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Rudolf Kerschreiter/Dieter Frey

Funktion

Funktion (engl. function, lat. functio), ›Tätigkeit‹, ›Verrichtung‹, die Beschreibung einer Leistung, die ein Teil in einem Ganzen, aber auch das Ganze für ein Teil erfüllt, bzw. die Beschreibung einer Abhängigkeit, in der die Variable einer Gleichung oder Ungleichung von einer anderen Variablen steht. Der erste Funktionsbegriff ist teleologisch und betont eine Hierarchie, der Zweite ist mathematisch und betont eine Interdependenz.

Man unterscheidet Funktionen und Dysfunktionen. Funktionen dienen der Hierarchie oder Interdependenz, Dysfunktionen sind Störungen der Hierarchie bzw. der Interdependenz. Dysfunktionen können ihrerseits eine funktionale Rolle spielen, wenn sie dazu führen, dass die Hierarchie oder die Interdependenz gegen die Störung verteidigt und so gestärkt werden. Diese Verteidigung wiederum kann dysfunktional werden, wenn sie die Beweglichkeit der Hierarchie oder der Interdependenz angesichts geänderter Umstände einschränkt.

Man unterscheidet überdies manifeste und latente Funktionen und Dysfunktionen. Manifeste Funktionen und Dysfunktionen sind allen oder einigen Beteiligten bekannt, möglicherweise auch von ihnen intendiert, latente Funktionen und Dysfunktionen wirken hinter ihrem Rücken, obwohl es auch dann den einen oder anderen Beobachter geben muss, dem sie auffallen, denn andernfalls könnten sie nicht beschrieben werden. In Frage steht, ob manifeste oder latente Funktionen und Dysfunktionen zuverlässiger sind. Stärkt oder schwächt ihre Reflexion die Funktion oder Dysfunktion? Beides ist möglich, da die Reflexion die Engführung fördert, aber auch zu Ausweichverhalten einlädt. In beiden Fällen stellt sich die Frage, wer warum die Engführung fördert und wer sich warum zu Ausweichverhalten eingeladen fühlt.

Die funktionale Analyse bewegt sich in diesen Unterscheidungen von Hierarchie und Interdependenz, Funktion und Dysfunktion, Manifestation und Latenz, Beobachter und Akteur. Die unvermeidbare Verwicklung der Beobachtung in ihren Gegenstand führt zu Konfusionen, die in der Anthropologie unter dem Gesichtspunkt des Verstehens und in der Soziologie unter dem Gesichtspunkt der Kritik zu kontrollieren versucht werden. Verstehen heißt, dass die funktionale Analyse den Gegenstand nicht ändern darf, sondern schützen muss, Kritik heißt, dass sie ihn ändern muss, weil man andernfalls mit ihm einverstanden wäre. Die Ideologie beider Positionen ist nur durch eine weitere Ideologie zu korrigieren, die auf der freien Beweglichkeit der Relationen von Teil und Ganzem bzw. der Variablen besteht und sich so des Modernismus verdächtig macht.

Kingsley Davis hat die Position vertreten, dass die funktionale Analyse in der Soziologie keine Methode unter anderen ist, die ihre Stärken und Schwächen hätte, sondern dass sie mit dieser Disziplin identisch und dementsprechend heterogen ist. Die funktionale Analyse ist die wissenschaftliche Analyse schlechthin, insofern sie Relationen zwischen Phänomenen herstellt und so das eine aus dem anderen erklärt. Ihre Funktion ist in der Soziologie seit Emile Durkheim die Abwehr reduktionistischer Positionen, die soziale Phänomene auf psychologische oder biologische Determinanten reduzieren, sowie die Abwehr von Positionen, die sich mit der Datensammlung und Beschreibung begnügen, ohne Relationen zu unterstellen und zu testen. Abgelehnt wird der Funktionalismus vor allem von Positionen, die ein Phänomen aus sich heraus verstehen und würdigen wollen, oder auch von Positionen, die sich aus Werturteilen heraus weigern, funktionale Beiträge unerwünschter Phänomene (Armut, Reichtum, Ungleichheit, Korruption, Kriminalität, Krieg) zum Erhalt und zur Weiterentwicklung der Gesellschaft zur Kenntnis zu nehmen.

