Zentrale Aspekte der Alten Kirchengeschichte

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Zentrale Aspekte der Alten Kirchengeschichte
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Johannes Hofmann

Zentrale Aspekte der Alten Kirchengeschichte

Theologische Lehr- und Lernbücher

Herausgegeben von Jürgen Bärsch, Manfred Gerwing, Johannes Hofmann und Lothar Wehr

Johannes Hofmann

Zentrale Aspekte der Alten Kirchengeschichte


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

©2011 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter-verlag.de

Umschlaggestaltung Peter Hellmund

Umschlagbild Mittelalterliche Darstellung Papst Gregors des Großen

© ÖNB Wien: Cod. 1845, fol. 75r

ISBN 978-3-429-03467-2 (print)

ISBN 978-3-429-04627-9 (PDF)

ISBN 978-3-429-06036-7 (ePub)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Technische Hinweise zur Nutzung der eBook-Version


1.Die Anfänge der Kirche
1.1Die Ausgangssituation
1.2Das Urchristentum im Judentum
1.2.1Die pluralistische Gestalt des Judentums und die ersten Christen
1.2.2Sprachlich-kulturelle Gruppierungen im Urchristentum
1.3Die Lösung der Kirche von der Synagoge
1.4Anlass und Anfänge der frühchristlichen Mission
1.5Die Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten
1.5.1Palästina und Syrien
1.5.2Ägypten
1.5.3Griechenland und Kleinasien
1.5.4Das westliche Nordafrika
1.5.5Die westlichen Provinzen des Römischen Reichs
1.5.6Rom und Italien
1.6Soziologische, politische, kulturelle und religiöse Gegebenheiten für die Mission: günstige und ungünstige Bedingungen
2.Die Entstehung und Entwicklung der kirchlichen Ämter und Dienste in den ersten drei Jahrhunderten
2.1Urchristliche Vorgaben
2.2Die Verfassung der ältesten Gemeinden
2.2.1Das judenchristliche Modell in der Gemeinde von Jerusalem: Von den Zwölf zu Jakobus dem Herrenbruder und den Presbytern
2.2.2Das heidenchristliche Modell
2.2.2.1Propheten, Lehrer und Apostel in der Gemeinde von Antiochien
2.2.2.2Der Apostel Paulus und die Episkopen und Diakone in seinen heidenchristlichen Gemeinden
2.2.2.3Apostel, Propheten und Lehrer sowie Episkopen und Diakone in den Gemeinden der Didache
2.3Die Verschmelzung des juden- und des heidenchristlichen Modells
2.3.1Episkopen, Presbyter und Diakone im Brief des Clemens von Rom
2.3.2Der Bischof, die Presbyter und die Diakone in den Pastoralbriefen
2.4Der eine Bischof, die Presbyter und die Diakone bei Ps.-Ignatius
2.5Frauen als kirchliche Autoritäten in altkirchlicher Zeit
2.5.1Die Anfänge
2.5.2Ein frühes Beispiel: Christliche Frauen als Autoritäten kleinasiatischer Gemeinden des 1. und 2. Jahrhunderts
2.5.3Restriktive Tendenzen in den Pastoralbriefen
2.5.4Die Witwen und Gemeindejungfrauen als kirchlicher Stand
2.5.5Die Diakonissinnen – Inhaberinnen eines kirchlichen Amts?
2.6Die kirchlichen Ämter und Dienste in der Traditio Apostolica
2.6.1Der Klerus in der Traditio Apostolica
2.6.1.1Der Bischof
2.6.1.2Der Presbyter
2.6.1.3Der Diakon
2.6.1.4Der Bekenner
2.6.2Die Dienste in der Traditio Apostolica
2.6.2.1Die Witwe
2.6.2.2Der Lektor
2.6.2.3Die Jungfrau
2.6.2.4Der Subdiakon
2.6.2.5Das mit der Gabe der Heilung beschenkte Gemeindemitglied
3.Theorie und Praxis der kirchlichen Einheit in den ersten drei Jahrhunderten
3.1Die Ermittlung der vertikalen Einheit mit dem Ursprung durch Feststellung von apostolischer Tradition und Sukzession
3.2Die Feststellung der horizontalen kirchlichen Einheit ( communio) durch Kommunionbriefe und Communio-Listen
3.3Die Anfänge der Ermittlung vertikaler und horizontaler Einheit durch die Regionalsynoden des späten 2. und des 3. Jahrhunderts
4.Kirche und Staat zwischen Konfrontation und Kooperation bis zum Tod Theodosius’ I. († 395)
4.1Die altkirchliche Loyalität gegenüber dem römischen Staat und ihre Grenzen
4.2Die heidnischen Vorwürfe gegen die Christen als Ursachen der Christenverfolgungen
4.3Der Verlauf der Christenverfolgungen
4.3.1Die zeitlich und regional planlos auftretenden Verfolgungen bis zum Jahre 249
