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Inhalt & Content

Inhaltsangabe

Tamina Preuß

Wechselwirkungen zwischen polizeilicher Fehlerkultur und Polizeiwissenschaft und -forschung

Fabian Gerstung

Was macht einen Fußballeinsatz erfolgreich? Psychologische Erfolgsfaktoren geschlossener Einheiten

Michael Meng, Sven Fath, Jan-Henryk Dombrowski, Sabine Schildein & Bernd Körber

Der Einfluss sozialer Exklusion auf die Gefahrenwahrnehmung in polizeilichen Einsatzsituationen

Birgitta Sticher

Wirkungsvolle Suizidprävention in der Polizei Hilfestellung der KollegInnen (bottom-up) und Unterstützung durch Führungskräfte (top-down) als sich notwendigerweise ergänzende Maßnahmen der Suizidprävention

Andreas Frei & Juliane Fricke-Glöckner

Die Risikoeinschätzung von schwerwiegender häuslicher Gewalt anhand des computerisierten Instrumentes DyRiAS – Eine Evaluationsstudie anhand von Fällen aus der Schweiz

Impressum

Content

Tamina Preuß

Interdependences Between Police Error Culture and Police Science and Research

Fabian Gerstung

What Makes a Police Operation at a Soccer Game Successful? Psychological Success Factors in a Completed Operation

Michael Meng, Sven Fath, Jan-Henryk Dombrowski, Sabine Schildein & Bernd Körber

The influence of social exclusion on hazard detection in police-task situations

Birgitta Sticher

Effective suicide prevention in the police. Assisting colleagues (bottom-up) and support from leading police officers (top-down) as necessarily complementary suicide prevention measures

Andreas Frei & Juliane Fricke-Glöckner

Threat Assessment of severe domestic violence using the risk assessment instrument DyRiAS – an evaluation study using cases from Switzerland

Impressen

Wechselwirkungen zwischen polizeilicher Fehlerkultur und Polizeiwissenschaft und -forschung

Tamina Preuß

1. Einleitung

Die auf Seneca (1 - 65 n. Chr.) zurückgehende Volksweisheit „Irren ist menschlich“ („Errare humanum est“) scheint so selbstverständlich, dass sie nicht auf ihre Validität überprüft werden muss (Chott, 2014, S. 53). Zahlreiche Zitate und Aphorismen zeugen davon, dass Fehler als Chancen zum Lernen genutzt werden sollen,1 dass die Angst, einen Fehler zu begehen überwunden werden sollte, da sie dem Fortkommen hinderlich ist2, und dass das eigentlich Problematische an der Begehung von Fehlern nicht im Fehler selbst, sondern darin, diesen nicht zu erkennen, nicht zu korrigieren oder gar zu vertuschen, liegt.3

„Polizist kokst, trinkt, baut Unfall und unterrichtet weiterhin Kinder in Verkehrssicherheit“ (Stern, 2019) – diese sehr plakative Überschrift ist ein Beispiel dafür, dass tatsächliche und vermeintliche Fehler der Polizei dagegen immer wieder in den Fokus der Medienberichterstattung und öffentlichen Diskussion geraten. In die Geschichte eingegangen ist die bis heute nicht vollständig aufgearbeitete4 Erschießung des damals 26-jährigen Studenten Benno Ohnesorg, der an einer Demonstration in West-Berlin teilgenommen hatte, durch einen Polizisten am 02. Juni 1967, die maßgeblich zur Ausbreitung und Radikalisierung der westdeutschen Studentenbewegung in den 1960er-Jahren beitrug (Soukup, 2017, S. 178 ff.; Spiegel, 2012). Hinsichtlich der den Ermittlern im NSU-Verfahren vorgeworfenen Fehler und Versäumnisse kam es zur Errichtung von zahlreichen NSU-Untersuchungsausschüssen – zwei Bundestagsausschüssen und acht durch die Landesparlamente errichteten Ausschüssen. Der Umfang des über 1.800 Seiten umfassenden Berichts des zweiten Bundestagsausschusses lässt die Vielzahl und Komplexität der Vorwürfe nur erahnen (BT-Drucks. 18/12950). Ein aktuelles Beispiel ist der Fall der seit dem 18.02.2019 vermissten 15-jährigen Rebecca Reusch aus Berlin. Diskutiert wird in diesem Zusammenhang, ob die zufällige Speicherung des Autokennzeichens von Rebeccas Schwager und die Übermittlung durch die Brandenburger Polizei an die Berliner Polizei eine Form der rechtswidrigen Datenerfassung „auf Vorrat“ darstellt (Kaufmann, 2019). Auch die derzeitige Debatte, ob Rassismus als strukturelles Problem innerhalb der Polizei zu sehen ist (Singelnstein, 2019), ordnet sich in diesen Kontext ein. Diese exemplarische Zusammenstellung für öffentlich wahrgenommenes polizeiliches Fehlverhalten ließe sich noch weiter fortführen.5 Sowohl seitens der Öffentlichkeit als auch seitens der Polizeiwissenschaft wird der Polizei eine unausgereifte Fehlerkultur unterstellt (Prantl, 2013; Seidensticker, 2019, S. 63). Gewaltmissbrauch werde mit einzelnen ‚„schwarzen Schafen‘ innerhalb einer sonst makellosen Herde“ erklärt, ohne innerhalb der Organisation begründete Ursachen überhaupt zu erwägen (Jasch, 2017, S. 100). Die Polizeiwissenschaft habe sich bislang noch nicht systematisch mit Fehlern innerhalb der Polizei auseinandergesetzt; insbesondere sei eine negative Fehlerkultur der Polizei nicht hinreichend empirisch belegt (Seidensticker, 2019, S. 72 f.; Andersson, 2018, S. 16). In jüngster Zeit deutet sich hier aber ein Wandel an. Auch zeigt sich anhand der Medienberichterstattung zunehmend die Tendenz, dass die Polizei sich öffentlich zu Fehlern bekennt, zumal sich Überschriften wie „Polizisten geben Ermittlungspanne zu“ (Spiegel, 2019a) und „Polizei räumt Fehler ein“ (Spiegel, 2019b), häufen.

