Czytaj książkę: «Die Schwachen zuerst»
Dieses Werk wurde vermittelt durch Aenne Glienke/Agentur für Autoren und Verlage, www.aenneglienkeagentur.de
Copyright © Claudius Verlag, München 2021
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Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2021
ISBN 978-3-532-60086-3
Immer wieder das weisse Papier
und das Wenden dessen, was
noch nicht geschrieben steht,
viel leichter wäre es doch,
ich faltete einen Flieger
würfe ihn aus dem Fenster
und ginge ein wenig spazieren
bis er als beglückender Einfall
vor meinen Füssen wieder landete
und so entfaltete ich dann ein Rätsel:
«Nanu, noch immer ein weisses Papier?»
Immerhin: Den Kopf, den hätte ich gelüftet.
Jürg Halter1
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Die Schwachen wissen es
Erste Lektion Was lernen die Schwachen aus dem Lockdown? Corona als Trainingslager
Zweite Lektion Schadensbilanz: Sollen wir die Schwachen sichtbar machen? Oder sollen wir die Schwäche abschaffen?
Dritte Lektion Der Lockdown, der aus dem ökologischen Desaster kam Die Schwachen rauchen schon die Friedenspfeife mit der Klimakrise
Vierte Lektion The Great Reset: Wieder bei null anfangen
Fünfte Lektion Endlich ein schwacher Neuanfang Was kommt nach der Leistungsgesellschaft?
Anmerkungen
Dank
Die Schwachen wissen es
Gestern wurden über 50.000 Tote im Zusammenhang mit der Pandemie gemeldet. Bei uns in Deutschland, im Januar 2021. Wie viele werden es noch? Der Bundespräsident stellte im Schloss Bellevue eine dicke gelbe Kerze ans Fenster. Ein Totengedenken, eine stille Geste. Mir hat das gefallen. Wortlos. Einfach. Es ist ein solches Stimmengewirr um COVID-19. Ein Überdruss ist zu spüren. Ein Überdruss an dem Dauerthema Corona. An den Maßnahmen. An der Stilllegung des Lebens. An der Profilsucht von Politikern, Wissenschaftlern, Virologen. Gibt es zu Corona noch irgendetwas zu sagen, was noch nicht gesagt ist?
Wenn es doch endlich das Gespräch wäre, das diese deutsche Gesellschaft so dringend brauchte – das Gespräch über Lebensfragen: In welche Richtung wollen wir jetzt gehen? Sollen wir so weitermachen wie bisher? Beabsichtigen wir, den Tanz auf dem Vulkan fortzusetzen, der diesen Planeten in den Abgrund der Klimakatastrophe reißen wird? Wollen wir die immer tiefere Spaltung der Welt in Reich und Arm hinnehmen? Müssen wir die endgültige Vernichtung der Natur akzeptieren? Vielleicht ist die Pandemie die letzte Chance des homo sapiens, sich auf den Trümmern der alten Welt zusammenzufinden und mit dem großen Palaver zu beginnen: Was nun? Die wichtigen Fragen, die über unser Weiterleben entscheiden, drohen unterzugehen: Im Streit über die richtige Impfstrategie. Im Streit über einen Lockdown für Schulen und Kitas. Im Streit über Grenzschließungen. Im Streit darüber, wie hart der Shutdown sein soll.
Ich fürchte, dass die Gelegenheit zum Umdenken nicht genutzt wird. Am Schluss des Romans „Candide“ lässt Voltaire seinen Protagonisten sagen: „Il faut cultiver son jardin.“ Man muss seinen Garten bebauen. Vielleicht ist das die Antwort auf das Corona-Rauschen? Sich raushalten?
Ich habe meinen Garten nicht bebaut, ich habe ihn gelassen, wie er ist, es ist ohnehin Winter. Ich habe stattdessen versucht, den Blick der Schwachen aufzufangen, ihr Flüstern zu hören. Sind sie das Fieberthermometer für die Pandemiezustände? Sind sie vielleicht die heimlichen Dirigenten? Verkörpern sie die dunkle Seite der Pandemie? Oder die heimliche Hauptstadt der Pandemie? Haben sie uns etwas mitzuteilen, was wir beharrlich übersehen? Sind sie Objekte unserer Versorgung oder vielleicht die Lichtsignale, die zu anderen Ufern locken?