4.3.2Die seit 249 auf Reichsebene systematisch durchgeführten Verfolgungen
4.4Die sogenannte Konstantinische Wende und die Eingliederung der Kirche in das Römische Reich
4.4.1Die Vorgeschichte der konstantinischen Religionspolitik
4.4.2Erste Ansätze der neuen Religionspolitik Kaiser Konstantins
4.4.3Kirche und Staat während der Alleinherrschaft Kaiser Konstantins
4.4.4Von der religio licita zur Staatskirche
5.Die Entstehung und Entwicklung des römischen Primatsanspruchs und der Reichspatriarchate bis zum Konzil von Chalzedon (451)
5.0Die Hauptkirchen der ersten drei Jahrhunderte – eine Bestandsaufnahme
5.1Stufe 1: Die hohe kirchliche Bedeutung der römischen Kirche bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts
5.2Stufe 2: Rom – seit der Mitte des 2. Jahrhunderts ein Ort privilegierter Tradition
5.2.1Die in Rom erstmals beantwortete Frage nach dem Umfang des Neuen Testaments
5.2.2Die in Rom erstmals beantwortete Frage nach den Grenzen der Kirche
5.3Stufe 3: Rom, Alexandrien, Antiochien und Karthago – seit dem 3. Jahrhundert auf dem Weg zu regionalen Zentren der Communio
5.3.1Die Hauptkirchen Rom, Alexandrien, Cäsarea/Jerusalem und Ephesus während des Osterfeststreits des ausgehenden 2. Jahrhunderts
5.3.2Die Hauptkirchen Karthago, Rom, Alexandrien und Antiochien während des Bußstreits Mitte des 3. Jahrhunderts
5.3.3Die Hauptkirchen Karthago, Rom, Cäsarea und Alexandrien während des Ketzertaufstreits Mitte des 3. Jahrhunderts
5.3.4Das Zusammenspiel der Hauptkirchen Antiochien, Rom und Alexandrien im Fall des Paul von Samosata im Jahr 268
5.3.5Der Einfluss der sogenannten Konstantinischen Wende und der beiden ersten ökumenischen Konzilien auf die Stellung der alten Hauptkirchen im Römerreich und auf den Aufstieg Konstantinopels
5.3.6Das Eintreten des Julius von Rom († 352) für gesamtkirchliche Mitverantwortung und gegen regionale Autonomie
5.3.7Die westliche Anerkennung Roms als Revisionsinstanz auf der 343 einberufenen Synode von Sardica
5.3.8Rom – seit dem Abschluss der arianischen Wirren (um 370) Zufluchtsort der östlichen Kirchen in Notsituationen
5.4Stufe 4: Die Ausbildung des römischen Primats und der Reichspatriarchate vom Ende des 4. Jahrhunderts bis zum Konzil von Chalzedon (451)
5.4.1Die Weiterentwicklung der römischen Primatsidee im Westen seit dem Ende des 4. Jahrhunderts
5.4.2Der geistig-ideologische Hintergrund: Die Roma christiana beerbt die Roma aeterna
5.4.3Der Autoritätsanspruch der ersten drei ökumenischen Konzilien (325-431) und Roms Selbstverständnis auf denselben
5.4.4Das Mit- und Gegeneinander der römischen Kirche und der Reichspatriarchate auf dem 451 abgehaltenen ökumenischen Konzil von Chalzedon
5.4.5Rückblick und Ausblick
6.Die ersten vier ökumenischen Konzilien
6.1Das 325 abgehaltene ökumenische Konzil von Nizäa
6.1.1Die Vorgeschichte des Konzils von Nizäa
6.1.2Das Konzil von Nizäa
6.1.3Der Glaube von Nizäa im Widerstreit
6.1.4Die Lösung der nizänischen Frage durch die Kappadokier
6.2Das 381 abgehaltene ökumenische Konzil von Konstantinopel
6.2.1Die Vorgeschichte des zweiten ökumenischen Konzils
6.2.2Das Konzil von Konstantinopel
6.2.3Die Rezeption des Konzils von Konstantinopel
6.3Das 431 abgehalten ökumenische Konzil von Ephesus
6.3.1Die Vorgeschichte des Konzils von Ephesus: zwei unterschiedliche Christologien
6.3.2Das Konzil von Ephesus
6.3.3Die Rezeption und Nichtrezeption des Konzils von Ephesus oder die erste bleibende Kirchenspaltung
6.3.3.1Die Ausbildung der Apostolischen Kirche des Ostens
6.4Das 451 abgehaltene ökumenische Konzil von Chalzedon
6.4.1Die Vorgeschichte des Konzils von Chalzedon
6.4.2Das Konzil von Chalzedon
6.4.3Die Rezeption und Ablehnung des Konzils von Chalzedon oder die zweite bleibende Kirchenspaltung
6.4.3.1Die Ablehnung in der koptischen, nubischen und äthiopischen Kirche
6.4.3.2Die Ablehnung in der armenischen Kirche
6.4.3.3Die Ablehnung in der westsyrischen oder jakobitischen Kirche
6.4.3.4Die Rezeption des Konzils von Chalzedon in der Reichskirche

