Czytaj książkę: «TEXT + KRITIK 229 -Thomas Hürlimann»
TEXT+KRITIK.
Zeitschrift für Literatur
Redaktion:
Meike Feßmann, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel und Peer Trilcke
Leitung der Redaktion: Claudia Stockinger und Steffen Martus
Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,
Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96
Print ISBN 978-3-96707-474-1
E-ISBN 978-3-96707-476-5
Umschlaggestaltung: Thomas Scheer
Umschlagabbildung: Isolde Ohlbaum (2015)
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2021
Levelingstraße 6a, 81673 München
Inhalt
Thomas Hürlimann
Coco Chanel im Kloster
Nicolas von Passavant
Grundzüge von Thomas Hürlimanns Prosa, vom Debüt »Die Tessinerin« her aufgerollt
Jürgen Barkhoff Die Katze als philosophisches und poetologisches Tier
Tan Wälchli »Mit Blick auf das Reich«. Multiperspektivität und unscharfe Geschichtsbilder in Thomas Hürlimanns Weltkriegsdramen
Irmgard M. Wirtz Das Einsiedler Welttheater: Spiele von Vergänglichkeit und Endzeit
Barbara Schlumpf / Nicolas von Passavant Thomas Hürlimanns Dialektstücke in Einsiedeln. Ein Werkstattgespräch
Hubert Thüring Krankheit als Metonymie Morbologische. Verfremdungen in Thomas Hürlimanns »Die Tessinerin« und »Meine Reise ins eigene Innere«
Michael Braun Der eiserne Vater und die lachende Mutter. Familiendesaster in Thomas Hürlimanns Schweizer Trilogie
Alfred Bodenheimer »Ich verstehe die Sprache der Katzen«. Thomas Hürlimanns Roman »Heimkehr« als Arbeit am Logos
Alexander Honold Nicht übel. Hürlimanns »Heimkehr«-Roman als intertextuelle Odyssee
Benedikt Koller / Nicolas von Passavant Auswahlbibliografie
Notizen
Thomas Hürlimann
Coco Chanel im Kloster 1
Ein Saal – und was für ein Saal! Er war mit einem grünlichgrauen Linoleum belegt und enthielt weder eine Bank noch einen Stuhl, schon gar kein Bett, ja nicht einmal einen Schreibtisch oder eine Betbank, keine Möbel, keine Bilder – da war einfach nichts. Nichts als Leere. Leere und eine düstere Dämmerung aus weißen Kugellampen. Nur stehen konnte man hier – oder knien. Knien und beten. Oder auf den Knien den Boden waschen. Im unteren Teil der hohen Wände waren lauter Türen, und schon hätte ich nicht mehr sagen können, durch welche wir die Präfektur betreten hatten. Waren es Schränke für Akten, für Aufsätze, für Matura-Prüfungen? Irgendwoher tickte es. Da musste die Zeit eingeschlossen sein – als ließe der Heilige nur die Ewigkeit gelten. Aber dann erklang ein dünnes Bimmeln, und ich gewann den Eindruck, dass selbst ein Heiliger die Zeit nicht loswurde. Reflexhaft griff ich nach Mimis Autohandschuh. Wir hatten – ganz deutlich – ein Schnaufen gehört. War hinter dieser Tür ein Tier eingesperrt? Oder ein wilder Mensch? Atemlos lauschten wir. Tatsächlich, da drin schnaufte ein Lebewesen. Ob wir es freilassen sollten? Besser warteten wir, bis der Heilige kam – ihm konnten wir die Geräusche melden. Nur: der Heilige kam nicht. Der ließ uns stehen. Und so ganz allmählich begann ich an seiner Heiligkeit zu zweifeln, trotz den Worten des Vaters. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus – auf leisen Sohlen, die Beine vorsichtig anhebend, ging ich quer durch den weiten Saal in eine Fensternische, hielt die Hände wie Scheuklappen vors Gesicht, sah hinab in einen frisch verschneiten Park. Licht aus vielen Fenstern fiel auf die Kronen kahler Bäume, auf weiße Beete, Wege, Büsche und einen runden Brunnen mit schwarzem Wasser. Maria zum Schnee – der Name passte! Zu Hause, im Unterland, waren die Platanen an der Seepromenade noch belaubt, hier oben jedoch, im voralpinen Talkessel, begann schon der Winter. Als sich Mimi an meinen Rücken schmiegte, um ebenfalls hinabzublicken, spürte ich am Schulterblatt ihr BH-Körbchen. Herrlich! Auch in der Duftnote blieb sie Coco treu, es war Chanel N°5, ich würde es vermissen.