ERSTE LEKTION
Was lernen die Schwachen aus dem Lockdown?
Corona als Trainingslager
Die Schwachen zuerst: Das ist doppeldeutig. Sind die Schwachen die ersten Opfer in Krisen? Oder kommt alles darauf an, die Schwachen zuerst zu schützen, weil sich die Humanität und Überlebensfähigkeit einer Gesellschaft daran misst, wie sie mit ihren Schwachen umgeht?
Revolution der Schwachen
Die Coronakrise ist ein Trainingslager. Sie bereitet uns auf die Krisen vor, die mit der Klimakatastrophe auf uns einstürzen werden. Die Coronakrise hat eine große Hilflosigkeit in Pflegeheimen, Krankenhäusern und Hospizen deutlich gemacht. Über Nacht waren die Hilfsbedürftigen isoliert. Was wird die ungleich größere Klimakrise für die Schwachen bedeuten? Wir lernen, dass der Ausnahmezustand über Nacht zum Alltag werden kann. Und dann kann es ganz schnell nur noch um das nackte Überleben gehen. Und wenn es nur noch um das nackte Überleben geht, dann werden die Schwächsten zuerst über die Klinge springen. Oder? Vielleicht geht es auch ganz anders? Aus einer in Trümmern liegenden Gesellschaft könnte endlich, endlich die Umkehrung erwachsen: Wir würden lernen, dass die Schwachen zum Maßstab für das Wohl der Menschen werden. Wir würden begreifen, dass die aufgeblasene Herrschaft von Geld, Konkurrenz und Macht an ihr Ende gekommen ist. Schluss wäre dann mit der hochgerüsteten Zerstörung: Feiern wir den Grashalm, der durch den Beton bricht. Jetzt, mit und nach Corona, können wir uns vorstellen, wie eine Welt aussieht, die in Trümmern liegt. Jetzt, mit und nach Corona, müssen wir über die Alternativen nachdenken und auf diese Alternativen hoffen. Jetzt kann es heißen: die Schwachen zuerst. Sie weisen uns die Richtung. Sie sind das Fieberthermometer, sie sind vielleicht Kassandra und Rettung zugleich. Der Lockdown stellt uns ruhig. Der Lockdown lähmt uns. Der Lockdown ist die Stunde der musischen Schwäche. Nicht die Stunde der Eroberer, sondern die Stunde der Gelassenen, die Stunde des Unterlassens, die Stunde der Stille und der Wehrlosigkeit.
Jonathan ist 29 Jahre alt, er lebt in Baden-Württemberg. Er arbeitet als Kommissionierer in einem Großhandelslager. Bei ihm wurde im Alter von sieben Jahren das Asperger-Syndrom diagnostiziert. Die Pandemie konfrontiert ihn mit Veränderungen in seinem Alltag. Das ist schwer für ihn. Dass er nicht in sein Lieblingscafé gehen kann, bedauert er. Der Aufenthalt dort ist für ihn wie ein Training: Er kann Menschen um sich herum beobachten. Er lernt dort etwas über soziale Verhaltensweisen, die ihm fremd sind. Die Masken erschweren seinen Alltag. Er hatte mühsam gelernt, Gesichtsausdrücke zu interpretieren. „Besonders schwer fällt es mir, im Gesicht meines Gegenübers zwischen Ironie und Ernst zu unterscheiden.“ Die Maske erschwert für Jonathan die Orientierung erheblich. Die Abstandsregeln gefallen ihm – weil er Abstand lieber mag als Nähe. „Es erleichtert mich, dass während Corona niemand mehr von mir erwartet, dass ich ihm oder ihr die Hand gebe.“ Er hat permanent Angst, dass sich die Regeln wieder verändern. Als Asperger-Autist sehnt er sich nach Klarheit und Routine.2 Greta Thunberg, auch Asperger-Autistin ist unkonventionell, mit starkem Rückgrat und sie hat immer das Wesentliche im Blick. Das hat etwas mit ihrem Autismus zu tun – das hat sie selbst gesagt. Autismus kann gegen die soziale Magie, die uns jedem Unsinn zustimmen lässt, immun machen. Das, was uns am Herzen liegt, tritt dann in den Vordergrund und unwesentliche Plaudereien verschwinden.3 Das Leiden, das mit Autismus verbunden ist, ist damit nicht geleugnet. Aber auf die Schwachen fällt plötzlich ein anderer Blick.