Liste der frühen Bischöfe von Rom bzw. der Päpste

 

Liste bedeutender Kirchenväter und altchristlicher Autoren in chronologischer Reihenfolge

 

Liste der römischen Kaiser

Abbildungsnachweis

Vorwort

Mit diesem Werk soll Studierenden, Theologen und einem an der Theologie interessierten Kreis ein als gedrucktes Buch, aber auch als eBook publiziertes Lehr- und Lernbuch der Alten Kirchengeschichte zur Verfügung stehen, das auf dem neuesten Forschungsstand jene Themen behandelt, die sich im Lehrbetrieb bayerischer Universitäten als zentral erwiesen haben, weil sie das Leben und die Theologie der Kirche bis auf den heutigen Tag prägen.

Demnach geht es hier um die frühe Ausbreitung der Kirche (Kapitel 1), ihre ortskirchliche Organisation (Kapitel 2) und ihre einheitsstiftenden Prinzipien und Institutionen (Kapitel 3), um die frühe Begegnung zwischen Kirche und römischem Staat (Kapitel 4), die großräumige Organisation der Alten Kirche (Kapitel 5) und den auf den ersten vier ökumenischen Konzilien entfalteten Glauben der Kirche (Kapitel 6). Der künftige zweite Band gilt dem altkirchlichen Gottesdienst (Kapitel 7) und dem Leben und Werk der überragenden abend- und morgenländischen Väter Augustinus von Hippo Regius (Kapitel 8) und Johannes von Damaskus (Kapitel 9).

Zwischentitel untergliedern die einzelnen Kapitel detailliert, um so rasch und übersichtlich einen Überblick über den Inhalt des Bandes zu vermitteln. Zur Förderung der Einprägsamkeit werden neben wichtigen Begriffen, Namen und Orten auch zentrale Aussagen des Textes fett markiert. Ebenso veranschaulichen durch farbige Hinterlegung hervorgehobene Quellentexte, aber auch Karten, Graphiken, Bilder und Tabellen den behandelten Stoff. Papst-, Kaiser-, Kirchenväter- und Autorenlisten erleichtern die chronologische Orientierung. Ein Register erübrigt sich, da die Suchfunktion der eBook- Version entsprechende Recherchen ermöglicht.

Unter Verzicht auf einen aufwendigen Anmerkungsapparat wird die neuere und neueste Standardliteratur – je nach Länge und Dichte der Ausführungen – am Ende des jeweiligen Kapitelabschnitts aufgelistet und ihr Inhalt bei Bedarf nach den jeweiligen Seitenangaben in Klammern erschlossen, sodass dort Hinweise zum vertieften Studium zu finden sind. Die wenigen Fußnoten verweisen nur auf wörtliche Zitate, auf unverzichtbare, in der Standardliteratur nicht erwähnte Einzelergebnisse der neueren Forschung sowie auf andere Kapitelabschnitte des vorliegenden Buchs, die den entsprechenden Sachverhalt vertiefter behandeln und im eBook durch Hyperlinks erreichbar sind.