Teleologie und Mathematik

Der teleologische Funktionsbegriff leitet sich von der ›causa finalis‹, der Zweckursache, im aristotelischen Kausalitätsschema ab. Er verweist damit auf ein Ganzes, bei den alten Griechen den Kosmos, die Polis und die Psyche, aus dem heraus der Platz (telos) und damit die Leistung eines Teils zu erklären sind. Eine teleologische Funktion kann entweder perfekt erfüllt oder korrupt verfehlt werden. Sie[138] kann überdies von einer ›Regierung‹ in den Funktionszusammenhang wieder eingeführt werden, um ihre Leistung zu bestätigen oder ihr Versagen zu korrigieren. Umgekehrt kann von der ›Kritik‹ angemahnt werden, dass das Ganze seine Aufgabe nicht erfüllt, bestimmte Teile in ihrer Leistungserbringung zu unterstützen.

Der mathematische Funktionsbegriff beschreibt seit René Descartes, Gottfried Leibniz und Leonhard Euler eine Abhängigkeit zwischen Variablen

y = f(x)

derart, dass mithilfe der Funktion »f« die Variable »y« bestimmt werden kann, wenn »x« bekannt ist. Man spricht auch von einem Input »x« in eine Funktion »f(x)«, um den Output »y« errechnen zu können. Solche Funktionen sind die Grundlage eines Kalküls.

Im Gegensatz zum teleologischen Funktionsbegriff der Antike, der ontologisch konzipiert ist, das heißt Feststellungen über das Wesen des Seienden trifft (nämlich: Teil eines Ganzen zu sein), ist der mathematische Funktionsbegriff modern, indem er nach der Variation von Variablen in einem Zusammenhang von Abhängigkeiten fragt, die vorab keinen Einschränkungen unterworfen sind, sondern es ermöglichen, nach faktischen Einschränkungen zu suchen und sie unter Umständen aufzulösen. Beide Funktionsbegriffe sind heuristisch fruchtbar, doch der antike Begriff ist auf eine endliche Menge natürlicher Einheiten beschränkt, während der moderne Begriff sich auf eine unendliche Menge auch technisch erweiterbarer Möglichkeiten bezieht.

Soziologie

Für die theoretische und empirische Arbeit der Soziologie faszinierend ist dabei weniger die Frage nach »x« und »y« als vielmehr die Frage nach »f«. Wer oder was stellt die funktionale Verknüpfung »f« zwischen »x« und »y« her? Worin besteht sie? Wie häufig muss sie vorkommen, um als Verknüpfung aufzufallen? Wie zuverlässig ist sie? Muss man von ihr wissen, damit sie wirkt, oder ist es hilfreich, wenn man nichts von ihr weiß? Und wer muss etwas wissen und wer sollte nichts wissen? Man kann hier Natur und Technik, Akteur und System, Intention und Fatalität, Kultur und Zufall als Formen des Ausbuchstabierens von f unterscheiden, ohne diese Fragen je abschließend beantworten zu können.

Vor allem Robert K. Merton und Niklas Luhmann dekonstruieren den Funktionsbegriff im Hinblick auf seine teleologischen Komponenten und plädieren für eine Reduktion auf den mathematischen Funktionsbegriff.

Merton kritisiert die bisherigen drei Postulate des Funktionalismus, die darauf hinauslaufen, eine funktionale Einheit der Gesellschaft, eine positive Funktionalität aller sozialen Phänomene und die funktionale Unersetzbarkeit jedes einzelnen Phänomens anzunehmen, und plädiert stattdessen für einen strengen Äquivalenzfunktionalismus, der für jedes soziale Phänomen von einem Variationsspielraum zwischen gesellschaftlichen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Leistungen ausgeht. Merton schlägt vor, zwischen manifesten Funktionen, die Akteuren bekannt sind und von ihnen intendiert werden, und latenten Funktionen, die nur der Beobachter durchschaut, zu unterscheiden, lässt dabei allerdings die Fragen offen, wie Akteure etwas intendieren können, ohne die Funktion zu gefährden, und woraus Beobachter schließen können, dass den Akteuren etwas nicht bewusst ist.

