Czytaj książkę: «TEXT + KRITIK 227 - Lukas Bärfuss»

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TEXT+KRITIK.

Zeitschrift für Literatur

Redaktion:

Meike Feßmann, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel

und Michael Töteberg

Leitung der Redaktion: Claudia Stockinger und Steffen Martus

Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,

Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96

Print ISBN 978-3-96707-110-8

E-ISBN 978-3-96707-112-2

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer

Umschlagabbildung: © Lea Meienberg

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2020

Levelingstraße 6a, 81673 München

www.etk-muenchen.de

Inhalt

Lukas Bärfuss

Das Ulmensterben

Raphael Urweider

Luki

Judith Gerstenberg

Trotzdem. Laudatio zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2019 an Lukas Bärfuss

Gregor Dotzauer Aufatmen im Gegenwind. Das Phänomen Lukas Bärfuss

Tom Kindt »Ins Gelächter führen«. Komik bei Lukas Bärfuss

Oliver Lubrich Kolonialismus als Metapher

Victor Lindblom Ist es wirklich so schlimm? Zur Fiktionalität und Erzählkonzeption von Lukas Bärfuss’ »Koala«

Marta Famula »Diese Konkretion empfinde ich als das wirklich Grausame« Das Skandalon des Sterbens in Lukas Bärfuss’ Drama »Alices Reise in die Schweiz«

Ralph Müller Essayistische Tugenden bei Lukas Bärfuss

Anke Detken Ästhetik der Verantwortlichkeit. Laudatio auf Lukas Bärfuss anlässlich der Lichtenberg-Poetikdozentur Göttingen

Peter von Matt Ästhetik der Konfrontation. Über die künstlerische Strategie von Lukas Bärfuss

Thorsten Ahrend Lieber Lukas...

Dana Kissling / Victor Lindblom Auswahlbibliografie

Notizen

Lukas Bärfuss

Das Ulmensterben

Bevor ich mich einer bestimmten Art der Ascomycota widme, will ich die Aufmerksamkeit kurz einer Sache zuwenden, die mich seit einigen Jahren immer wieder beschäftigt. Sie betrifft eine gewisse literarische Form, die weit verbreitet ist und der ich neulich in der Form einer Kurzgeschichte begegnet bin.

Als mein Blick mir am Ende eines langen und arbeitsreichen Tages nach leichter Zerstreuung war, fiel ich im Bücherregal zufällig auf einen Band, den ich vor zwölf oder mehr Jahren aus der Wühlkiste meiner Buchhandlung gefischt, bisher aber nicht gelesen hatte. Auf drei Dutzend Seiten lernte ich jetzt eine junge Frau kennen, die mit ihrer asthmatischen Schwester in einer namenlosen Provinz lebt. Die Eltern längst tot, die Aussichten auf eine Heirat gering mit täglich abnehmender Tendenz, besteht ihre einzige Möglichkeit, ein paar Stunden der Enge ihres Daseins zu entkommen, in den Theateraufführungen, die sommers in einer nahe gelegenen Stadt gegeben werden. Alle Jahre besucht die Frau diese Vorstellungen mit glühendem Herzen und lässt die kranke und argwöhnische Schwester derweil einen Sonntagnachmittag alleine.

Nach einer Vorstellung von Shakespeares »As You Like It« und mit dem Kopf immer noch bei Rosalind und Orlando im Wald von Arden, vergisst unsere Heldin in der Toilette des Theaters ihre Handtasche. Geld, Fahrkarte, Schlüssel: unauffindbar. Tränen, Angst, Verzweiflung: die Heldin nun an jenem Punkt, den man in Hollywood Plot Point nennt.

Auftritt Hund, Rasse Dobermann, er hat sich losgerissen, daher gefolgt von einem Mann. Kurzer Dialog auf den Treppen des Theaters, danach Spaziergang in seinen Laden, in dem er werktags Uhren repariert. Er serviert der jungen Frau nun ein karges, aber schmackhaftes Mahl aus Gulasch und Rotwein, das als frugal zu bezeichnen, die Autorin vermeidet. Geplauder über dieses und jenes. Während der Dobermann artig in einer Ecke wartet, stellt sich bald eine Vertrautheit ein. Später am Abend begleitet der Mann sie zum Bahnhof, wo er ihr die Karte für die Rückfahrt kauft. Beim Abschied auf dem Schotter am Ende des Bahnsteigs schenkt er ihr den ersten Kuss ihres Lebens und nimmt ihr das Versprechen ab, nach Ablauf eines Jahres dasselbe grüne Kleid anzuziehen, denselben Zug zu besteigen und seinen Laden mit den Uhren aufzusuchen. Was dort geschehen soll, wird nicht gesagt, aber die Aufregung, die das arme Wesen nun die nächsten zwölf Monate auf Trab hält, lässt vermuten, dass die Verheißung nicht in einem weiteren Teller des ungarischen Rindereintopfs besteht.