Für die Erstellung des Manuskripts bin ich Frau Sonja Eisenschmid und Frau Ursula Niefnecker zu großem Dank verpflichtet. Ebenso danke ich Herrn Cand. theol. Anselm Blumberg herzlich für die arbeitsaufwendige Bearbeitung der Quellentexte, Karten, Graphiken, Bilder und Tabellen. Schließlich gilt mein herzlicher Dank auch Herrn Stud. theol. Martin Schwerdt für das Lesen der Korrekturen.

Theißing, den 22. Oktober 2011 Johannes Hofmann

Technische Hinweise zur Nutzung der eBook-Version

Im eBook ist vom Inhaltsverzeichnis aus der Text der einzelnen Kapitel und Unterkapitel jeweils durch einen Klick auf die linke Maustaste erreichbar, während man durch Gedrückthalten der Alt-Taste und Drücken der linken Pfeiltaste wieder zum Inhaltsverzeichnis zurückkehren kann. Entsprechendes gilt auch für Hyperlinks, mit deren Hilfe nicht nur jeweils vertiefende Abschnitte des Buchs, sondern auch Abbildungen und vollständige Titel der abgekürzten Literatur zu erreichen sind. Die im Längsformat publizierten Karten lassen sich schließlich unter „Anzeige“ → „Ansicht drehen“ im Uhrzeigersinn ins Querformat drehen.

1. Die Anfänge der Kirche
1.1 Die Ausgangssituation

Vor der Beschäftigung mit den Anfängen der Kirche ist zunächst festzuhalten, dass die Kirche ihren letzten Grund in Jesus Christus hat, in jenem historisch fassbaren Jesus von Nazaret, dessen Wirken der Evangelist Lukas gelungen resümiert:


Jesu Wirken ist also von der Verkündigung der Frohen Botschaft vom nahen Gottesreich geprägt, von seiner Realisierung durch die Heilung kranker und von Dämonen besessener Menschen und von der Sammlung einer Schar von Frauen und Männern um sich.

Diese Kreise lösen sich nach der Katastrophe der Kreuzigung nicht auf, sondern entfalten intensives Gemeindeleben und auffällige Verkündigungstätigkeit. Wie die neutestamentlichen Quellen einmütig bezeugen, hat das einen unverzichtbaren Grund: Der schmählich hingerichtete Jesus ist auferstanden. Er erscheint Einzelnen sowie kleineren und größeren Gruppen seiner Anhänger und beauftragt sie zur Fortsetzung seines Erlösungswerks: zum Festhalten an seiner Gemeinde und zur weltweiten Ausbreitung seiner Frohen Botschaft. Aufgrund der Eigenart, Spärlichkeit und Zufälligkeit weiterer Zeugnisse, die sich aus den Schriften des Neuen Testaments (z.B. 1 Kor 15,3-8; Mk 16,1-8; Mt 28,1-20; Lk 24,1-53 u.a.), aus frühchristlichen Werken (z.B. Tertullian, Petrus-Evangelium) und aus außerchristlichen Jesuszeugnissen (z.B. Tacitus, Flavius Josephus, Sueton und Plinius der Jüngere) erschließen lassen, kann man den Ablauf der Osterereignisse kaum widerspruchsfrei rekonstruieren. Wenn sich die dialektisch-kerygmatische Theologie in dieser Frage allerdings mit dem Osterglauben der Jünger zufriedengibt, dann greift ihr theologischer Ansatz zu kurz. Mit Dassmann ist vielmehr zu fragen, „wie die Jünger und ersten Anhänger Jesu [denn] zum Osterglauben gekommen sind. Das Faktum des Osterglaubens fordert doch einen Grund; und erst von der Tragfähigkeit dieses Grundes hängt es ab, wie belangvoll und verpflichtend der Osterglaube der Jünger ist“1. Tatsache ist, dass der auferstandene Jesus unter seinen Anhängern einen gemeindestiftenden Impuls auslöst, dessen Wirkung bis heute in der Kirche wahrnehmbar ist.

Abb. 1 Im 6. Jahrhundert entstandenes Mosaik in der Basilika S. Appollinare Nuovo zu Ravenna mit dem Engel, der den Frauen am leeren Grab die Auferstehung Jesu verkündet.