Da! wieder ein Schrecken! Der sterbende Jesus, der über uns am Kreuz hing, schien sich auf uns herabstürzen zu wollen. Wie ein Turmspringer auf dem Fünfmeterbrett unserer Badeanstalt streckte er die Arme nach hinten, drückte den Kopf in den Nacken und den Rumpf nach vorn ‒ als wollte er sich von den Nägeln reißen. Vorsichtig gingen wir rückwärts, uns an den Händen haltend, die Augen gebannt auf das Kreuz und den sprungbereiten Jesus gerichtet … und erstarrten. Im Nacken trafen uns heiße Atemstöße. Wie Fäuste. Fäuste aus heißer Luft –
der Heilige.
Der Heilige!
Lautlos musste er einem der Schränke entschwebt sein, wie in Zeitlupe drehten wir uns nach ihm um, und das Erste, was ich sah, waren die gewaltigen, in seitlich abgelatschten Sandalen steckenden nackten weißen Füße. Zehennägel mit Trauerrändern, auf den Gliedern schwarze Haarbüschel – wenn Mimi diese Füße erblickte, wurde ihr übel. Den Kopf zwischen die Schultern duckend, wandte ich den Blick nach oben, und kaum zu glauben, der Heilige hatte so lange schwarze seidene Wimpern wie Mimi. Aber sein Geruch, du lieber Himmel! Er stank so enorm nach Ziegenbock und Weihrauch, dass Mimi und ich verzweifelt versuchten, nur gerade das Nötigste an Luft hereinzuholen – was nun leider zu einer Slapstick-Nummer führte. Mimi und ich griffen zum Taschentuch, doch im selben Moment wurde uns bewusst, dass es der Heilige als Affront empfinden könnte, wenn wir beide, noch dazu gleichzeitig, wie Synchronschwimmer, ein Tuch an die Nase hielten. Also ließen wir’s verschwinden, sie in ihren Blusenärmel, ich in die Manteltasche. Das heißt, nicht ganz! Da auch Mimi das Tuch wegsteckte, konnte ich es ja wieder hervorziehen, dachte ich, und zu dumm, Mimi hatte in derselben Sekunde die gleiche Überlegung angestellt, sodass wir am Ende aller Anstrengungen beide die Nase ins Taschentuch drückten.
»Hochwürdigster Herr Pater«, ließ sich Mimi gedämpft vernehmen, »ich bin Madame Goldau. Leider haben wir uns ein wenig verspätet.«
»Göldau?«
»Goldau«, näselte sie, »mit O!« Und auf einmal unterlief der sonst so parkettsicheren Mimi ein Fehler nach dem andern. »In protestantischen Kantonen«, fuhr sie fort, »sind die Straßen eindeutig gepflegter als in den katholischen. Zum Glück ist uns ein junger Gentleman zu Hilfe gekommen, sonst wären wir im Graben zugeschneit worden – mit so einer Wetterlage rechnet man ja nicht, in den tieferen Regionen.« Dem folgte ein Seufzer und ein Klimpern ihrer schwarzen Halbmonde. Ach, Mimi! Vor einem Heiligen kokettiert man nicht! Und erst deine Wortwahl! Ein wenig verspätet. Junger Gentleman.Gepflegtere Straßen in protestantischen Kantonen. Dem Heiligen blähte es den Brustkasten, sein Schnauben wurde lauter, sein Atem schwüler, fast dampfig. »Und dann dieser Vogelmensch!«, setzte Mimi noch einen drauf, weiterhin ihr Tüchlein im Gesicht, »puh, das war vielleicht eine Nummer! Völlig meschugge. Hat die ganze Zeit nur gezwitschert und gepfiffen, wie eine Drossel.«
»Die angebliche Drössel …«
»Drossel«, korrigierte sie.