Die Erzählung ist äußerst geschickt und sorgfältig gebaut, man liest sie mit angehaltenem Atem und will natürlich wissen, ob die Heldin ihren Uhrmacher tatsächlich wiederfindet, wie sie es ihrer hilflosen und asthmatischen Schwester beibringen und welcher Art das Unglück sein wird, das unweigerlich zuschlagen muss. Glücklich enden diese Geschichten nie. Die Erzählung, übrigens, ist äußerst geschickt und sorgfältig gebaut, und so sehr ich die Autorin für ihre Handwerkskunst bewundere, scheint mir diese Erzählung ein prototypisches Beispiel für einige der grundlegenden und potenziell tödlichen Gefahren der zeitgenössischen Literatur zu sein, die, wenn sie sich nicht von diesem stilistischen Efeu befreit, daran ersticken wird.

Damit man mich richtig versteht: Es liegt nicht an dieser spezifischen Geschichte. Sie steht nur als Exempel. Man findet dieselbe Manier bei allen Erzählungen dieser Autorin, die übrigens mit einigen hohen, ja den allerhöchsten Ehrungen ausgezeichnet wurde. Das Problem beschränkt sich gleichfalls nicht auf die Autorin. Wäre dies der Fall, würde ich keine Zeit damit verlieren, denn es müsste genügend Auswahl geben, um auch für meinen Geschmack das Passende zu finden. Nein, dieses Genre und seine Konventionen haben mittlerweile eine horizontale, vertikale und damit hegemoniale Verbreitung gefunden. Nur deshalb nehme ich mir Zeit und Mühe, um in aller Kürze und bevor ich auf das eigentliche Thema komme, das Problem in seinen Grundzügen darzulegen.

Zuerst: Diese Literatur überlässt der Psychologie das alleinige Primat. Die sozialen, ökonomischen, politischen Bedingungen der handelnden Figuren werden höchstens nebenbei erwähnt und im Ungefähren belassen. Die erzählerische Anstrengung gilt alleine dem Versuch, die Grenze des Mentalen zu überschreiten und das Problem der Qualia für einen kurzen Augenblick aufzuheben. Bekanntlich weiß niemand, wie es ist, ein anderes als das eigene Bewusstsein zu besitzen, und jeder Versuch, diese erkenntnistheoretische Grenze zu überwinden, gehört in den Bereich des Fantastischen, eine Eigenschaft, die deshalb wesensmäßig zu dieser Art von Literatur gehört.

So führt sie in aller Regel eine beliebige Person ein und beginnt, diese so lange vor unseren Augen ihrer gesellschaftlichen Hüllen zu entkleiden, bis sie nackt vor uns steht. Und wie weiland die Leichen im anatomischen Theater, so liegen alsbald diese Heldinnen vor uns, und wie der Präparator dort die Muskeln, Gewebe und Nerven, geht die Erzählerin nun daran, die Wünsche, Begierden, Gedanken und Affekte dieser Heldin freizulegen. Die Erzählerin besitzt zu diesem Zwecke nicht nur ein literarisches Seziermesser, mit dem sie jede Schutzschicht wie etwa Selbsttäuschung, Lebenslügen und falsches Gerede beiseiteschafft – sie verfügt darüber hinaus über einen fantastischen Röntgenapparat, der das unsichtbare Geschehen aufzeichnet und ins Bild rückt. So wandelt diese arme Heldin nach wenigen Seiten seziert und bis auf die Knochen entkleidet durch ihre provinzielle Existenz. Den Augen der fiktiven Figuren bleiben diese Vivisektionen allerdings verborgen. So heißt es etwa in jener Erzählung über unsere Heldin: »Die Mühe, die sie darauf verwendet hat, es geheim zu halten, war vielleicht gar nicht erforderlich, angesichts der Meinung, die die Leute sich von ihr gebildet haben – die Leute, die sie jetzt kennt, irren sich darin genauso gründlich wie die Leute, die sie vor langer Zeit kannte.«

Man braucht hier nicht zu wissen, was diese Person geheimhalten will oder muss, und es ist ebenfalls einerlei, worin die Leute irren: Entscheidend ist die deutliche und unüberbrückbare Trennung zwischen dem Wissen der Leserin und jenem der Figuren. Nur wir Leser erkennen sie als zerfledderten Rest einer pathologischen Untersuchung. Alle anderen, ob Protagonist oder Antagonist, haben davon keine Ahnung und behandeln sie auch weiterhin wie eine der ihren.