Und Luhmann kritisiert die kausalwissenschaftliche Einschränkung eines Funktionalismus, der die Funktion, also Wirkung, eines Phänomens zu dessen Ursache erklärt. Diesem Vorgehen widerspricht, dass die kausale Erklärung in der Moderne einen zeitlichen Richtungssinn erhalten hat, den sie in der eher zirkulären Kosmologie der Antike nicht hatte. Die ›causa finalis‹ gerät damit in die Schwierigkeit, das Vorhergehende aus dem Nachfolgenden zu erklären. Überdies musste man in der Moderne mit dem Abschied von der Ontologie einsehen, dass die Anzahl möglicher Ursachen und Wirkungen unendlich ist. Damit wird die funktionalistische Behauptung invarianter Bedürfnisse, Leistungen und Reziprozitäten problematisch. Die Invarianz kann nicht mehr als die des Forschungsgegenstands behauptet werden, sondern fällt auf den Beobachter und dessen ideologische Voreinstellung zurück.

Die funktionale Analyse eröffnet einen Vergleichshorizont von Möglichkeiten, der funktionale Äquivalente und Substitute in den Blick rückt, jedoch nur eingelöst werden kann, wenn eine Struktur, ein Bezugssystem, benannt wird, das die Auswahl der Variationsmöglichkeiten steuert.

[139]Literatur

Cassirer, Ernst, 1980: Substanzbegriff und Funktionsbegriff: Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Darmstadt (1910). – Davis, Kingsley, 1959: The Myth of Functional Analysis as a Special Method in Sociology and Anthropology; in: American Sociological Review 24, 757–772. – Durkheim, Emile: 1895: Les règles de la méthode sociologique, Paris (dt. 1961). – Luhmann, Niklas, 1962: Funktion und Kausalität; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 14, 617–644. – Malinowski, Bronislaw, 1944: A Scientific Theory of Culture and Other Essays, Chapel Hill, NC (dt. 2005). – Merton, Robert K., 1968: Manifest and Latent Functions; in: ders.: Social Theory and Social Structure, revised and enlarged edition, New York, 73–138 (1948). – Radcliffe-Brown, Alfred R., 1935: On the Concept of Function in Social Sciences; in: American Anthropologist 37, 394–402.

Dirk Baecker

[140]G

Gemeinschaft

Als Gemeinschaft (engl. community) werden jene Formen des menschlichen Zusammenlebens bezeichnet, die auf einem primär emotional und/oder traditional bestimmten Zusammengehörigkeitsgefühl aller Beteiligten beruhen und durch eine zumindest relative Dauer gekennzeichnet sind.

Als soziologischer Grundbegriff geht Gemeinschaft auf Ferdinand Tönnies und sein 1887 erstmalig erschienenes Werk ›Gemeinschaft und Gesellschaft‹ zurück. Gemeinschaft bezeichnet Tönnies hier als eine Sozialform, in der die Menschen miteinander verbunden sind auf der Grundlage enger persönlicher und um ihrer selbst willen bejahter Beziehungen. Gemeinschaft beruhe auf der Betonung des Gemeinsamen, auf Verzicht bestimmter Formen der Selbstbehauptung und einzelhafter Ich-Interessen, auf Selbsthingabe, Liebe, Direktheit, Unvermitteltheit, auf der Ausschaltung aller distanzierenden menschlichen und technischen Zwischeninstanzen, kurz: auf Wärme, Nähe, Intimität und Rückhaltlosigkeit. Als typische Formen von Gemeinschaft nennt er die Familie als ›Gemeinschaft des Blutes‹, die Nachbarschaft als ›Gemeinschaft des Ortes‹ und die Freundschaft als ›Gemeinschaft des Geistes‹. Der ›organischen‹ Gemeinschaft stellt er die ›mechanische‹ Gesellschaft gegenüber, die er – gestützt auf die Marxsche Gesellschaftsanalyse – wesentlich durch die Defizite bestimmt, die sie im Vergleich mit der Gemeinschaft aufweise. Gesellschaftlich miteinander verbundene Menschen seien gar nicht wirklich miteinander verbunden. Gesellschaft sei vielmehr ein bloßes Nebeneinander wesentlich getrennter einzelner Individuen, kein echtes, sondern nur ein scheinbares, ein künstliches Zusammenleben, ein mechanischer Artefakt. Gesellschaft beruhe auf Entscheidung, auf Egoismus, auf Begierde und Furcht, auf »vernunftgemäßer Berechnung von Nutzen und Annehmlichkeiten«, kurz: auf einer grundsätzlich »negativen Haltung« (Tönnies 1979: 34). Deshalb überrascht es auch nicht, wenn Tönnies keinen Zweifel daran lässt, dass er Gemeinschaft nicht nur für die ursprünglichere, sondern auch für die höherwertige Sozialform hält und dass »der Begriff der Gesellschaft … den gesetzmäßig normalen Prozeß des Verfalls aller Gemeinschaft« (Tönnies 1925, 71) bezeichne – eine Sichtweise, die in der Geschichte der Soziologie deutliche und vielfältige Spuren hinterlassen hat. Dies gilt nicht nur für die Soziologie der Weimarer Republik, in der zum Beispiel Hans Freyer forderte, die Soziologie müsse nun mithelfen, die gemeinschaftszersetzende industrielle Gesellschaft durch eine »geistige Welt« zu ersetzen, »die Gemeinschaft ermöglichen soll« (Freyer 1930: 245), sondern beispielsweise auch in den sozialphilosophischen Lehren Jürgen Habermas’ mit seiner Unterscheidung von ›System‹ und ›Lebenswelt‹ und den Zeitdiagnosen des – vor allem – angelsächsischen Kommunitarismus.

