von Regimen ist problemfeldspezifisch fokussiert. Die vertikale Struktur der meisten Organisationen ist hierarchisch festgefügt; Regime sind in ihrer horizontalen Struktur weniger formell und eher flexibel formbar. Auch die Regime basieren auf einem internationalen Vertrag oder meist auf einem gewachsenen System mehrerer Verträge. Zu einzelnen Regimen können mehrere verschiedene Verträge und Organisationen gehören, die ihrerseits wiederum möglicherweise verschiedenen Regimen zuzurechnen sind; noch komplizierter wird es, wenn zum Funktionszusammenhang eines Regimes auch eine internationale Schiedsstelle oder gar ein Internationales Gericht beiträgt.

Internationale Regime („Konsensdefinition“) (Krasner 1983b, S. 2, Übers. RW)

„Regime können definiert werden als Instrumentarien aus impliziten oder expliziten Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren zur Entscheidungsfindung, durch die vermittelt die Erwartungen der Akteure auf einem bestimmten Gebiet der internationalen Beziehungen konvergieren. Prinzipien sind grundlegende Annahmen über tatsächliche Gegebenheiten, kausale Zusammenhänge und richtige Bewertungskriterien. Normen sind durch Rechte und Verpflichtungen definierte Standards des Verhaltens. Regeln sind spezifische Vorschriften und Verbote zur Anleitung des Handelns. Verfahren zur Entscheidungsfindung geben Praktiken für das Treffen und Umsetzen einer gemeinsamen Auswahl vor.“

Die Unterscheidung in die vier Elemente Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren bietet ein brauchbares Schema zur Analyse international-multilateraler Kooperation in Internationalen Regimen wie durch Internationale Organisationen.

 Prinzipien sind die grundlegenden Aussagen über die Wirklichkeit in einem Arbeitsbereich, über die Ursachen und Auswirkungen der zu bearbeitenden Probleme sowie über die von den Partnern einer Kooperation geteilten Bewertungskriterien; auf dieser Basis können die Ziele der Kooperation formuliert wie auch die dazu passenden Zweck-Mittel-Relationen bestimmt werden. Wenn Problemsicht und Lösungsbereitschaft potentieller Partner nicht zusammenpassen, wird es schon schwierig sein, generelle Prinzipien im Konsens zu finden.

 Normen geben maßgebliche Standards und verpflichtende Richtlinien für das angemessene Verhalten vor; sie beschreiben und verteilen die Rollen in der Kooperation, indem sie komplementär Pflichten auferlegen und Rechte einräumen. Erst die Achtung der Normen macht die prinzipiellen Überzeugungen und Ziele zu gemeinsamen politischen Verpflichtungen.

 Konkrete und meist rechtsverbindliche Regeln definieren spezifische Vorschriften und Verbote; sie übersetzen die weiten Prinzipien und generellen Normen operativ in konkrete Handlungsanweisungen. Das macht die Zusammenarbeit leistungsfähig und wirksam, weil intern und Dritten gegenüber berechenbar. Bei der oft mühsamen Festlegung der Regeln und zumal durch ihre Einhaltung zeigt sich erst definitiv, wie ernst es den Staaten wirklich ist, international zu kooperieren.

 Festgelegte Verfahren zur Entscheidungsfindung und zum praktischen Handeln aller Art (wie Geschäftsordnung, Mitgliedschaft, Information, Kommunikation, Aktionsprogramme, Konfliktschlichtung, Sanktionen) sichern eine verlässlich funktionierende prozedurale Routine und damit zugleich Flexibilität bei der Anpassung an sich verändernde Situationen, ohne dass kurzfristig Regeln geändert, Normen angetastet oder Prinzipien bemüht werden müssten. In der Arbeitsweise bei der Umsetzung und Durchsetzung zeigt sich, wie konstruktiv die Kooperationspartner sein können oder wollen.