Zusammenfassung

Polizeiliche Fehler sind oftmals Gegenstand der öffentlichen Berichterstattung. Der Polizei wird seitens der Öffentlichkeit, aber auch seitens der Polizeiwissenschaft vorgeworfen, über eine defizitäre Fehlerkultur zu verfügen, die Fehler verdeckt und einzelnen „schwarzen Schafen“ innerhalb der Organisation zuschreibt, anstatt sie selbstkritisch und konstruktiv aufzuarbeiten. Bislang fehlt es jedoch an einer systematischen Untersuchung der polizeilichen Fehlerkultur durch Polizeiwissenschaft und -forschung. Eine defizitäre Fehlerkultur könnte eine der Ursachen für die Krise der Polizeiwissenschaft und -forschung sein und Forschung in diesem Bereich könnte dabei förderlich sein, diese Krise zu überwinden

Polizeiliche Fehlerkultur, Polizeiforschung, Polizeiwissenschaft, Fehlerforschung.

Abstract

Errors of the police are often subject of public reporting. The police are accused by the public, as well as by police science, of having a deficient error culture, that conceals errors and ascribes them to individual „black sheep“ within the organisation instead of working them up self-critically and constructively So far, however, there has been no systematic empirical study of the police error culture by police science and police research. A deficient error culture could be one of the causes of the crisis in police science and research and research in this field could help to overcome this crisis

Police error culture, police research, police science, error research.

Der vorliegende Beitrag untersucht die Wechselwirkungen zwischen polizeilicher Fehlerkultur und Polizeiwissenschaft und -forschung in ihrer zeitlichen Entwicklung. Vor diesem Hintergrund gilt es aufzuzeigen, ob die polizeiliche Fehlerkultur in den vergangenen Jahren bereits der systematischen und tiefgehenden polizeiwissenschaftlichen Analyse unterzogen wurde. Da der Polizeiforschung – wie auch der Polizeiwissenschaft – nachgesagt wird, sie befände sich seit einiger Zeit in einer Phase der Stagnation (Feltes & Reichertz, 2019, S. 27) oder – mit anderen Worten – „auf dem Weg in die Nische“ (Reichertz, 2015, S. 11), stellt sich die Frage, ob die vermeintlich unzureichende Fehlerkultur der Polizei (mit)verantwortlich für den Stillstand in Wissenschaft und Forschung ist. Nach einem Überblick über die zum Verständnis der Thematik notwendigen Grundlagen und Begriffsbestimmungen, wird die polizeiliche Fehlerkultur als Gegenstand der Polizeiwissenschaft untersucht, um sodann auf die Kernfrage zu sprechen zu kommen, inwieweit ein Zusammenhang zwischen der Fehlerkultur und dem gegenwärtigen Stand der Polizeiwissenschaft und -forschung besteht.