Wie sieht diese von Jesus gewollte Urkirche aus? Festzuhalten ist zunächst der Befund Hengels, „daß im Vergleich mit anderen Bereichen und Epochen der antiken Geschichte […] die Quellenlage für die ersten Jahrzehnte des Urchristentums, von Johannes dem Täufer bis zur Neronischen Verfolgung oder bis zum Ausbruch des jüdischen Krieges [66 n. Chr.], im Grunde so schlecht garnicht ist“2. Denn in den Büchern des Neuen Testaments findet sich neben „den Evangelien, der Apostelgeschichte und den echten und sekundären Paulusbriefen […] eine Fülle anderer, meist pseudepigraphischer Schriften aus der Zeit etwa zwischen 70 und 110 n. Chr., aus denen sich Rückschlüße auf die ‚Gründerzeit‘ ziehen lassen; hinzu kommen [frühchristliche] Nachrichten bei Papias, Hegesipp und Euseb sowie Notizen [nichtchristlicher Herkunft] bei Josephus, Tacitus, Sueton, dem jüngeren Plinius und aus der rabbinischen Tradition“3. Darüber hinaus liefern Befunde aus der jüdischen und hellenistischen Umwelt, geschöpft aus den Funden von Qumran (vgl. Abb. 2), aus den gnostischen Texten von Nag Hammadi und zahlreichen anderweitigen Inschriften und Papyri, ergänzende Hilfsmittel zur historischen Rekonstruktion. Freilich ist bei der Interpretation der neutestamentlichen Quellen zu berücksichtigen, dass sich ihre Verfasser zwar als „Geschichtsschreiber“ oder besser als „Geschichtserzähler“ verstehen, dass sie ihre Nachrichten aber in erster Linie in den Dienst der Christus-Verkündigung stellen und sie daher sprachlich und erzählerisch entsprechend formen.

Abb. 2 Fragment der Damaskusrolle, einer der in Qumran aufgefundenen Schriften.

Zunächst bezeugen die geographischen Angaben des Neuen Testaments, dass die ersten Christen nicht nur Mitglieder der Jerusalemer Urgemeinde sind. Mehrere geographisch voneinander unterschiedene Gemeinden haben vielmehr in den vier Evangelien ihre jeweilige lokale Jesus-Überlieferung festgehalten. So erscheint der Auferstandene den Jüngern z.B. nicht nur in Jerusalem, sondern auch in Galiläa. „Solche Ortsangaben in alten biblischen Erzählungen sind bisweilen ein Signal dafür, daß es an diesem Ort schon früh eine Gemeinde gab, die die Jesus-Erinnerung dieses Textes“4 aufbewahrt hat.

Sekte der Nazoräer nennen die jüdischen Gegner laut Apg 24,5 die Anhänger des Jesus von Nazaret, die sich unter seinem Namen in Jerusalem zusammenschließen. Als „“, als Versammlung des von Jesus herausgerufenen endzeitlichen Gottesvolks bezeichnen sich die ersten Judenchristen selbst. Sie verstehen sich also nicht als Juden, die nur die Überzeugung von Jesus, dem Messias, miteinander teilen. Ihre Überzeugung führt sie vielmehr regelmäßig zu religiösen Versammlungen zusammen und macht sie so zur Gemeinde Jesu, zur Kirche, wie man im Deutschen sagt.

Diese Überzeugung beruht auf der Erfahrung, dass der Gekreuzigte auferstanden ist und lebt. Sie greift nach und nach um sich (vgl. 1 Kor 15) und entwickelt sich „zum Angelpunkt der apostolischen Verkündigung“5. Bestätigt und vertieft wird sie den Jerusalemer Urautoritäten der Zwölf durch die Geistausgießung, die als ein „von der ganzen urchristlichen Überlieferung bezeugte[s] Faktum“6 zu betrachten ist. Seither predigen die Zwölf, dass der Auferstandene mit dem irdischen Jesus von Nazaret identisch ist, und dass deshalb alles, was Er vor seinem Sterben in Wort und Tat gelehrt hat, Gültigkeit und Heilsmächtigkeit besitzt. Denn Gott hat schon durch den irdischen Jesus Macht- und Wunderzeichen gewirkt, Gott selbst hat Ihn auferweckt, kurz: Jesus ist der verheißene Messias. In der urchristlichen Predigt legt man Jesus daher schon bald den Christus-Titel, das griechische Synonym für Messias, bei. „Die Apostel predigen das Evangelium ‚von Jesus Christus‘ ([Apg] 5,42), ‚Jesus Christus‘ ist es, der durch die Apostel heilt (9,34). [Und] weil Jesus der Messias ist, heißt er auch der Kyrios, [der Herr], zu dem Gott selbst ihn gemacht hat (2,36); er gehört daher an die Seite Gottes und man kann ihm den Kyriostitel mit der gleichen Selbstverständlichkeit geben wie Gott selbst (1,21; 7,59; 9,1.10ff.42; 11,17).“7