Und das ist die „revolutionäre“ Kernthese dieses Buches: Die Schwachen sind nicht eine Randerscheinung, sondern das heimliche Zentrum einer Gesellschaft im radikalen Wandel. An ihnen können und müssen wir Maß nehmen für die Frage, wie es weitergehen soll. Sie wissen etwas, was die Starken, die Gesunden, die Planer, die Mächtigen, die Wissenschaftler erst lernen müssen. Revolutionär ist ein zu heftiges Wort? Nun, ursprünglich bezeichnet revolutio in der Astronomie den Umlauf der Himmelskörper.4 Versuchen wir es doch einmal mit dem Gedanken: Nicht die Schwachen sind es, die um uns kreisen und von uns beleuchtet werden. Vielleicht kreisen wir um die Schwachen und könnten uns von ihren Erfahrungen erhellen lassen? Nehmen wir Abstand von der Zwangsvorstellung der Starken, dass die Schwachen unser ständiges Entwicklungsprojekt sind. Neigen wir uns einmal nicht gnädig zu den Schwachen herunter, sondern beugen die Knie vor den Erfahrungen, den Sensibilitäten, den Kränkungen und den Leiden der Schwachen. Kreisen wir versuchsweise revolutionär um die Schwachen und nicht umgekehrt. Die Schwachen im Zentrum zu denken, das ist mit dem Versuch verbunden, die ganze Geschichte der Menschen umzudrehen und neu zu erzählen. Die Geschichte haben die Starken geschrieben. Der Jäger, der in der Tundra das Mammut mit der Lanze erlegt. Alexander der Große, der die Welt unterwirft, Otto Hahn, der die Kernspaltung entdeckt und die Kernchemie auf den Weg bringt … und immer so weiter. Heldengeschichte reiht sich an Heldengeschichte. Die Schwachen haben im Unsichtbaren überlebt, sich am Rande versteckt, Überlebensmittel gefunden, Verfolgungen und Misshandlungen erlitten oder sind entkommen auf selbstgebahnten Pfaden in einer Welt, die sich gewohnheitsmäßig in Heldengeschichten spiegelt. Unsere Sprache ist eine, in der die Schwachen systematisch marginalisiert sind. Geschichte wird von den Starken gemacht, für die Geschichte der Schwachen gibt es kaum Bilder und Begriffe. Eine erst noch zu schreibende Geschichte der Schwachen müsste zunächst einmal feststellen, dass sie von den Worten, Bildern und Gleichnissen der Helden überkrustet ist. Unter den dunklen Wolken der Coronapandemie erleben wir, dass die Starken stärker und die Schwachen schwächer werden. Man muss den Bogen weit spannen: Er reicht von den vielen Alten, die im Coronalockdown von allem abgeschnitten sind (von ihren Kindern, den Zimmernachbarn, den Gemeinschaftsveranstaltungen) bis zu den „dinkers“, den Menschen, die – zum Beispiel in Swakopmund (Namibia) – auf Müllhalden nach Essbarem suchen, weil der Lockdown ihnen ihre Tagelöhnerjobs unmöglich gemacht hat.