Dieser – geschichtsphilosophisch inspirierten, ›kulturkritischen‹, ja ›kulturpessimistischen‹ – Sichtweise von der Überlegenheit der Gemeinschaft über die Gesellschaft hat Helmuth Plessner in seiner frühen Studie ›Grenzen der Gemeinschaft‹ (1924/2002) dezidiert widersprochen. Für Plessner sind Distanz, Indirektheit und Vermitteltheit als Grundrelationen ›gesellschaftlicher‹ Beziehungen keine defizienten, weil künstlichen Modi wie bei Tönnies, sondern in der ›leib-seelischen Konstitution des Menschen‹ selbst begründet. Gesellschaft als Sphäre ›indirekter Direktheit‹, ›natürlicher Künstlichkeit‹, als paradoxer und doppelsichtiger Spielraum des menschlichen Lebens, die der objektivierten Formen des Taktes, des Prestiges und der Zeremonie bedarf, ist für ihn genauso ›natürlich‹ wie Gemeinschaft. Gemeinschaft und Gesellschaft stehen deshalb für Plessner nicht in einer hierarchischen Beziehung, sondern gelten als zwei gleichberechtigte, historisch schon immer vorhanden gewesene Formen des menschlichen Zusammenlebens. Auch Max Weber war bemüht, Tönnies’ dichotomische Begriffsbildung geschichtsphilosophisch zu entschärfen und sie zu de-ontologisieren. In seinen ›Soziologischen Grundbegriffen‹ verwandelt er Gemeinschaft und Gesellschaft in idealtypische Prozessbegriffe und spricht von Formen der ›Vergemeinschaftung‹ und der ›Vergesellschaftung‹. Letztere wird definiert als eine soziale Beziehung, »wenn und insoweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht«, erstere als eine solche, »wenn und insoweit die Einstellung des sozialen Handelns … auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligen beruht« (Weber 1976, 21). Mit dieser[141] Konzentration auf die Motive des sozialen Handelns kann Weber nicht nur der Frage nach der ›Naturgemäßheit‹ der Sozialformen aus dem Weg gehen, sie ermöglicht es ihm auch, den Begriff der Gemeinschaft – jenseits persönlicher Nahverbände wie der Liebesgemeinschaft, der Familie oder der Freundschaft – auf ›größere‹ Sozialgebilde wie der Nation auszuweiten, die er als ›sekundäre Vergemeinschaftung‹ bezeichnet.