2. Grundlagen und Begriffsbestimmungen

Voranzustellen ist, wie die Begriffe Polizeiwissenschaft und Polizeiforschung, Fehler und Fehlerkultur im hiesigen Kontext zu verstehen sind. In diesem Zusammenhang wird außerdem erläutert, inwieweit der Fehler eine Voraussetzung für das Lernen bildet und worin die Unterschiede zwischen positiver und negativer Fehlerkultur liegen. Zudem erfolgt ein kursorischer Überblick über die Geschichte der Fehlerforschung.

2.1 Polizeiwissenschaft und Polizeiforschung

Unter Polizeiwissenschaft versteht man die eigenständige Wissenschaftsdisziplin von der Polizei und anderen Sicherheitsdienstleistern, deren Handeln im Kontext der Gewährleistung von individueller Sicherheit und der politischen Verortung und Bewertung dieser Aufgaben liegt (Feltes, 2015, S. 5). Teilweise wird der Begriff der Polizeiwissenschaft enger verstanden, indem er nur auf ein Handeln der Polizei im institutionellen Sinne bezogen wird. So verstanden ist Polizeiwissenschaft die Wissenschaft von der Polizei im institutionellen Sinne, polizeilichem Handeln und der Polizei in ihren gesellschaftlichen, rechtlichen und institutionellen Bezügen (Stock, 2007, S. 31; Stock, 2000, S. 110).6 Gegenstand der Polizeiwissenschaft ist das Polizieren, d. h. das gesamte staatliche, private, von Verbänden und Bürgerinitiativen getragene Handeln, das auf die Erreichung und Erhaltung von „innerer Sicherheit“ zielt (Feltes & Reichertz, 2019, S. 22, 43 f.). Die Aufgabe der Polizeiwissenschaft besteht auch darin, das über verschiedene Disziplinen verteilte und verborgene Wissen zur Polizei zu erheben und zu systematisieren (Feltes, 2015, S. 5; Stock, 2000, S. 111). Darüber hinaus ist das Ziel der Polizeiwissenschaft eine wissenschaftlich informierte und geübte Polizei, insbesondere auf Führungsebene, und die wissenschaftliche Information der Öffentlichkeit über polizeiliches Handeln (Kersten, 2012, S. 8 f.).

Polizeiforschung bezeichnet jede im weitesten Sinne sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Polizei, die basierend auf der Methodologie empirischer Sozialforschung theoretisch inspiriert und methodisch kontrolliert Daten erhebt, analysiert und/oder interpretiert (Ohlemacher & Liebl, 2000, S. 7). Das empirische Material gewinnt die Polizeiforschung u. a. durch qualitative und quantitative Befragungen, (teilnehmende) Beobachtungen, Gruppendiskussionen, Aktenanalysen und Heranziehung von Statistiken (Ohlemacher & Liebl, 2000, S. 7). Bislang noch nicht abschließend geklärt ist die Streitfrage, ob Polizeiforschung die Forschung in der Polizei, für die Polizei und/oder über die Polizei mitumfasst (Feltes & Reichertz, 2019, S. 27 ff.; Feltes, 2002, S. 245; Ohlemacher & Liebl, 2000, S. 7 ff.). Zwischen Polizeiwissenschaft und Polizeiforschung besteht ein enger Zusammenhang. Eine Polizeiwissenschaft ohne Polizeiforschung würde zu Beliebigkeit führen und damit politischen Einflussnahmen ausgesetzt sein, und einer Polizeiforschung ohne Polizeiwissenschaft würde es am wissenschaftlichen Fundament fehlen und sie würde daher „sekundär und rudimentär“ bleiben (Feltes, 2015, S. 10; Feltes, 2002, S. 245).

2.2 Der Begriff des Fehlers

Der Begriff „Fehler“ ist fester Bestandteil der Alltagssprache (Jäger, 2005, S. 160). Dennoch existiert eine allgemein anerkannte, transdisziplinäre Fehlerdefinition bislang nicht (Andersson, 2018, S. 16; Hofinger, 2008, S. 3). Stattdessen hat sich eine Vielzahl spezieller, disziplinärer Fehlerklassifizierungen herausgebildet (Löber, 2012, S. 14).7