Aufkündigung einer Übereinkunft
Ein Konsens zerbricht. Der französische Wissenschaftler Bruno Latour hat das auf den Punkt gebracht: „Alles spricht dafür, dass ein gewichtiger Teil der führenden Klassen (heute recht vage als „Eliten“ bezeichnet) zu dem Schluss gelangte, dass für ihn und für den Rest der Menschen nicht mehr genügend Platz vorhanden sei.“5 Darum ist es nutzlos, so zu tun als strebe man weiterhin einem gemeinsamen Horizont zu, an dem eine neue Zeit winkt, in der alle Menschen in gleichem Maße zu Wohlstand kommen würden. Konsequenterweise werden der hungernde Bauer in Malawi und die chronisch kranke Frau in Zukunft wohl immer weniger Schutz genießen. Wenn man Bruno Latours Prognose folgt, dann wird die Übereinkunft, dass es eine gemeinsame Sorgeverantwortung für die Schwachen gibt, morgen oder übermorgen in Frage stehen. Für die Frau im Rollstuhl. Für die Obdachlosen. Für verwirrte alte Menschen. Die Sorgeverantwortung gilt dann auch nicht mehr für den afrikanischen Bauern auf seinem verdorrten Acker, für Kinder aus Kriegsgebieten, für Hungernde und Geflüchtete. Diese Sorge erwuchs bei uns in Europa aus christlichen Orientierungen. Der Nachhall dieser Orientierungen hat unsere Kultur und unser Lebensgefühl lange bestimmt. Eine wilde Hoffnung, die von der lokalen Sozialpolitik bis zur globalen Entwicklungshilfe versprach, dass es allen besser und besser gehen solle. Dieses Welt-Verantwortungsbewusstsein verflüchtigt sich vor unseren Augen. Die Menschen, die in dreckigem Wasser, in verseuchter Luft, unter löchrigen Dächern zu überleben versuchen, werden aufgegeben. In ihren Flüchtlingslagern am Rande Europas können sie im Schlamm versinken. Auf Lesbos mussten im Dezember 2020 kleine Kinder gegen Tetanus geimpft werden, weil in dem neuen Lager (nachdem Moria abgebrannt war) die Zelte oft im Wasser stehen und die Kinder von Ratten gebissen werden.
Wann es auch die Frau im Rollstuhl bei uns erwischt oder den dementen Greis – das ist eine Frage der Zeit, die davon abhängt, wie dramatisch die Krise wird. In Pflegeheimen, bei den „Tafeln“, bei Hartz-IV-Kindern ist die Marginalisierung schon jetzt überdeutlich.
Mitten in der Coronapandemie weigern sich im März 2020 die reichen europäischen Staaten, die krisengeschüttelten Länder des europäischen Südens zu unterstützen. Mit einem offenen Brief appellieren italienische Politiker an Deutschland, („Cari amici tedeschi“, liebe deutsche Freunde), den europäischen Süden zu unterstützen. 30 Jahre lang sei die Wirtschaft das Einzige gewesen, was in der EU gezählt habe, jetzt sei es an der Zeit, das politische, kulturelle und menschliche Europa sichtbar zu machen. Der Appell verhallt erst einmal, die Starken bleiben zögerlich, rücken ein paar Kredite heraus. Gleichzeitig nutzt der amerikanische Präsident Trump die Coronakrise dazu, Umweltauflagen für die amerikanische Industrie zu kippen. Die Krise – die Coronakrise, die Klimakrise, die Wirtschaftskrise – wird die Starken stärken und die Schwachen noch weiter abstürzen lassen. Nach der Coronakrise wird alles grausamer sein. Es ist eine einzigartige Gelegenheit, die Kleinen und die Schwachen endgültig zum Verschwinden zu bringen. Während in Indien die Ausgangssperre dazu führt, dass Arme, die ihre Hütte nicht verlassen dürfen, verhungern, bauen sich reiche Eliten Rückzugsgebiete aus. Die Coronakrise verstärkt den Trend Wohlhabender, sich in gated communities zurückzuziehen, hinter Stacheldraht, videoüberwacht, im privaten Hochsicherheitstrakt. In der Coronakrise lassen sich amerikanische Eliten per Hubschrauber auf ihre Yachten oder in ihre Ferienhäuser am Meer bringen. Haushaltshilfen (coronagetestet) und alles, was man so braucht zum Essen und Leben, wird vom Helikopter gebracht. „Rette sich wer kann!