Ohne Zweifel lassen sich die Kategorien Gemeinschaft und Gesellschaft auch heute noch gewinnbringend für die Analyse der Formen menschlichen Zusammenlebens einsetzen. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass im Zuge von Individualisierungs-, Pluralisierungs- und Globalisierungsprozessen die bisherigen ›klassischen‹ Gemeinschaften und Gesellschaften an Attraktivität und Bedeutung verlieren und sich neuartige, weniger verbindliche und nur kurzfristig wirksame Sozialformen ausbilden, in denen sich vor allem das Bedürfnis nach ›authentischen‹ Gemeinschaftserlebnissen situativ Ausdruck verschafft. Manfred Prisching bezeichnet diese Formen als ›temporäre Vergemeinschaftungen‹, Ronald Hitzler spricht in Anschluss an Michel Maffesoli von ›posttraditionalen Vergemeinschaftungen‹. Beiden ist gemeinsam, dass sie Elemente von Gemeinschaft und Gesellschaft miteinander kombinieren. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sich Individuen oftmals zufällig dafür entscheiden, sich freiwillig und zeitweilig mehr oder weniger intensiv und mehr oder weniger dauerhaft als mit anderen zusammengehörig zu betrachten, mit denen sie nicht nur eine gemeinsame Interessenfokussierung haben oder vermuten, sondern mit denen sie sich – jenseits aller gemeinsamen Interessen – in einer Art von ›Gesinnungsbrüderschaft‹ auch affektuell verbunden fühlen. Konkrete Ausgestaltungen solcher posttraditionalen Gemeinschaften streuen und reichen von (Jugend-) Szenen und ihren Events, über (virtuelle) soziale Netzwerke bis hin zu situativen Event-Vergemeinschaftungen wie flash-mobs oder public-viewingevents, in denen das auf den Moment beschränkte, ekstatische, grenzenlose und deshalb weitgehend unverbindliche, weil folgenlose Gemeinschaftserlebnis im Mittelpunkt steht.

Literatur

Gebhardt, Winfried, 1999: ›Warme Gemeinschaft‹ und ›kalte Gesellschaft‹. Zur Kontinuität einer deutschen Denkfigur; in: Meuter, Günter; Otten, Henrique R. (Hg.): Der Aufstand gegen den Bürger, Würzburg, 165–184. – Hitzler, Ronald et al., 2008: Zur Einleitung: ›Ärgerliche‹ Gesellungsgebilde? In: Dies. (Hg.): Posttraditionale Gemeinschaften, Wiesbaden, 9–31. – Freyer, Hans, 1930: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, Berlin. – Maffesoli, Michel, 1996: The Time of the Tribes, Thousand Oaks. – Plessner, Helmuth, 2002: Grenzen der Gemeinschaft, Frankfurt a. M. (1924) – Prisching, Manfred, 2009: Das Selbst. Die Maske. Der Bluff, Wien u. a. – Tönnies, Ferdinand, 1925: Zur Einleitung in die Soziologie; in: Ders.: Soziologische Studien und Kritiken, Bd. 1, Jena, 65–74. – Tönnies, Ferdinand, 1979: Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt (1887). – Weber, Max, 1976: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen (1922).

Winfried Gebhardt

Generationen

Generation (engl. generation) ist ein schillernder Begriff, der in verschiedenen Zusammenhängen gebraucht wird. Generell kann man zwischen Gesellschafts- und Familiengenerationen unterscheiden.

Gesellschaftsgenerationen

Gesellschaftsgenerationen bezeichnet im Sinne des einflussreichen Aufsatzes von Karl Mannheim (1928) Personengruppen, die in einem Zeitraum von wenigen Jahren geboren wurden und sich durch besondere Gemeinsamkeiten auszeichnen. Dabei können generationstypische Erfahrungen wie bedeutende historische Umbrüche zu spezifischen Lebensläufen, Lebensstilen und einem besonderen Generationsbewusstsein führen. Idealerweise unterscheiden sich solche Generationen sowohl von vorherigen als auch von nachfolgenden Geburtsjahrgängen. Damit wäre für bloße Geburtsjahrgänge eher der Kohortenbegriff geeignet. Eine Generation umfasst demnach zwar eine bestimmte Kohorte, eine Kohorte jedoch nicht unbedingt eine Generation.