Unter dieser Voraussetzung liegt es auf einer Linie, wenn sich die Urgemeinde auch im Gebet an den Kyrios wendet, sodass schon Paulus in 1 Kor 16,22 eines dieser Urgebete überliefert: „Marana tha (Herr, komme).“ Damit macht sich zugleich ein entscheidendes Element des urchristlichen Kerygma bemerkbar: das in orthodoxen jüdischen Ohren gotteslästerlich klingende Bekenntnis, dass Jesus mit Gott identisch ist. Der Scheideweg zwischen Judentum und Christentum zeichnet sich hier ab, wenn davor auch noch eine längere gemeinsame Wegstrecke liegt.

BAUS, Karl, Von der Urgemeinde zur frühchristlichen Großkirche (= Hubert Jedin (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte 1) Freiburg Basel Wien 1962, 69-479; hier 92-101.

BROX, Norbert, Kirchengeschichte des Altertums, Düsseldorf 19924, 9-12.

1.2 Das Urchristentum im Judentum
1.2.1 Die pluralistische Gestalt des Judentums und die ersten Christen

Zweifellos hält man das Christentum zunächst für eine der vielen Sekten, Gruppierungen oder Bewegungen des Judentums. Denn innerhalb des Judentums ist man schon lange religiöse Vielfalt gewohnt. So bestehen beispielsweise erhebliche Gegensätze zwischen den Pharisäern und den Sadduzäern. Die Pharisäer bilden jene Gruppierung, die sich – in Abgrenzung zur römischen Oberherrschaft – am stärksten um die Aufrechterhaltung des theokratisch konstituierten Charakters der jüdischen Volksgemeinschaft bemüht und daher hellenistisch-heidnische Einflüsse konsequent abwehrt. Sie halten sich streng an das mosaische Gesetz (die fünf Bücher des Mose) sowie an die für sie normstiftende schriftgelehrte Auslegungstradition desselben. Selbstverständlich ist ihnen auch der Glaube an die Auferstehung der Toten und an die Engel.

Die zumeist führenden priesterlichen Aristokratengeschlechtern angehörenden Sadduzäer lassen dagegen nur das mosaische Gesetz gelten und fühlen sich nicht an die schriftgelehrte Überlieferung gebunden. Folglich verwerfen sie z.B. den Glauben an die Auferstehung, da sich diese Lehre erst in den verhältnismäßig jungen Büchern des Alten Testaments findet und daher für sie nicht verbindlich ist.8

Zu erwähnen ist schließlich die Gruppe der Zeloten oder Eiferer. Sie wollen dem Gesetz in Treue, aber in einer betont kämpferischen, martyriumsbereiten Haltung dienen, die alles Heidnische aggressiv zurückweist. Sie lehnen es ab, dem römischen Kaiser Steuern zu zahlen und rufen zum bewaffneten Widerstand gegen die heidnische Fremdherrschaft auf, da der Gehorsam gegenüber dem mosaischen Gesetz in diesem Fall zu einem heiligen Krieg verpflichte.

In diesem pluralistischen jüdischen Milieu, das in Wirklichkeit noch viel bunter war, wurzelt das junge Christentum. Folglich finden auch Vertreter der aufgezählten Gruppierungen den Weg zur christlichen Gemeinde. Als prominenter Pharisäer kann z.B. Paulus namhaft gemacht werden. Gläubig gewordene Mitglieder der sadduzäischen Priesterklasse werden in Apg 6,7 genannt. Unter den Zeloten zählt schließlich Simon der Zelot bereits in vorösterlicher Zeit zu den von Jesus erwählten Zwölf.