Den internationalen Menschenrechtsschutz zum Beispiel (siehe 8.2) legitimiert das Prinzip, dass es unveräußerliche Rechte von universaler Geltung gäbe (allerdings oft im Konflikt mit dem Prinzip der unantastbaren Souveränität der Staaten), konkretisiert in den Normen, die Rechte und Pflichten der Staaten deklamatorisch in einer „Allgemeinen Erklärung“ formulieren und in einzelnen Pakten verbindlich festlegen; die Regeln sollen dann als spezifische Handlungsanweisungen Wirksamkeit herstellen und schließlich die praktischen Verfahren Verlässlichkeit sichern, indem sie Menschenrechtsschutz in Aktionsprogrammen (wie Berichtspflicht, Überprüfung, fact findig missions, Beschwerdeverfahren) umsetzen und gegebenenfalls mit Sanktionsmechanismen durchsetzen.

Mit diesem Ordnungs-Schema nach Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren können für alle Problem- und Arbeitsbereiche die Funktionen, Arbeitsweisen und Leistungen internationaler Kooperationsformen dargestellt und diskutiert werden. Wenn Internationale Organisationen als Instrument, Forum oder Akteur gesehen werden können, ergeben sich als Rollen-Zuschreibungen:

 Sie dienen den uneingeschränkt souveränen Staaten, zumal den mächtigsten, zur Verfolgung ihrer eigenen Interessen; diese dominieren die organisationsinternen Entscheidungsprozesse.

 Sie geben allen Akteuren dank ihrer logistisch-technischen Vorleistungen und mittels standardisierter Verfahrensweisen dauerhaft und verlässlich die Gelegenheit zu multilateralen Verhandlungen aller Art und Reichweite – zu den Zwecken von Informationsaustausch, technisch-organisatorischer Koordination und politischer Kooperation.

 Sie können selbst als Akteur nur auftreten, wenn und insoweit sie von den souveränen Staaten dazu bevollmächtigt sind – das Entstehen bundes- bzw. weltstaatlicher, also supra-nationaler Strukturen über den Staaten bleibt vorerst Spekulation (siehe 2.4).

Diese Funktionen sind als emergent aufeinander aufbauende Schichten, nicht als sich ausschließende Alternativen zu verstehen. Für internationale Kooperation ist die Bereitstellung eines komplexen Verhandlungssystems politisch wie organisatorisch die Grundlage; die Leistungen von Internationalen Organisationen dafür sind vielfältig: Indem sie

 Informationen besorgen, analytisch aufbereiten und verteilen (intern, aber auch medial),

 diskret oder öffentlich Gespräche und Verhandlungen politisch anregen, organisatorisch durchführen und durch Verfahrensregeln absichern,

 Interessen durch Bündelung (in Staatengruppen) hörbar artikulieren und durch Konfliktschlichtung ausgleichen,

 Normen diskutieren und formales (Völker-)Recht fortentwickeln,

verschaffen Internationale Organisation

 schwächeren Akteuren mehr Einfluss

 und stärkeren mehr Legitimität

und ermöglichen oder unterstützen so

 Gefahrenabwehr durch vertrauensbasierte Kooperation

 und Stiftung von Ordnung durch globale Regelungen.

Funktionen Internationaler Organisationen

informationell (→ medial) z.B. für Menschenrechtsschutz, Umwelt-/Klimaschutz

 Sammeln, Auswerten und Verbreiten von Informationen und Daten

 Beobachtung und Auswertung von Entwicklungen und Trends

 Schaffung von internationaler Öffentlichkeit

 Unterstützung für politische Initiativen

politisch (→ prozessual) z.B. für Frieden/Sicherheit, Wirtschaft/Welthandel

 Austausch, Verhandlung und Entscheidung

 Bündelung nationaler zu Gruppen- und multilateralen Interessen

 Schaffung von Einflussmöglichkeit für schwächere Akteure

 Schaffung von mehr Legitimität für stärkere Akteure

normativ (→ rechtlich) z.B. für Menschenrechtsschutz, Welthandel, Umwelt/Klima

 Generierung von Normen und Regeln für staatliches Verhalten

 Festlegung von Verhaltens-Standards

 Ausarbeitung von völkerrechtlich bindenden Verträgen

regulativ (→ evaluativ) z.B. für Frieden/Sicherheit, Rüstungskontrolle, Welthandel