“ ist die Devise. Ivanka Trump hat sich jüngst ein Haus in der Nähe von Miami gekauft: Auf der Halbinsel stehen 29 Villen, 13 Polizisten bewachen das Areal, das im Volksmund Milliardärs-Bunker genannt wird.6 Auch eine Art Lockdown. Am deutlichsten wird die neue Rücksichtslosigkeit in der Vorstellung einiger Superreicher, sie könnten dem Sumpf des ruinierten Planeten entfliehen, indem sie sich, wenn hier Schluss ist, mit Raketen in ein planetarisches Exil retten – auf irgendeinen neuen Planeten vielleicht. Es ist ein irrsinniger Plan, aber ein interessantes Gedankenexperiment, das kein Geringerer als Stephen Hawking zuerst propagiert hat. Elon Musk, der Tesla-Chef, will 2024 eine erste bemannte Raumfähre zum Mars schicken, um dort eine Stadt für eine Million Menschen zu bauen. In erster Linie für Personen, die sich das leisten können.7 In all dem wächst das Phänomen der Verabschiedung von der Idee der Gemeinschaft und der Verantwortung: Die Menschen auf der Flucht, die Hungernden, die Schwachen werden nicht mehr wahrgenommen als eine Aufgabe für die, die besser dran sind. Auch da hat die Coronakrise die Richtung gezeigt: Mit unfassbarer Geschwindigkeit wurden in Deutschland, Österreich und Frankreich Triagekonzepte ausgearbeitet: Wer kriegt ein Beatmungsgerät und wer nicht? Die Schwachen haben das Nachsehen. Und weltweit sind Prozesse der Absage an gemeinsame Verantwortung zu beobachten: Jait Bolsonaro, der brasilianische Präsident, lässt den Amazonas-Urwald abfackeln. Viktor Orbán, der ungarische Ministerpräsident, bleibt erbarmungslos gegen minderjährige Flüchtlinge in den Lagern an seinen Grenzen. Wir gewöhnen uns vielleicht zu schnell daran: Dass die Hoffnung zerstört wird – die Hoffnung, dass Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit eines Tages die Welt durchsäuert haben werden. Die Hoffnung, dass der Hunger aufhört und Ungerechtigkeit ausgelöscht sein wird, hat über uns geschwebt. Diese Hoffnung ist zur Illusion degradiert, sie ist abgestürzt und das damit verbundene Lebensgefühl zerbrochen.
Wie die Schwachen zu den ersten Opfern der Pandemie wurden
„Triage, das ist wie früher beim Autoquartett. Da heben wir auch alle unsere Karten auf den Tisch gelegt und verglichen: Wer hat den größten Hubraum, wer hat am meisten PS, wer fährt am schnellsten …“ So sieht das ein Oberarzt der Orthopädie im Zusammenhang mit der Coronakrise. Triage fragt bei der Einteilung von Verletzten im Krieg nach der Schwere der Verletzungen. Wer wird behandelt und wer nicht – wenn die Lazarettmöglichkeiten begrenzt sind? Allein die Vorstellung, es könne nicht genügend Intensivbetten geben, hat in der Coronakrise das Thema Triage auf den Tisch gebracht. Vorschläge nach dem Muster des Autoquartetts wurden eilig, ja eilfertig gemacht. Dialysepatienten, chronisch Herzkranke und Menschen mit Demenz sollen im Zweifelsfall zuerst aus der Intensivbehandlung genommen werden. In der Kaufmannsprache wird auch von „Triage“ gesprochen, und es ist damit der Ausschuss bei Kaffeebohnen gemeint. Um Ausschuss also geht es. Die Schwachen zuerst: Das droht, wenn es um das Aussortieren geht. Solange die Leistungsgesellschaft gut dasteht, werden die Alten gehätschelt, die Behinderten in die Inklusion gelockt und die Kranken mit medizinischen Möglichkeiten zugeschüttet. Kommt die Krise, dreht sich der Wind. Die Kernbotschaft der Leistungsgesellschaft liegt dann wieder offen auf dem Tisch: Eigentlich gehört nur dazu, wer leistet. Wie das Wort „Leistungsgesellschaft“ schon sagt: Wer nichts leistet, lebt eigentlich nicht. Die Leistungsgesellschaft und ihre Schwachen: Das ist ein heikles Bündnis. Es hält nur solange, wie die Sonne der Wohlstandsgesellschaft scheint. Die Coronakrise zeigt es und die nächste Krise, die kommt, die Klimakrise, wird die fragile Situation der Schwachen erst recht sichtbar machen.