Weimer, der Begründer der wissenschaftlichen Fehlerkunde, verstand unter einem Fehler die Abweichung von einer Norm und grenzte zwischen Fehlern und Irrtümern ab: Wer einen Fehler macht, weiß es eigentlich besser, wer sich im Irrtum befindet, wusste es nicht besser (Weimer, 1925, S. 1 ff.). Auch heute noch wird unter einem Fehler teilweise ein von der Norm abweichender Sachverhalt oder Prozess verstanden (Oster & Hascher, 1997, S. 3). Die Norm in diesem Sinne ist das Bezugssystem, ohne das es nicht möglich wäre, fehlerhaftes von fehlerfreiem Verhalten zu unterscheiden (Oser & Hascher, 1997, S. 3). Hofinger definiert eine Abweichung von einem als richtig angesehenen Verhalten oder von einem gewünschten Handlungsziel, das der Handelnde eigentlich hätte ausführen bzw. erreichen können, als Fehler (Hofinger, 2008, S. 37). Danach können Fehler nur von Menschen begangen werden und setzen voraus, dass Wissen und Können für die richtige Handlungsausführung vorhanden war und dass ein intendiertes Verhalten nicht wie geplant ausgeführt werden konnte. Weiter ist zur Feststellung eines Fehlers eine subjektive Bewertung nach einem normativen Maßstab notwendig (Löber, 2012, S. 14 ff.). Nach Weingardt bezeichnet ein Subjekt als Fehler angesichts einer Alternative jene Variante, die von ihm – bezogen auf einen damit korrelierenden Kontext und ein spezifisches Interesse – als so ungünstig beurteilt wird, dass sie unerwünscht erscheint (Weingardt, 2004, S. 234). Weingardts Ansatz einer transdisziplinären Fehlerdefinition betont, dass das Vorliegen eines Fehlers alternativ denkbare Verhaltensweisen voraussetzt und dass die Einordnung als Fehler auf einem subjektiven Urteil beruht und geht von einem Toleranzbereich von Verhalten, das suboptimal, aber nicht schlichtweg unerwünscht ist, aus (Löber, 2012, S. 17; Schüttelkopf, 2008, S. 167 ff.).

Angelehnt an Weingardt wird in der Polizeiwissenschaft unter einem Fehler eine Entscheidung verstanden, die durch ein Subjekt nach Abwägung vorhandener Alternativen in interaktionalem oder prozessualem Kontext getroffen wurde und eine nicht-intendierte Abweichung von einer im jeweiligen Bezugssystem gültigen Norm zur Folge hat, die ex post durch ein – nicht zwangsläufig anderes – Subjekt als unerwünscht bewertet wird (Seidensticker, 2019, S. 64). Das Bezugssystem umfasst das geltende Recht, die handwerklichen Grundsätze des Berufs, namentlich die Kriminalistik und Einsatzlehre, sowie die Bewertung der Kommunikation der Polizeibeamt*innen (Jasch, 2017, S. 108). Fehler in der Polizeiarbeit können darin liegen, dass die Polizei an der Wahrnehmung ihres gesetzlichen Auftrags der Gefahrenabwehr und der Bekämpfung von Kriminalität im Allgemeinen oder im Besonderen scheitert. Umfasst sind auch Verstöße gegen den Allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz und andere Grundrechte sowie das Überschreiten des zulässigen Maßes an polizeilicher Gewalt (Karis, 2019, S. 98).

Die Bezeichnung eines Ereignisses als Fehler ist ein sozialer Akt, der von einem bestimmten subjektiven Beobachtungsstandpunkt aus erfolgt. Die meisten Handlungen, die im Nachhinein als Fehler betrachtet werden, werden im Zeitpunkt ihrer Vornahme vom Handelnden für richtig gehalten, sodass sich die Bewertung als Fehler erst durch einen Vergleich zwischen der getroffenen Entscheidung und dem, was man aktuell für richtig hält, ergibt. Die Fehlerzuschreibung erfolgt retrospektiv in aller Regel durch andere Organisationsmitglieder (Andersson, 2018, S. 16; Mensching, 2004, S. 46 f.; Weingardt 2004, S. 214 f.). Die Fehleretikettierung verlangt einen Etikettierer – d. h. mindestens ein Organisationsmitglied oder einen Dritten aus dem Organisationsumfeld, das bzw. der eine Entscheidung als fehlerhaft charakterisiert (Beobachterperspektive) – und mindestens zwei Zeitebenen, namentlich die Ebene des Entscheidens und Handelns sowie die der Zuschreibung als Fehler (Mensching, 2004, S. 47). Ob ein Ereignis als Fehler bezeichnet wird, hängt stark vom jeweiligen Kontext ab, der den Bewertungs- und Definitionsrahmen bildet (Kess, 2004, S. 24 ff.).8 Fehler haben ihre Ursache im Kontext und wirken ihrerseits auf den Kontext zurück (Kess, 2004, S. 26). Die Definitionshoheit, was Fehler bei der Polizei angeht, liegt bei allen am konkreten Polizeieinsatz beteiligten Personen (Jasch, 2017, S. 110 f.). Bürgerkontakte, die eine der beteiligten Personen als misslungen bewertet, sollen Gegenstand der Fehlerdiskussion werden, unabhängig davon, ob man aus Sicht eines objektiven Betrachters von einem Fehler sprechen kann (Jasch, 2017, S. 110 f.). Daher ist zu empfehlen auf der Eingangsstufe der Fehlerbearbeitung nur von „kritischen Ereignissen“ zu sprechen und diese erst am Ende des Prozesses ggf. als Fehler zu definieren (Jasch, 2017, S. 111).