 Konflikt- und Streitschlichtung

 Förderung der Anwendung von Normen und RegelnKontrolle ihrer UmsetzungSanktionierung ihrer MissachtungErzwingung ihrer Einhaltung

 Bildung und Nutzung von Verifikationsinstrumenten

 Bildung und Nutzung von Verifikationsinstrumenten

operational (organisatorisch/logistisch) z.B. für Entwicklungszusammenarbeit, Noteinsätze

 Serviceleistungen aller Art für grenzüberschreitende Kooperation

 Durchführung komplexer operativer Aktionen

 Umsetzung von umfassenden Arbeitsprogrammen

 Ressourcen-Allokation

 Not- und Katastrophen-Hilfe

 internationaler Einsatz von national gestellten Truppen

Die frostige Metapher von den internationalen Organisationen als „gefrorene[n] Entscheidungen“ (Keohane 1988, S. 384; siehe 3) wirft ein kaltes, aber klares Licht auf ihre Struktur und Eigenart, die erst aus historischer Perspektive auf ihr Entstehen und Fortbestehen verständlich werden. Nur jeweils in einer historischen, also einmaligen spezifischen Situation, die nicht auf Dauer so sein wird, sind konkrete Festlegungen von weitreichender Bedeutung in Verträgen möglich – was in Diplomatensprache (siehe 7.1) gern „window of opportunity“ genannt wird. Solche sehr seltenen Gelegenheiten zur verbindlichen Umsetzung eines gelingenden Konsens zu nutzen, bedeutet aber, dass die Vertragspartner notwendigerweise immer auch auf Bedingungen dieser spezifischen Situation eingehen und diese somit in Form von bleibenden normativen und organisatorischen Regelungen festschreiben: „Geschichte verschlüsselt in Regeln“ (March/Olson 1984, S. 741). Aus machtpolitischen Motiven und wegen der rechtlichen Verfahrensprobleme bei einer Änderung oder auch schlicht aus Gewohnheit bleiben diese Regelungen stabil, selbst wenn die Entstehungssituation und ihre Zwänge kaum noch erinnerlich sind.

In entwicklungsgeschichtlicher Perspektive zeigen sich auch langfristige Trends als Rahmenbedingungen internationaler Kooperation:

 Durchsetzung und unbedingte Achtung der Souveränität als Grundregel der Beziehungen der konsolidierten modernen Staaten als den entscheidenden Akteuren (siehe 2.4);

 Institutionalisierung von vertragsbasierten Organisationen und Verfahren, u.a. wegen der wachsenden Anzahl und Vielfalt der staatlichen Akteure, und

 in der Folge dessen zunehmende Verregelung oder Verrechtlichung der immer komplexeren internationalen Beziehungen im kooperativen Multilateralismus (siehe 2.2);

 wegen Überbeanspruchung durch den somit gefährdeten Multilateralismus (siehe 2.2) als gegenläufige Tendenz auch Informalisierung (siehe 7.6 und 9.2), die paradoxerweise die Zusammenarbeit im jeweils gegebenen, möglicherweise zu starren institutionellen Rahmen aufrechterhalten oder sogar vertiefen könnte.

Es zeigt sich eine Tendenz: Funktionierender Multilateralismus macht allmählich das Souveränitätsprinzip problematisch und konnte es schwächen; Staaten bleiben bislang die Handlungskerne der Kooperation, aber andere Instanzen und Mechanismen lagern sich um sie an und gewinnen an Handlungsspielraum. Ob diese Entwicklung nachhaltig ihre Ausgangslage des Primates der Nationalstaaten transformiert oder wiederum Gegenreaktionen provoziert, wird das 21. Jahrhundert prägen.

Literaturverweis zu 2.3.: Internationale Organisationen

Karns/Mingst 2018; Keohane 1984; Keohane/Nye 1987; Keohane 1988; Krasner 1983; March/Olson 1984; Müller 1993; Rittberger/Zangl 2008; Schraepler 1994; Wesel 2012; Woyke 2007

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