Schauen wir zurück auf diese Pandemie, die mit dem Coronavirus über uns gekommen ist. Sie hat in die Betriebsamkeit der globalen Wirtschaft und der globalen Lebensverhältnisse mit nie erfahrener Radikalität eingegriffen. „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“ Den alten Spruch der Arbeiterbewegung hat ein Virus, der mit bloßem Auge nicht zu erkennen ist, in die Tat umgesetzt. Und alles, was wir für unmöglich gehalten haben, geschah über Nacht vor unseren Augen. Schluss mit der Mobilität. Schluss mit dem Konsum. Die Natur atmete auf. Eine Wirtschaftskrise ist die Folge gewesen. Verzweiflung und Hoffnung waren da. Die Verzweiflung all derer, die ihre Existenzgrundlage verloren haben, die Hoffnung all derer, die auf einen Neuanfang setzten. Eine erstaunliche, weltweite Entschlossenheit war zu erkennen. Solidaritäten wurden in allen Ecken und allen Enden sichtbar. Und nach dem Ende der Pandemie kommt das große Aufatmen? Vieles hat die Pandemie verändert. Neue Gemeinschaftlichkeiten sind entstanden. Aber übersehen wurde (bisweilen), dass die Schwachen die dunklen Konsequenzen zuerst erfahren haben. Und zugleich gilt das Umgekehrte: Die Schwachen wurden für die, die das hören wollten, zum Leuchtturm: Sie gaben Orientierung in der Frage: In welche Richtung wollen wir uns bewegen? Werden die die Zukunft bestimmen, die die Spaltung zwischen stark und schwach vorantreiben, oder werden die Schwachen zum Salz in der Suppe? In der Coronakrise wurde die Ouvertüre zu dieser Oper gespielt. Die erwartbaren ökonomischen Krisen und insbesondere die Folgen des Klimawandels werden es zutage bringen: Welche Gesellschaft kriegen wir? Welche Gesellschaft wollen wir? Die Kraft einer Gesellschaft misst sich an der Frage, ob sie die Welt aus der Perspektive der Schwachen versteht oder ob sie diese Schwachen als Störung, als Nebensache, als Unkraut behandelt. Die Schwachen zuerst also.
Die Schwachen sind nicht die Schädiger. Sie sind oft und schnell Opfer der Verwüstungen, aber selten haben sie den Willen und die Macht, die Welt in Trümmer zu legen. Vielleicht muss man die berühmte und bekannte Geschichte, die Walter Benjamin erzählt, neu erzählen? Walter Benjamin kommentiert ein Bild von Paul Klee, das „Angelus Novus“ genannt ist. Die aquarellierte Zeichnung ist 1920 entstanden. Klee hat eine Reihe von Engeln gezeichnet, die – wie er sagt – sich erst im „Vorzimmer der Engelschaft“ befinden. Angelus Novus: Ein übergroßer Kopf ist zu sehen, angedeutete Flügel, die Haare sehen aus wie lockig eingerollte Papierstreifen, zugleich wirken sie, als wären sie vom Sturm zerzaust.8 Walter Benjamin schreibt zu dem Angelus Novus: „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“9
Der Angelus Novus ist dem Sturm wehrlos ausgeliefert. Er ist kein Sieger. Vielleicht spüren wir in den Coronazeiten deutlicher als sonst, dass wir einem Sturm, der uns vor sich hertreibt, ausgeliefert sind? Dass wir auf Trümmer schauen, die wir nicht zusammenzufügen imstande sind? Und dass dieses Corona-Unheil zu einer Geschichte der Zerstörung gehört, an der wir mitgewirkt haben? Haben wir nicht allen Lebewesen ihre Heimat, ihre Orte, ihre Zuflucht genommen? Ob das nun stimmt, dass das Virus von einem Wildtiermarkt in Wuhan stammt oder nicht: Irgendetwas Kleines, Unsichtbares, Virusartiges legt uns lahm. Der Krieg gegen das Virus, den wir führen, setzt das Muster fort, das wir gewohnt sind: Unterwerfung, Kontrolle. Mit welcher Vehemenz jetzt Bundesminister, Ministerpräsidentinnen und Virologen davon sprechen, dass die Schwächsten zuerst geschützt werden müssten, dort müsse das Isolieren, das Kontrollieren, das Impfen beginnen: Setzt sich da das alte Muster fort, das Muster der Stärke, das Kriegsmuster, mit dem wir den Planeten ja schon überzogen haben? Ja, die Schwachen müssen zuerst geschützt werden. Aber ihre Stimme darf damit nicht zum Schweigen gebracht werden, eine Stimme, die flüstert: Wäre nicht etwas anderes dran? Würdet ihr auf uns hören …
Vielleicht können die Schwachen verstanden werden als eine Art Antimaterie in der Gesellschaft der Starken? Vielleicht sind sie der flackernde Vorschein einer konvivialen Gesellschaft, in der Selbstbegrenzung zur Grundmelodie wird? Die Schwachen als Symbol, Signal, Verkörperung einer neuen Orientierung?