»Drössel«, beharrte er, »ist ein Armer im Geiste, der im Stift Unserer Lieben Frau Öbdach und Bröt gefunden hat.«
»Also bei uns heißt es Obdach und Brot, meinst du nicht auch, Arthi-Darling?!«
Wenigstens ersparte mir der Heilige eine Antwort. »Fröilein«, rief er entrüstet, »im Stift Unserer Lieben Frau gehört der Buchstabe O allein Gott dem Herrn!«
»Pardon«, unterbrach Mimi den Heiligen, »so charmant es gemeint sein mag, ich bin keine Demoiselle. Ich bin Arthis Mutter.«
»Was«, entfuhr es ihm, »seine Mutter sind Sie?!«
»Ja«, hauchte Mimi, »Arthi ist mein Söhn, äh, Sohn.«
Er schien es nicht zu fassen. »Der Bube ist nicht Ihr Bruder?«
»Nein. Aber verwandt sind wir schon, sogar blutsverwandt, nicht wahr, Arthi-Darling?«
Es reichte mir im Angesicht des Heiligen nur zu einem Lächeln, der Mut zu einem Ja ging mir ab.
»Darf ich jetzt zum Wesentlichen kommen«, fragte Mimi gereizt. »Ihr Vogel-, Pardon, Ihr Pfortenmensch konnte uns leider nicht garantieren, dass Arthi einen Kühlschrank zugewiesen bekommt. Arthi ist kein besonders guter Esser, müssen Sie wissen. Deshalb habe ich mir erlaubt, ihm ein paar von seinen Lieblingsspeisen einpacken zu lassen, unter anderem eine Wildpastete.«
Auf so einen hatten sie hier gewartet – Kühlschrank Lieblingsspeise Wildpastete! Madonna, flehte ich, bitte verhindere, dass Mimi ihr Täschchen aufknipst … Und schon begann sie hektisch darin zu wühlen. »Nach Ansicht meines Gatten«, plapperte sie, »pflegen die hochwürdigen Herren dem Himmel ein Rauchopfer darzubringen. Könnte mir vorstellen, dass der Duft dieser Havanna auch dem lieben Gott gefällt.«
Die Augen des Heiligen wurden zu Pingpongbällen, er hob abwehrend seine Pranke und rief: »Weg mit dem Stumpen, Mutter Göldau!«
»Wie Sie meinen«, erwiderte Mimi. »Wir wollten sowieso noch beim Pater Rektor vorbeischauen. Er steht im Ruf, ein gebildeter Herr zu sein und wird eine Havanna zu schätzen wissen. Ist das die Tür nach draußen? Oder landet man hier im Besenschrank?«
Mimi riss eine der vielen Türen auf – und aus dem Schrank glotzte das seekranke Gesicht eines jüngeren Paters. Er saß in seiner Koje an einem Schreibpult, wurde von einem Lämpchen mit grüner Haube beschienen und hielt einen Federkiel in der Rechten. Mimi wollte durch die nächste Tür entkommen, und kaum zu glauben, auch in diesem Schrank steckte ein Pater! Er kniete auf einer Betbank, trug einen Kopfhörer mit dicken runden Ohrenklappen, griff nach dem Türknauf, knallte sich weg. Mimi kicherte. Und mir ging ein Licht auf. Der Vater hatte gegen seine Frau entschieden, Maria Schnee sei die richtige Schule für mich, hier würden sie einen Mann aus mir machen, aber typisch Mimi! – dank ihrem Pannentalent war es ihr gelungen, ein Schlamassel anzurichten, das zu ihren Gunsten ausging. »Arthi-Darling«, flötete sie mit einem entzückenden Lächeln, »würdest du so liebenswürdig sein, mich nach Hause zu begleiten? Ich denke, das Klöster ist nichts für uns.«
Hätte ich Mimi den Arm gegeben ‒ mein Leben wäre anders verlaufen. Aber ich habe sie ziehen lassen, ich wollte hier zum Mann gemacht werden und sah kopfschüttelnd zu, wie die Spitzenabsätze ihrer Stöckelschuhe lauter kleine Us in den Linoleumbelag stachen, winzige Teufelshufe, die wie eine Fährte unter einer der vielen Türen verschwanden. Ich ahnte es ‒ die Narbenspur im Linoleum würde nie mehr verheilen …
»Sie hat mir den Böden versaut«, wimmerte der Heilige.