Gesellschaftsgenerationen lassen sich darüber hinaus als politische, ökonomische und kulturelle Generationen konzipieren. Mannheim bezieht sich generell auf politische Generationen und unterscheidet hierbei zwischen Generationslagerung, Generationszusammenhang und Generationseinheiten. Eine Generationslagerung betrifft Personen, die zur selben Zeit in derselben historisch-sozialen Lebensgemeinschaft geboren wurden. Daraus kann ein Generationszusammenhang entstehen, also eine Teilnahme[142] an den gemeinsamen Erfahrungen dieser Geburtsjahrgänge. Generationseinheiten sind dann Personengruppen mit ähnlichen Ansichten, Zielen und Verhaltensweisen, die innerhalb desselben Generationszusammenhangs durchaus in Widerstreit stehen können. Übertragen auf die sogenannte 68er-Generation würden die in den 1940er Jahren geborenen Westdeutschen einer gemeinsamen Generationslagerung angehören. Ein Generationszusammenhang würde im Kern auf politisch Aktive, vor allem Studierende zutreffen, wobei als Generationseinheiten sowohl die politisch linke außerparlamentarische Opposition als auch der konservative RCDS genannt werden können.

Kulturelle Generationen lassen sich durch besondere kulturelle (Lebens-) Erfahrungen, Einstellungen und Stile charakterisieren. Allerdings kann man vielen Generationenetiketten im Sinne kultureller Generationen mit Skepsis begegnen, wenn damit lediglich aktuelle Moden in den Blick genommen werden und kaum langfristige, idealerweise lebenslange Charakteristika bestimmter Kohorten.

Ökonomische Generationen schließlich können sich über spezifische ökonomische Chancen und Risiken ergeben, bspw. durch den Arbeitsmarkt oder (Wohlfahrts-) Staat. Hieraus kann eine dauerhafte Bevorzugung oder Benachteiligung bestimmter Geburtsjahrgänge resultieren.

Weitere Generationenbegriffe beziehen sich auf Einwanderergenerationen (die zumeist über das Geburtsland definiert werden), pädagogische Generationen (Lehrer und Schüler), bevölkerungsstatistisch auf den durchschnittlichen Abstand zwischen Geburtsjahren von Eltern und Kindern sowie auf Technikgenerationen. Alltagssprachlich werden zuweilen auch Altersgruppen als Generationen bezeichnet (z. B. als »junge« oder »alte« Generation), wobei diese Personengruppen zeitlebens nicht derselben Generation angehören. Auch bei Debatten um eine sogenannte »Generationengerechtigkeit« macht es Sinn, zwischen Altersgruppen, Kohorten und Generationen zu unterscheiden.

Familiengenerationen

Familiengenerationen stellen Generationen im ursprünglichen Sinne dar (»Erzeugung«) und beziehen sich auf Enkel, Kinder, Eltern, Großeltern, usw. Hierfür ist der Generationenbegriff unproblematisch, und einige Autoren schlagen sogar vor, ihn lediglich für die Linienverwandten zu verwenden.

In Hinblick auf die sogenannte Generationensolidarität wird untersucht, in welchem Maße Familiengenerationen durch emotionale Bindungen, Kontakte und Unterstützungen miteinander verbunden sind (affektive, assoziative und funktionale Solidarität). Empirische Studien zeigen, dass die Generationenbeziehungen auch nach dem Auszug der erwachsenen Kinder aus dem Elternhaus nicht abbrechen. Vielmehr existieren lebenslang enge Bindungen, häufige Kontakte und vielfältige Unterstützungen, bspw. in Form von Hilfe, Pflege, aktuellen finanziellen Transfers und Vererbungen.

Faktoren für einen mehr oder weniger ausgeprägten Generationenzusammenhalt lassen sich mittels Opportunitäts-, Bedürfnis-, familialer und kulturell-kontextueller Strukturen ermitteln. Damit werden individuelle Ressourcen und Bedarf sowie familienbezogene und gesellschaftliche Bedingungen unterschieden, innerhalb derer sich die Generationenbeziehungen ausdrücken und entwickeln (z. B. Sozial-, Wirtschafts- und Steuersystem, Arbeits- und Wohnungsmarkt, Rollen und Normen). Studien belegen bspw. deutliche Länderdifferenzen bei Häufigkeit und Intensität intergenerationaler Unterstützungen.

Ein weiterer Forschungsstrang widmet sich Generationenambivalenzen. Hierbei geht es insbesondere um unauflösbare Widersprüche bei Eltern-Kind-Beziehungen, die bspw. in den Spannungsfeldern von Nähe und Distanz, Abhängigkeit und Autonomie auftreten können (z. B. Lüscher/Pillemer). Untersucht werden auch Generationenkonflikte (wobei Konflikt, Ambivalenz und Solidarität nicht als Gegensätze erachtet werden müssen), Herausforderungen des demographischen Wandels für sowie Verbindungen zwischen Familien- und Gesellschaftsgenerationen.