Der chinesische Philosoph Laotse, der im 6. Jahrhundert vor Christus gelebt haben soll, hat gesagt:
„Das Sanfteste auf Erden
besiegt das Härteste auf Erden.“ 10
Widerspricht der Satz all unseren Erfahrungen? Er widerspricht jedenfalls dem, was in der Welt gilt. Und dennoch ist er – wie wir geradezu instinktiv fühlen – wahr. Vielleicht sagt er, was wir hoffen, was wir wünschen, was wir ersehnen? Die große Coronakrise, die die Welt im Jahr 2020 lahmgelegt hat, zeigt, wie ein mikroskopisch kleines Virus die Welt verändern kann. Sie zeigt aber auch, dass die Schwächsten der Gesellschaft (die Alten, die Menschen mit Demenz, die Behinderten, die Pflegebedürftigen) in der Gefahr sind, zuerst den Schutz zu verlieren. Mitten in der Krise entwickeln – wie oben bemerkt – Mediziner Triage-Strategien. So wird in der Coronakrise der Vorschlag gemacht, Dialysepatienten, schwer Herzkranke oder Menschen mit Demenz aus Intensivstationen herauszunehmen, wenn es zu wenig Intensivbetten gibt. „Das Sanfteste auf Erden besiegt das Härteste auf Erden.“ Sieht man da nicht, was für einen schwärmerischen Unsinn Laotse redet? Bemerkenswert ist aber, dass nahezu alle großen Philosophien und alle bedeutenden Religionsstifter etwas Ähnliches wie Laotse sagen. Paulus, der Apostel, schreibt an die Gemeinde in Korinth: „Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen: denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“
„Das Sanfteste auf Erden besiegt das Härteste auf Erden.“ Der Satz ist ebenso weltfremd wie der des Paulus: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Alle (Macht-)Tendenzen, die wir sehen und beobachten, belegen das Gegenteil. Und dennoch hält Laotse ebenso wie Paulus an der Hoffnung fest, die die Welt auf den Kopf stellen würde: Dass das Schwache, das Sanfte, das Wehrlose das ist, was Zukunft hat. Hoffnung lebt aus diesem Paradox. Aus der Hoffnung, dass die Welt nach der nächsten Krise nicht grausamer, sondern humaner wird. „Ist aber etwas auf diese Weise stark geworden, erstarrt es, denn es ist geistlos, und Geistlosigkeit steht nahe dem Ende.“ (Laotse)11 Das leuchtet unmittelbar ein. Wir leben in einer von Geistlosigkeit bedrohten Leistungsgesellschaft. Wie kommen wir da raus?
Die Aphorismen des Laotse können wir lesen als ein Manifest der Schwäche, die als eine Arznei gegen Erstarrung, Geistlosigkeit, Oberflächlichkeit und Schwermut geeignet sind. Aber auch als das Programm für eine neue Welt, in der die Heroen vom Sockel gestürzt werden, damit die Antihelden auf den Trümmern des Schönen und Starken etwas bilden können, was eine lebenswerte Welt einläutet. Sehr mühsam müssen wir die sprachlichen Bausteine dafür suchen oder neu erfinden. Vielleicht fängt das auch mit dem Schweigen an, von dem Ivan Illich spricht? „Mit meinem Argument für beispielhaftes Schweigen will ich nicht vernünftige Argumente entmutigen, die die Tatsache festhalten, warum geschwiegen wird. Aber ich bin mir der Anarchie bewusst, mit der dieses Schweigen droht. Wer schweigt, wird unregierbar, Schweigen breitet sich aus.“12 Das Schweigen der Schwachen – darauf sollen wir lauschen. Die Starken reden und reden und reden. Die Hinfälligen in den Pflegeheimen reden nicht. Die Menschen mit Demenz reden Unverständliches. Wir brauchen Stille, um sie wahrnehmen zu können. Und noch einmal: Corona ist das globale Trainingslager für das, was kommt.
Darmowy fragment się skończył.