1 Aus einer entstehenden Novelle. Titel für diese Veröffentlichung.
Nicolas von Passavant
Grundzüge von Thomas Hürlimanns Prosa, vom Debüt »Die Tessinerin« her aufgerollt
Thomas Hürlimann debütierte 1981 mit dem Erzählband »Die Tessinerin«, der sechs zum Teil längere Geschichten enthält. Erschienen ist das Buch als erster Titel des damals neu gegründeten Amman-Verlags, dem Hürlimann als Hausautor treu blieb.1 Wie sich im Rückblick zeigt, haben sich auch Motive und stilistische Eigenschaften der frühen Erzählungen für die mittlerweile 40-jährige Schaffenszeit des Autors als prägend herausgestellt.
Auf diese poetologisch prägenden Aspekte des ersten Buchs werden im Folgenden fünf Schlaglichter geworfen: Es werden Textstellen zur autobiografischen Thematik der Erzählungen und deren erzähltechnische und stilistische Konzeption erläutert. Danach folgt eine Untersuchung der geschilderten Todesszenen und ihrer Stellung im Zusammenhang des Buchs, was abschließend auf in den Texten enthaltene poetologische Kommentare rückbezogen wird.
Autobiografische Reminiszenzen
Der erste Text »Begegnung« beginnt mit einer Parabel, die sich am Ende der Lektüre als sehr bedeutsam herausstellen wird, zunächst aber undurchsichtig bleibt: Einerseits ist von einem »Berggänger« die Rede, der »seine Kraft und die Nahrung, die er im Rucksack trägt, die noch zu bewältigende Linie und einen eventuellen Wetterumschlag immer bedenkend, hinauf zum Gipfel« steigt. Andererseits wird der Gang eines Wanderers beschrieben, der ruhig und beständig schreitet. Dem Bergsteiger bleibe, auf dem Gipfel angekommen, »nur die Umkehr übrig oder der Tod«, der Wanderer dagegen messe seinen Erfolg alleine an seinem Vorankommen im Raum. Von beiden unterschieden sich die »Wahnkranken und Schwachsinnigen«, die »zeitlos und ziellos – ohne auf Körperkräfte achtzugeben – über Land rennen« (»Die Tessinerin«, S. 7).2
Zu welchem Typus der nun auftretende Ich-Erzähler gehört, ist zunächst unklar. Gewisse Ähnlichkeiten scheint er fürs Erste mit Typus drei, dem Wahnsinnigen, zu haben, wenn er sich in der nun einsetzenden Geschichte nach einem heißen Sommertag in einer Westberliner Kneipe einen ziemlichen Rausch antrinkt: Mit steigendem Alkoholpegel werden die Milieubeschreibungen surrealer, irgendwann taucht ein zwielichtiger ›Doktor‹ (S. 17) auf, von dem unklar bleibt, ob der Protagonist und er sich schon länger oder aber überhaupt nicht kennen. Es bricht einiger Tumult aus, der Protagonist betrinkt sich weiter, erbricht sich und macht sich schließlich im Morgengrauen auf den Nachhauseweg.