Natürlich findet diese Behauptung keine Grundlage in der Wirklichkeit. So wie in Schauergeschichten Vampire empfindlich gegen Sonnenlicht sind und in der Science-Fiction Raumschiffe schneller als das Licht reisen, handelt es sich hier um eine Konvention des Genres. Während sich dort der Leser niemals fragt, ob diese Behauptung in den Bereich der Wirklichkeit oder der Hirngespinste gehört, behauptet dieses Genre einen Realismus, eine dokumentarische Haltung. Niemals bringt diese Literatur ihre eigene Fantastik zum Bewusstsein. Hier wird nichts erschaffen und nichts konstruiert, hier wird bezeugt, und deshalb unternimmt diese Belletristik alles, um den Anschein der Natürlichkeit zu bewahren und ihre Künstlichkeit zu verbergen. Sie kaschiert jede Nahtstelle und hängt die Mechanik ab. Ihre hauptsächlichen Instrumente, Retuschierpinsel und Concealer, versteckt sie schamhaft, und obwohl gerade in der Fabriziertheit ihre Kraft liegen würde, fürchtet sich diese Erzählform vor der eigenen Puppenhaftigkeit und es bleibt die Frage, was eigentlich der Grund für die Angst ist.

Weil ich die Sache nicht unnötig verlängern und endlich zu Ceratocystis novo-ulmi wechseln will, darf ich summarisch auf jene Erzähltheoretiker verweisen, die bereits vor langer Zeit definierten, dass nur jemand zum Helden werden kann, der mit aller Kraft ein bestimmtes Ziel verfolgt, er muss nach etwas streben, das er vorderhand nicht in die Hände bekommt. Die zur Frage stehende Literatur weiß noch davon, aber es gibt für ihre Heldinnen kein Abenteuer mehr. Die Gesellschaft, in der sie leben, hat dies nicht vorgesehen, im Gegenteil, ihre Absicht besteht gerade darin, durch den Fortschritt alle Fährnisse von ihren Bürgern fernzuhalten. Und weil es keine Gefahr gibt, fehlt ebenso die Entscheidung zwischen Erlösung und Untergang. Alles was den Heldinnen bleibt, ist ein langsames Absterben. Es gibt keinen Konflikt mehr, und weil das nicht hinzunehmen ist, weil es nämlich die Bedeutungslosigkeit der Heldin und damit gleichzeitig der Erzählung beweisen würde, wird behauptet, dass sich der Konflikt in die Innenwelt der Figuren verlagert habe und es nun unter den interessierten Blicken einer zugewandten Leserschaft die erste Aufgabe der Erzählerin sei, ihn von dort zu befreien und ans Tageslicht zu befördern. Allerdings bleibt auch dies, da es ja ein Vorgang ist, der nur für die Leser sichtbar ist, für die Dramaturgie weiterhin wirkungslos. Die Lösung für dieses narrative Dilemma liegt in einer Epiphanie, in der Erscheinung des Göttlichen, des Transzendenten. So bricht früher oder später unweigerlich die Metaphysik in eine Existenz, in der es dafür weder Form noch Sprache gibt. In der nämlichen Erzählung besteht dieser Einbruch darin, dass dieser Mann nach dem verstrichenen Jahr unsere Frau, die pünktlich in einem zwar anderen, aber immerhin grünen Kleid in seinem Laden erscheint, wortlos ins Gesicht schlägt. Zerstört kehrt die Frau zu ihrer kranken Schwester zurück, die irgendwann stirbt, aber sie bleibt trotzdem unverheiratet, hat hier und da eine Affäre, aber leidet doch ihr ganzes Leben lang an dieser Kränkung. Schließlich erfährt sie durch Zufall, dass jener Mann, der sie geschlagen hat, überhaupt nicht der übrigens längst verstorbene Uhrmacher, sondern sein taubstummer und eineiiger Zwilling war und sie also, so die Schlussfolgerung des gebildeten Lesers, ihr Leben ebenfalls im Wald von Arden verbracht hatte, ohne jemals den Weg nach draußen zu finden.