Die große Bandbreite denkbarer Fehler lässt sich in unterschiedliche Fehlertypen klassifizieren. Es existiert eine Vielzahl von fachspezifischen Fehlertypologisierungen (Hofinger, 2008, S. 44 ff.).9 Weiter wird zwischen Fehlern fachlicher, sozialer und moralischer Art (Oser & Hascher, 1997, S. 3), Fehlern, die im Prozess des Handelns oder im Handlungsergebnis liegen (Hofinger, 2008, S. 37), und Ergebnis-, Prozess-, Vorgehens- und Verhaltensfehlern unterschieden (Andersson, 2018, S. 16). Auch kann in aktive Fehler – d. h. Fehler, die in direkter Weise Unfälle oder Zwischenfälle hervorrufen – und latente Fehler – d. h. Fehler, die noch keine unmittelbaren Folgen nach sich ziehen, aber struktureller Art sind und häufig die Ursache dafür bilden, dass sich aktive Fehler auswirken können – unterschieden werden (Jäger, 2005, S. 161; Reason, 1994, S. 216 ff.).10 Nach der Intention des Handelnden kann zwischen beabsichtigten und unbeabsichtigten Fehlern und nach der Art der Ursache zwischen im Individuum und in der Organisation begründeten Fehlern differenziert werden (Karis, 2019, S. 98). Zu nennen sind ferner korrigierbare und nicht korrigierbare Fehler sowie Fehler mit unterschiedlich weit reichenden Konsequenzen.

2.3 Fehler als Schritt im Lernprozess

Fehler werden als ein essenzieller Schritt im Lernprozess (Oser & Hascher, 1997, S. 4), sowohl für das Individuum – beispielsweise im schulischen Zusammenhang (Chott, 2014, S. 55; Oser & Hascher, 1997, S. 15) – als auch für Organisationen (Schüttelkopf, 2008, S. 186 f.), verstanden. In der Organisationsentwicklung hat sich in diesem Zusammenhang der vor allem durch Peter M. Senge geprägte Begriff der „lernenden Organisation“, die innovatives Lösen von Problemen erlaubt und in diesem Zusammenhang ein hohes Maß an Fehlertoleranz aufweist, etabliert (Senge, 2017; Schüttelkopf, 2008, S. 186 f.). Auch in der Polizeiwissenschaft hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass die Polizei, wenn sie sich als „lernende Organisation“ begreift und eine positive Fehlerkultur etabliert, aus Fehlern lernen kann (Seidensticker, 2019, S. 64).

Dadurch, dass dem Lernenden ungewollt Fehler unterlaufen, erfährt er, was er nicht tun darf, um weiterzukommen. Er erwirbt sog. „Fehlerwissen“ oder „negatives Wissen“, welchem eine Schutzfunktion für das positive Wissen, was man tun muss, um weiterzukommen, hat: Je mehr Fehlerwissen eine Person hat, desto sicherer ist sie sich in ihrem „richtigen“ Handeln (Oser & Hascher, 1997, S. 4, 8 f.). Auch führt ein auf Fehlervermeidung gerichtetes Handeln nicht zwingend zu Fehlerlosigkeit. Unter dem Begriff „Fehlerparadoxon“ wird die Erkenntnis diskutiert, dass in komplexen Kontexten Fehlervermeidung ausschließlich über Fehleroffenheit zu erzielen ist, denn je intensiver viele kleine Fehler vermieden werden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es langfristig zu Kardinalfehlern – d. h. zur Verfehlung des nachhaltig verfolgten Ziels – kommt (Schüttelkopf, 2008, S. 183 ff.; Weingardt, 2004, S. 254 ff.). Ein konstruktiver Umgang mit (kleineren) Fehlern führt somit dazu, dass die Gefahr weiterer (und schwerwiegenderer) Fehler minimiert wird.