Wesentlich übersichtlicher geht es im zweiten Text zu, in dem sich Hürlimanns auch späteres Faible für das verfremdende Spiel mit der eigenen Selbst- und Familienbiografie abzeichnet: »Schweizerreise in einem Ford« erzählt von den gemeinsamen Reisen der Eltern mit den Kindern im neu gekauften Auto. Dem innerschweizerisch-katholischen Milieu entsprechend wird der Wagen zuallererst vom Stadtpfarrer gesegnet. Gewissermaßen im polierten Chromstahl des Autos erscheint das Zerrbild einer idyllischen Schweiz der 1950er und 1960er Jahre, in der sich ein autoritärer Vater in den betont aufgeräumten Verhältnissen des Landes bestens auskennt. Beim Besuch des Parlamentssitzes in Bern kann er die unterschiedlichen Personalgruppen zuordnen: »Das sei ein Portier, sagte der Vater leise, die Parlamentsherren trügen keine Uniform.« (S. 32) Auch in allen anderen Belangen weiß er Bescheid: »Theres, sagte der Vater, so früh am Morgen sind die Bahnhofstoiletten noch sauber.« (S. 25)
Der Vater des Autors, Hans Hürlimann, war zur Handlungszeit der Geschichte Regierungsrat für die christlich-konservative CVP im innerschweizerischen Kanton Zug. Als der Band »Die Tessinerin« erschien, hatte Hans Hürlimann eine steile politische Karriere hinter sich: Er war in den eidgenössischen Ständerat, dann sogar in die Landesregierunggewählt worden. Auf seine frühe Ambition und seinen Ordnungssinn spielt in der Geschichte lakonisch an, dass sich der Vater schon Jahre zuvor mit den Uniformen des Sicherheitspersonals vertraut gemacht hatte. Im Roman »Der grosse Kater« (1998) wird Hürlimann ihn als verbissenen Emporkömmling zeichnen. Anders gestaltet sich der Blick auf die Mutter, um deren Biografie sich die Fabulationen im Roman »Vierzig Rosen« (2006) spinnen: Sie erfährt, wie in den frühen Erzählungen, eine Darstellung als feinsinnige und liebenswerte Person.
Eine scheinbare Randbemerkung aus »Schweizerreise in einem Ford« wird sich für die Gesamtkonzeption des Erzählbands als sehr bedeutsam herausstellen: Gegen Schluss der Geschichte sagt der Ich-Erzähler, er habe über die Ausfahrten im Auto »vor einem Jahr mit seinem Bruder« geredet, als dieser »im Sterben lag« (S. 35).
Erzählhaltung und -stil
Eine nächste Erzählung, »Die Pechbindung«, ist mit dem Untertitel »Ein Selbstportrait« versehen. Die Geschichte folgt eigentlich aber einer jungen, unverheirateten Frau, die immer wieder Zudringlichkeiten und herablassenden Kommentaren ausgesetzt ist. Sie unternimmt Versuche zur Selbstermächtigung im Rahmen der Frauenbewegung (die Geschichte spielt im Jahr 1980). Auch darauf reagiert ihr Umfeld mit spöttischen Kommentaren. An diesen scheitert letztendlich auch ihre Liebschaft mit einem früheren Bekannten des Erzählers.
Der sich im Ausland befindende Erzähler lässt sich über all dies Bericht erstatten, woraus sich die merkwürdige Erzählkonstruktion der Geschichte ergibt, die teils auktorial gehalten ist, teils auf die kolportierten Gerüchte angewiesen scheint. Aus der Mischung des panoptischen Erzählerwissens und den Tratsch-Erzählungen resultiert eine klaustrophobische Stimmung. Das Selbstverhältnis, das dem Erzähler dieses »Selbstportraits« zugrunde liegt, scheint ambivalent: Er gibt ein hohes Einfühlungsvermögen zu erkennen, scheint sich in der Figur zu spiegeln. Zugleich hat sein Blick auf sie auch aufdringliche Züge.
Die Zwiespältigkeit von Phantasmen der Nähe wird bei Hürlimann immer wieder thematisiert: In der ersten Geschichte bekundet der Erzähler, dass er auf der »Straße (…) einem schwarzbestrumpften Damenbein nachschnuppert« (S. 7 f.). Das nimmt den (recht liebenswerten) Fetisch des jugendlichen Helden aus der Novelle »Fräulein Stark« (2001) vorweg: Als der Schüler während eines Ferienjobs in der St. Galler Stiftsbibliothek damit betraut wird, Besuchern Überschuhe anzuziehen, entdeckt er eine Vorliebe für Beinstrümpfe. Kritischer verhält es sich im späten Roman »Heimkehr« (2018): Der erwachsene Protagonist sucht dort nach der Mutter, der er sich immer besonders nahe glaubte. Schließlich erinnert man ihn daran, dass er sich ihr gegenüber in der Kindheit geradezu boshaft tyrannisch verhalten habe.