Angesichts dieser Phänomenologie des zeitgenössischen Judentums stellen die ersten christlichen Gemeinden eine Gruppierung unter vielen dar. Sie sind zunächst nichts Besonderes in ihrer jüdischen Volksgemeinschaft. Sie glauben an den einen Gott Israels, ihre heiligen Schriften sind die der Juden, der Jerusalemer Tempelkult ist der ihre und ebenso folgen sie dem mosaischen Gesetz. Sogar die wichtigsten Elemente des am Sabbat üblichen Synagogengottesdienstes, die Psalmen, Schriftlesungen, ihre Auslegung und entsprechende Gebete, bewahren sie in ihren gottesdienstlichen Versammlungen. Selbst die endzeitliche Ausrichtung der frühen Christen hat nichts Einmaliges an sich und findet Parallelen im zeitgenössischen Judentum. So hätten die frühchristlichen Gemeinden innerhalb des Judentums das bleiben können, wofür man sie zunächst hielt: die Sekte der Nazoräer.

Freilich löst Jesus von Nazaret innerhalb des Judentums eine eigene Dynamik aus. Zwar halten die Nazoräer am jüdischen Monotheismus fest, identifizieren aber auch Jesus mit Gott. Ebenso ist die Heilige Schrift der Juden die ihre, aber sie legen sie auf Jesus Christus hin aus. In gleicher Weise strukturieren sie den Ablauf ihrer Gottesdienste nach jüdischem Vorbild, aber ihr heiliger Tag ist nicht der Sabbat, sondern der erste Tag der Woche, der Sonntag (vgl. Apg 20,7). Schließlich ist auch ihre endzeitliche Ausrichtung schon festgelegt. Man erwartet nicht eine nach traditionellen Vorstellungen beschriebene Messiasgestalt, sondern hat in Jesus von Nazaret den Messias bereits gefunden. Hinzu kommt die Lehre dieses Jesus, die die Geister scheidet. Eine Neuerung ist auch die Taufe auf den Namen des Herrn Jesus als Aufnahmeritus in ihre Gemeinschaft (vgl. Apg 19,5). Vor allem brechen die ersten Christen am ersten Tag der Woche in ihren Häusern das Brot als eucharistische Vergegenwärtigung der rettenden Tat Gottes an Jesus Christus und vollziehen dieses Gedächtnismahl unter Ausschluss aller nicht Getauften.

So unterscheiden sich die ersten Christen schon deutlich vom zeitgenössischen Judentum. Dennoch fühlen sie sich im Judentum beheimatet und begreifen sich als endzeitliches Ereignis innerhalb des Volkes Israel. In der jungen Kirche – so ist man überzeugt – hat das auf die endzeitliche Vollendung ganz Israels ausgerichtete Wirken Gottes bereits begonnen. Folglich versteht man sich als neues Israel, als den von Gott schon hergestellten Kern seines Volks, um den sich künftig ganz Israel sammeln sollte, indem es den neuen Weg Jesu annehmen und zum Glauben an Ihn kommen werde. Die junge Gemeinde sieht sich daher zunächst zu den Söhnen und Töchtern Israels gesandt. Die Weigerung Israels, den Jesusglauben anzunehmen, führt dann aber zur Heidenmission.

Abb. 3 Die 1913 in Jerusalem aufgefundene Theodotus-Inschrift (hier mit Übersetzung) bezeugt für das Jerusalem des 1. Jahrhunderts eine hellenistische Synagogengemeinde und ihre Presbyter.

Im Judentum lassen sich aber nicht nur verschiedene religiöse Gruppierungen wie Pharisäer und Sadduzäer voneinander unterscheiden. Die Existenz von jüdischen Diasporagemeinden in allen größeren Städten des Mittelmeerraums (z.B. in Alexandrien oder Rom) bringt auch eine sprachlich-kulturelle Scheidung zwischen den bodenständigen, aramäisch sprechenden Juden Palästinas und den vom griechisch-hellenistischen Milieu geprägten Juden des Mittelmeerraums mit sich. Daher existieren bereits im Jerusalem des ersten nachchristlichen Jahrhunderts aramäischsprachige, traditionell-palästinische und griechischsprachige, hellenistisch beeinflusste Synagogengemeinden (vgl. Abb. 3). Letztere rekrutieren sich aus zurückgewanderten Diaspora-Juden und pflegen – im Vergleich zu ihren aramäischsprachigen Glaubensbrüdern – ein weniger intensives religiöses Verhältnis zum Land Israel, zum Tempel, Kult und Gesetz.