2.4 Der Begriff der Fehlerkultur

Der Begriffsteil „Kultur“ leitet sich vom lateinischen „colere“ ab, was „hegen, „pflegen, bebauen, ausbilden, tätig verehren“ bedeutet und ursprünglich vor allem die Bearbeitung und Pflege des Bodens meinte („aggricultura“) (Zürn, 1985, S. 15), und umfasst eine Vielzahl von expliziten bzw. impliziten und tief verwurzelten Wert-, Denk- und Handlungsmustern, die über einen längeren Zeitraum entstanden sind und das Denken, Handeln, Werte und Normen innerhalb einer Gruppe bestimmen (Andersson, 2018, S. 17). Die Kultur ist Ausdruck des Selbstgestaltungswillens einer Gemeinschaft oder des Einzelnen und hat tiefgreifenden und nachhaltigen Einfluss auf die Menschen und ihr Verhalten (Zürn, 1985, S. 15 f.). Die Entwicklung einer Kultur bedarf Zeit und ist geprägt von Prozesshaftigkeit, Wandel, Mobilität und Verflechtungen (Leimgruber, 2004, S. 15). Ebenso wie beim Fehlerbegriff herrscht auch hinsichtlich des Begriffs der Fehlerkultur in der Literatur keine Einheitlichkeit (Andersson, 2018, S. 16).11 Die Polizeiwissenschaft versteht unter der Fehlerkultur die Art und Weise, wie ein soziales System mit Fehlern, Fehlerrisiken und Fehlerfolgen umgeht (Seidensticker, 2019, S. 66) mitsamt der Leitvorstellungen und Werte, die im Umgang mit Fehlern bestimmend sind (Jäger, 2005, S. 158). Thematisiert wird u. a. die Frage des Umgangs mit widersprüchlichen Handlungsmustern und differenzierenden Wertvorstellungen innerhalb der Polizei (Karis, 2019, S. 98; Mensching, 2004, S. 48 f.). Für jede Fehlerkultur – somit auch für die polizeiliche – von zentraler Bedeutung ist die Suche nach Fehlerursachen (Oser & Hascher, 1997, S. 15). Neben dem Umgang mit Fehlern umfasst die Fehlerkultur auch die Reaktion auf Kritik, welcher die Polizei tagtäglich ausgesetzt ist, insbesondere auf Kritik, die diese Fehler rügt (Karis, 2019, S. 99).

Jede Organisation12 weist eine Fehlerkultur auf (Löber, 2012, S. 193; Volkmer, 2004, S. 81). Die Fehlerkultur ist damit in Organisationen, wie der Polizei, Teil ihrer Organisationskultur (Andersson, 2018, S. 18), d. h. der differierenden kulturellen Orientierung, welche die Organisation in sich vereint (Andersson, 2018, S. 18; Mensching, 2004, S. 48). Die Fehlerkultur der jeweiligen Organisation speist sich damit größtenteils aus den innerhalb der Organisation vertretenen Normen und Wertvorstellungen. Bei der Polizei sind dies primär nicht die Werte der Polizeikultur,13 sondern die Werte der Cop Culture (Karis, 2019, S. 98; Seidensticker, 2019, S. 66). Hierunter versteht man eine in das polizeiliche Innere gerichtete Kultur, die die Sicherung der individuellen und kollektiven Identität zum Ziel hat und die Vorstellung enthält, dass der innere Frieden tendenziell – durch den Gegenstand der polizeilichen Arbeit – bedroht ist (Behr, 2006, S. 39 ff.).

Eine Fehlerkultur kann verschiedene Ausprägungsformen im Umgang mit Fehlern aufweisen – von der Fehlerfreundlichkeit, über Fehleroffenheit bis hin zur Fehlervermeidung (Schüttelkopf, 2008, S. 216 ff.). Als problematisch wird die „Culture of blame“ empfunden, bei der sich der Umgang mit Fehlern darauf beschränkt, einen Schuldigen zu suchen, ihn namentlich zu benennen und abzustrafen, während der Fehler nach außen verleugnet wird (Glazinski & Wiedensohler, 2004, S. 209). Fehlervermeidung (oder auch Null-Fehler-Strategie) zielt auf die völlige Unterbindung von Fehlern und damit ein fehlerfreies System. Diese Zielvorgabe wird, da Fehler unvermeidbar sind, als utopisch und damit zu Frustration führend empfunden (Seidensticker, 2019, S. 64) und kann im schlimmsten Falle zu einer Angstkultur und Absicherungsmentalität sowie zum Verheimlichen von Fehlern führen (Wehner, 2013, S. 28 f.). In aller Regel besteht die Fehlerkultur einer Organisation aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Fehlerstrategien (Schüttelkopf, 2008, S. 219).