So freimütig Hürlimanns Prosa also Einfühlsamkeit und Bedürfnisse nach Nähe ausstellt, so deutlich erscheint bereits in seinem ersten Erzählband auch deren Ambivalenz. Dies zieht weder hier noch in späteren Texten eine Drosselung entsprechender narrativer Verfahren nach sich: Das teils geradezu exzessiv emotions- und empathiebetonte Erzählen erfährt durch das Wissen um den möglichen Missbrauch von Einfühlung aber ein Korrektiv, woraus ein mitunter selbstironisches Selbstverhältnis von Hürlimanns Erzählerfiguren resultiert.
In der vierten der sechs Erzählungen, »Das Innere des Himmels«, wird der Eintritt des Protagonisten in das Internat Einsiedeln beschrieben. Mit dieser ebenfalls autobiografischen Reminiszenz wird die Strukturlogik des Bandes deutlicher: Zum einen wechseln sich Geschichten der Gegenwart (sowie der jüngeren Vergangenheit) mit Erinnerungserzählungen ab. Andererseits bleiben beide Ebenen miteinander verschränkt: In die Gegenwartsgeschichten sind Erinnerungspassagen eingeflochten,3 in den Erinnerungstexten wiederum scheint immer wieder die Erzählsituation in Westberlin 1980 auf, etwa in der Erwähnung des merkwürdigen Doktors.4
Anhand der Anfangspassage, die die Hinfahrt zum Internat beschreibt, lässt sich eine erzähltechnische Beobachtung machen: Es heißt dort zunächst nur schematisch, es seien »(i)n der Ferne, über die Häuser des Dorfes emporragend (…) zwei Türme zu erblicken« (S. 76). Die Erwähnung von »Pilgerhotels« (S. 77) bei der Einfahrt ins Dorf deutet einem Teil der Leserschaft schon an, um welche Ortschaft es sich handeln mag. Der Name Einsiedeln fällt aber erst in einer späteren Rückblende: In ihr hört der Protagonist als Kind zum ersten Mal von der Schwarzen Madonna, die sich in der dortigen Kirche befindet. In der Kirche ereilt den Ankömmling nach seiner Ankunft eine mystische Erfahrung:»Die Zeit hebt sich auf und auch der Raum. (…) (A)n der Hand meiner Mutter durch die Kirche schreitend, fühlte und wusste ich: Dieser Raum gleicht dem Innern des Himmels.« (S. 82)
Die Etablierung des Handlungsorts zeigt, wie genau Hürlimann bereits in diesem frühen Text abwägt, welche Teile seiner Szenerien erläuterungsbedürftig sind, wo Orte im Vagen belassen werden können oder wie nötiges Hintergrundwissen anderenfalls möglichst beiläufig eingestreut werden kann. Obschon Hürlimanns Geschichten fast sämtlich in dem örtlich und sozial stark gebundenen, gehoben-bürgerlichen Milieu der Zentral- und Ostschweiz spielen, schreibt er weder als Bildungsbürger für Bildungsbürger noch als Schweizer für Schweizer. Die Selbstverortung des Erzählers in der ersten Geschichte akzentuiert eine doppelte Hybridsituation: als Westberliner Exilschweizer und als Bürgersohn im Arbeiterlokal. Eine solche Zwischenstellung bleibt bei schriftstellerischen Selbstauskünften Hürlimanns wichtig.5
Analog verhält es sich mit der sprachlichen Gestaltung: Hürlimann schreibt eine glatte, sehr zugängliche Prosa. Dialektausdrücke vermeidet er nicht völlig, setzt sie jedoch sparsam ein.6 In Dialekt schreibt Hürlimann manche seiner Theaterstücke.7 In den Texten, die nicht für den mündlichen Vortrag konzipiert sind, vermeidet er aber die Ausmalung mit sprachlichem Lokalkolorit und prägt auch keine besonders idiosynkratische dialektal-hochdeutsche Mischform aus.8 Er sucht einen nüchternen Schreibduktus nahe an einer standarddeutschen Literatursprache, als deren Vorbilder etwa Gottfried Keller oder Meinrad Inglin gedient haben mögen, aus deren beider Werk Hürlimann Auswahlbände zusammengestellt hat.9