Generationenbeziehungen sind ein wichtiges Thema zentraler soziologischer Teilgebiete. Hierzu zählen neben der politischen Soziologie und Wohlfahrtsstaatsforschung u. a. die Alters-, Familien-, Geschlechter-, Gesundheits-, Lebenslauf-, Migrationsund Wirtschaftssoziologie. Bedeutsam sind auch Verbindungen mit Sozialstruktur und sozialer Ungleichheit. Empirische Studien belegen, dass Eltern ihre (erwachsenen) Kinder lebenslang unterstützen, wobei höher gebildete und reichere Eltern hierzu in besonderem Maße in der Lage sind. Die Bandbreite[143] reicht vom Bildungserwerb in frühen Lebensjahren bis hin zu Erbschaften in der zweiten Lebenshälfte. Damit zeigt sich ein prekäres Verhältnis zwischen lebenslanger Generationensolidarität und sozialer Ungleichheit.

Literatur

Höpflinger, François, 1999: Generationenfrage. Konzepte, theoretische Ansätze und Beobachtungen zu Generationenbeziehungen in späteren Lebensphasen, Lausanne. – Kohli, Martin, 1999: Private and Public Transfers Between Generations; in: European Societies 1, 81–104. – Künemund, Harald; Szydlik, Marc (Hg.), 2009: Generationen. Multidisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden. – Lüscher, Kurt; Pillemer, Karl, 1998: Intergenerational Ambivalence. A New Approach to the Study of Parent-Child Relations in Later Life; in: Journal of Marriage and the Family 60, 413–425. – Mannheim, Karl, 1928: Das Problem der Generationen; in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie, 157–185 u. 309–330. – Nauck, Bernhard, 2009: Patterns of Exchange in Kinship Systems in Germany, Russia, and the People’s Republic of China; in: Journal of Comparative Family Studies 40, 255–278. – Silverstein, Merril; Bengtson, Vern L., 1997: Intergenerational Solidarity and the Structure of Adult Child-Parent Relationships in American Families; in: American Journal of Sociology 103, 429–460. – Szydlik, Marc, 2000: Lebenslange Solidarität? Generationenbeziehungen zwischen erwachsenen Kindern und Eltern, Opladen.

Marc Szydlik

Gerechtigkeit

Gerechtigkeit (engl. justice) ist ein Gebot, auf dessen Einhaltung Menschen größten Wert legen. Gerechtigkeitsmaßstäbe werden bei der Beurteilung von Verteilungen von Gütern und Belohnungen, der Zumutung von Belastungen und Strafen, an individuelles Handeln und institutionelle Entscheidungen sowie an Lebenslagen und Schicksale angelegt. Gerechtigkeit spielt insbesondere in Kontexten eine Rolle, in denen Akteure unterschiedliche oder gar gegenläufige Interessen verfolgen. Beispiele sind die Vergütung von Arbeit, der Preis für Waren, die Zahlung von Steuern und Abgaben, die Nutzung begrenzter Ressourcen sowie die Bewahrung der Lebensgrundlage künftiger Generationen. Zu Konflikten kommt es, wenn eine Partei die Verletzung eines Anspruchs wahrnimmt, der aus einem Gerechtigkeitsprinzip abgeleitet werden kann, z. B. den Anspruch auf Gleichbehandlung.

Normative Wissenschaften wie die Philosophie streben die Begründung von allgemeingültigen Gerechtigkeitsprinzipien an. Deskriptive Wissenschaften wie die Soziologie interessieren sich dafür, welche Ereignisse und Entscheidungen von Menschen als gerecht oder ungerecht empfunden werden und welche Reaktionen auf Ungerechtigkeit folgen.

Soziologische und psychologische Gerechtigkeitstheorien

Die Theorie der relativen Deprivation besagt, dass subjektive Benachteiligung weniger durch objektiv schlechte Lebensumstände erzeugt wird als durch enttäuschte Erwartungen, die aus sozialen Vergleichen abgeleitet werden. Relative Benachteiligung im Vergleich zu anderen Mitgliedern der eigenen Gruppe bezeichnet man als egoistische Deprivation, relative Benachteiligung der eigenen Gruppe im Vergleich zu einer anderen Gruppe als fraternale Deprivation. Erwartet, aber nicht in allen Untersuchungen bestätigt wurde, dass egoistische Deprivation primär das Wohlbefinden schädigt, während fraternale Deprivation primär zu Protest führt (Schmitt et al. 2009b).