2.5 Positive und negative Fehlerkultur

Gemeinhin wird zwischen einer positiven (konstruktiven) und einer negativen (destruktiven) Fehlerkultur unterschieden (Andersson, 2018, S. 18; Schüttelkopf 2008, S. 211 f.). Eine positive Fehlerkultur zeichnet sich durch die Akzeptanz, dass Fehler unvermeidbar sind, den offenen Umgang mit Fehlern und Kritik und den Versuch aus Fehlern zu lernen aus (Karis, 2019, S. 99). Zu den Voraussetzungen einer positiven Fehlerkultur zählen ihre Verankerung auf kultureller Ebene der Organisation, eine hohe Fehlerkompetenz der Organisationsmitglieder, das authentische Vorleben einer positiven Fehlerkultur durch die Führungskräfte und die durch Vertrauen und Wertschätzung geprägte Kommunikation auf allen Ebenen der Organisation (Seidensticker, 2019, S. 66 f.). Eine positive Fehlerkultur führt zur Erhöhung der Arbeitszufriedenheit, zur Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit der Mitarbeiter sowie langfristig zu Fehlerabnahme und Kompetenzaufbau (Karis, 2019, S. 100; Seidensticker, 2019, S. 68; Schüttelkopf, 2008, S. 212 f.). Eine negative Fehlerkultur wird dagegen durch eine von Misstrauen geprägte Kommunikationsstruktur, das Verbergen von Fehlern (Seidensticker, 2019, S. 67) und Fehlerhäufung charakterisiert (Schüttelkopf, 2008, S. 212). Eine negative Fehlerkultur führt zur Vermeidung von Risiken durch beharrliches Festhalten an gewohnten Strukturen bei geringem Engagement, zu Angst, Verunsicherung und Kompetenzverlust, kurzum zu einer krank machenden und stagnierenden Organisation (Schüttelkopf, 2008, S. 212; Jäger, 2005, S. 159).

2.6 Die Geschichte der Fehlerforschung

Da Fehler in der Natur des Menschen liegen, existieren sie seit Anbeginn der Menschheit. Bereits in antiken Heldenepen und Dramen erfolgte die Reflexion über richtiges oder falsches Handeln (Schüttelkopf, 2008, S. 158 f.). Zahlreiche Aphorismen antiker Philosophen zeugen von der Auseinandersetzung der Menschen mit eigenen und fremden Fehlern. So wies der römische Historiker Tacitus (58-120 n. Chr.) – „Erfolge nehmen alle in Anspruch, Misserfolge werden einem Einzigen zugeschrieben“ – schon früh auf die Tendenz hin, die Ursache für Fehler in dem Verhalten eines Schuldigen zu suchen, anstatt die Aufmerksamkeit auf Fehler im System zu richten.

Die moderne Fehlerforschung begann Anfang des 19. Jahrhunderts mit der Konzentration auf Wahrnehmungsfehler. Die wohl erste phänomenologische Studie zu diesem Thema veröffentlichte Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) 1820 unter dem Titel „Hör-, Schreib- und Druckfehler.“ Andere Wissenschaftler thematisierten beispielsweise Beobachtungsfehler (Gauß, „Theorie der den kleinsten Fehlern unterworfenen Kombination der Beobachtungen“,14 1823), optische Täuschungen (Necker, „Observations on some remarkable optical phaenomena seen in Switzerland; and on an optical phaenomenon which occurs on viewing a figure of a crystal or geometrical solid“, 1832) und Fehler der Wahrnehmung und Erinnerung (Sully, „Illusions“, 1881). Als Forschungsmethode wurde zur damaligen Zeit u. a. die Selbstbeobachtung angewandt (Hofinger, 2008, S. 38).

Ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts intensivierte sich der wissenschaftliche Fehlerdiskurs. Der Mediziner und Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856–1939) befasste sich mit Fehlleistungen, die unterbewusste Motive zum Vorschein kommen lassen („Zur Psychopathologie des Alltagslebens“, 1904). Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Hermann Weimer (1872–1942), der als Begründer der wissenschaftlichen Fehlerkunde gilt (Weingardt, 2004, S. 214), beschäftigte sich mit der „Psychologie der Fehler“ (1925). Der Linguist Benjamin Lee Whorf (1897–1941) analysierte die Entstehung von Bränden aufgrund sprachlicher Missverständnisse („The relation of habitual thought and behavior to language“, 1941). Daneben befassten sich Techniker mit Material- und Messfehlern und in der Arbeits- und Organisationspsychologie wurden Fehler im Kontext von Arbeitssicherheit beleuchtet (Schüttelkopf, 2008, S. 161). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veränderte sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit Fehlern insofern, als dass der Fokus auf Fehlerrisiken verlagert wurde und Fehler erstmals auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht relevant waren (Schüttelkopf, 2008, S. 161). Ab den 1980er-Jahren werden Fehlerstrategien von Unternehmen als Wettbewerbsfaktor im Wirtschaftsleben wahrgenommen (Schüttelkopf, 2008, S. 162). Als Geburtsstunde der interdisziplinären Fehlerforschung gilt nach Weingardt der 07.07.1980, da an diesem Tag eine Konferenz von Wissenschaftlern im US-Bundesstaat Maine stattfand, um den Reaktorunfall des Kernkraftwerks Three Mile Island in Pennsylvania am 28.03.1979 aufzuklären (Weingardt, 2004, 25 f.). In den vergangenen Jahren erfolgte vielfach eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Fehlerkultur im Krankenhaus (Merkle, „Risikomanagement und Fehlervermeidung im Krankenhaus“, 2014; Löber, „Fehler und Fehlerkultur im Krankenhaus, 2012; Kahla-Witzsch, „Praxiswissen. Qualitätsmanagement im Krankenhaus“, 2. Aufl. 2009) und in der Pflege (Roterring, „Fehlerkultur in der professionellen Pflege“, 2015).

Bis heute herrscht noch ein Mangel an systematischer und disziplinübergreifender Fehlerforschung (Schüttelkopf, 2008, S. 162 f.). Pionierarbeit leisteten hier aber schon u. a. Oser & Spychiger („Lernen ist schmerzhaft. Zur Theorie des negativen Wissens und zur Praxis der Fehlerkultur“, 2005), Weingardt („Fehler zeichnen uns aus“, 2004) und Schüttelkopf („Fehlerkultur. Zu Begriff, Bedeutung und Bewertung einer organisationalen Fehlerkultur“, 2006). In der sich ab Mitte der 1990er-Jahre entwickelnden modernen Polizeiwissenschaft und -forschung (Frevel, 2015, S. 20) wird die polizeiliche Fehlerkultur – soweit ersichtlich – seit Anfang der 2000er-Jahre thematisiert.

3. Polizeiliche Fehlerkultur als Gegenstand der Polizeiwissenschaft

Bevor eine Bestandsaufnahme über die Entwicklung der polizeilichen Fehlerkultur in der Praxis des Polizeialltags erfolgt, wird ein Überblick über die Rezeption der Fehlerkultur durch die Polizeiwissenschaft gegeben.

3.1 Rezeption der Fehlerkultur durch die Polizeiwissenschaft

Die Polizeiwissenschaft befasst sich schon seit über 15 Jahren mit der Fehlerkultur der Polizei. Teilweise beschränken sich ihre Beiträge allerdings darauf, auf eine mangelhafte Fehlerkultur der Polizei hinzuweisen, vor allem im Zusammenhang mit polizeilichen Übergriffen (Kersten, 2013). Einige wenige Arbeiten nehmen aber auch eine detaillierte Untersuchung der polizeilichen Fehlerkultur vor, analysieren die Ursachen der als fehlend erachteten Fehlerkultur und stellen den Zusammenhang zur allgemeinen Fehlerforschung her (Karis, 2019; Seidensticker, 2019; Mensching, 2004). So hat Andersson eine Studie zur Rekonstruktion von Führungspraktiken im Hinblick auf den Umgang mit Fehlern im schutzpolizeilichen Alltag in Form narrativer Interviews durchgeführt, die er als Beitrag für die Bestandsaufnahme der innerhalb der Polizei gelebten Fehlerkultur verstanden haben will (Andersson, 2018). Auch werden Vorschläge unterbreitet, um die Fehlerkultur zu verbessern, etwa durch die Einführung eines Debriefings (Schütte, 2014, S. 319) oder die Einrichtung der Stelle eines unabhängigen Polizeibeauftragten (Mihalic, 2017; Behrendes, 2014). Polizeiliche Fehlerkultur wird diskutiert im Zusammenhang mit der Debatte um die polizeiliche Kennzeichnungspflicht (Thinnes, 2014), der Supervision (Behr, 2006, S. 172), der Notwendigkeit externer Kontrolle der Polizei (Hamm, 2014, S. 50), dem Umgang mit migrantischen Opfern (Asmus & Enke, 2016, S. 125 ff.) und dem Erfordernis von interkultureller Kompetenz von Polizeibeamt*innen (Flos & Ohlemacher, 2014, S. 127 f.).

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