Die Equity-Theorie nimmt an, dass auch ungleiche Verteilungen von Gütern als fair beurteilt werden, wenn sie mit entsprechenden Leistungsunterschieden gerechtfertigt werden können. Vorhersagen der Theorie konnten vor allem im Bereich der Lohngerechtigkeit und der Partnerschaftszufriedenheit bestätigt werden (Walster et al. 1978).

Theorie der relativen Privilegierung: Die Equity Theorie sagt vorher, dass außer unverdienten Nachteilen auch unverdiente Vorteile als ungerecht und belastend empfunden werden. Dieser Überlegung folgend konnte entsprechend einer Theorie der Relativen Privilegierung (Montada et al. 1986) in mehreren Untersuchungen gezeigt werden, dass Menschen existentielle Schuldgefühle entwickeln, wenn sie ihre relative Besserstellung nicht rechtfertigen können.

Theorien der Verfahrensgerechtigkeit: Außer Verteilungen von Gütern und Lasten sind auch die Verfahren, die zu Verteilungsentscheidungen und anderen, z. B. juristischen Entscheidungen führen, Gegenstand von Gerechtigkeitsurteilen. Verfahren werden als gerecht erlebt, wenn sie den Kriterien der Genauigkeit, Unvoreingenommenheit, Korrigierbarkeit, Konsistenz, Repräsentativität und ethischen Legitimität genügen (Leventhal 1976).

[144]Die Gerechtigkeitsmotivtheorie von Lerner (1980) nimmt an, dass Menschen ein Bedürfnis haben, an eine gerechte Welt zu glauben. Wird dieser Glaube durch die Beobachtung einer Ungerechtigkeit bedroht, versuchen Menschen zunächst, diese zu beseitigen, z. B. durch Bestrafung des Täters oder Unterstützung des Opfers. Ist dies nicht möglich, wird Gerechtigkeit jedoch durch eine Umdeutung der Situation wieder hergestellt, z. B. durch Selbstverschuldungsvorwürfe an das Opfer.

Individuelle Unterschiede im Gerechtigkeitserleben

Die genannten Theorien beanspruchen, Wahrnehmung von und Reaktionen auf Ungerechtigkeit für alle Menschen gleichermaßen zu beschreiben. In zahlreichen Untersuchungen wurde jedoch gefunden, dass Menschen auf die gleiche gerechtigkeitsrelevante Situation durchaus unterschiedlich reagieren. Erklärbar sind solche Unterschiede damit, dass Menschen unterschiedliche Gerechtigkeitsprinzipien bevorzugen (Sabbagh et al. 1994), unterschiedlich stark an eine gerechte Welt glauben (Maes, 1998) und unterschiedlich sensibel für Ungerechtigkeit sind (Schmitt et al. 2009a).

Literatur

Lerner, Melvin J., 1980: The belief in a just world, New York, NY. – Leventhal, Gerald S., 1976: Fairness in social relationships; in: Thibaut, John W. et al. (Eds.): Contemporary topics in social psychology, Morristown, NJ, 211–239. – Maes, Jürgen, 1998: Eight stages in the development of research on the construct of belief in a just world; in: Montada, Leo; Lerner, Melvin J. (Eds.): Responses to victimizations and belief in a just world, New York, NY, 163–186. – Montada, Leo et al., 1986: Thinking about justice and dealing with one’s own privileges; in: Bierhoff, Hans-Werner et al. (Eds.): Justice in social relations, New York, NY, 125–143. – Sabbagh, Clara et al., 1994: The structure of social justice judgments; in: Social Psychology Quarterly 57, 244–261. – Schmitt, Manfred et al., 2009a: Sensibilität für Ungerechtigkeit; in: Psychologische Rundschau 60, 8–22. – Schmitt, Manfred et al. 2009b: Longitudinal effects of egoistic and fraternal relative deprivation on well-being and protest; in: International Journal of Psychology 44, 1–9. – Walster, Elaine et al. 1978: Equity. Theory and research, Boston, MA.

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