Und so ist der Fluchtpunkt aller perspektivischen Hilfslinien dieser zur reinen Manier, zum toten Stil herabgesunkenen Literatur, jenes Gefühl, das uns am Ende der Lektüre mit jenem typischen Kloß im Hals zurücklässt und das darüber hinaus die bürgerliche Gesellschaft grundiert, die unstillbare Sehnsucht nämlich.

Gemeinsam mit ihren dargestellten Figuren ersehnt diese Literatur die Erfahrung und damit das Leben, und weil es niemals geschieht, weil überhaupt nichts geschieht, spricht, wer diese Art von Literatur verteidigt, gerne über »Atmosphäre«, flüchtet sich in »die Stimmung«, in »das, was ungesagt bleibt«. Sie verzichtet auf eine historische Situation, arbeitet allerdings exzessiv mit dem Kolorit einer Epoche. So wird in dieser Erzählung ganz zu Beginn eine gewisse Jacqueline Kennedy erwähnt, besser gesagt ihre Frisur, die unsere Heldin nachahmt. Wer diese Person ist, wird nicht erklärt. Die Autorin geht stillschweigend von einem gemeinsamen kulturellen Hintergrund aus, der durch die Erwähnung eines toupierten Schopfs eine Kaskade von stereotypen Bildern auslöst: bestimmte Automobile, eine besondere Art von Musik, eine Kulisse, in der wir eine bestimmte Zeit erkennen sollen, ohne länger darüber nachzudenken. Es handelt sich hier um eine weitere Andeutung, die ihre spezifische Funktion zu spielen hat. Diese Erzählung ist zum ersten Mal im Jahre 2004 erschienen, das heißt, nach den Anschlägen vom 11. September 2001, in einer Zeit also, die von einer großen Verunsicherung geprägt war. Niemand wusste, in welche Richtung sich die gesellschaftliche Entwicklung bewegen würde. Die fünfziger und frühen sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, also jene Epoche, da die gesellschaftliche Revolution von 1968 die Übersichtlichkeit und die Grenzen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen noch nicht eingerissen hatte, waren zu einer Zeit geworden, die ein Mensch jener Tage mit nostalgischen Gefühlen betrachtete. Es geht nicht um die Analyse einer Epoche, es geht um das Gefühl der Sehnsucht, und ihre belletristische Produktion folgt alleine den Gesetzen eines bestimmten Marktes.

Ein literarischer Text im Spätkapitalismus muss, ganz im Einklang mit den Forderungen an irgendeine andere Ware, viel versprechen und wenig halten. Es ist sein Fetischcharakter, der ihm seinen Wert gibt. Der Fetisch steht für das Abwesende, das nicht Verfügbare. Der literarische Text darf nicht vollständig verstanden werden. Das Erzählen flüchtet sich deswegen in die Allegorie, in das andere Bild, in die Andeutung, den Verweis, damit wir dort als Leser ein Geheimnis vermuten, das niemals zur Sprache kommen kann und das wir ersehnen. An nichts leidet der bürgerliche Mensch so sehr, wie an der Entzauberung seiner Existenz. Diese erzählerische Tendenz, diese Flucht vor der Klarheit und der Verständlichkeit findet vorderhand keine Korrektur, im Gegenteil, es scheint so etwas wie eine Eskalation zu geben. Je eindeutiger die unliterarischen Genres werden, je mehr sie sich den absoluten Kategorien von Thriller und Porno angleichen, desto mehr flieht die sogenannte Belletristik ins Ungefähre. Das ist der Platz, der dieser Literatur geblieben ist, die Funktion, die sie noch zu erfüllen hat, und es scheint sehr gut möglich zu sein, dass in nicht allzu ferner Zukunft die Leserinnen und Leser die Literatur des ausgehenden zwanzigsten und beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts als grotesk empfinden werden, nicht durch die Überzeichnung, sondern durch die exzessive Langweile.

Aber genug davon, nun endlich zu Scolytus scolytus und seinem Reifefraß, der am Anfang dieser Tragödie steht.

Raphael Urweider

Luki

Ich kam Anfang der neunziger Jahre als zwanzigjähriger arroganter Bieler nach Bern. Arrogant, weil wir in Biel besser wussten, was Musik ist, Bern hatte den Rock, wir hatten den Freejazz und den Jazzfunk, den Rockabilly, den Punk. Bern hatte die Mundart, und Mundart war provinziell. Wir hatten Englisch und Französisch.

Bern hatte auch etwas Prosa, wir, also ich und meine viel älteren, also vier Jahre älteren Freunde, hatten die Poesie. Wir machten Lesungen mit Musik, Improvisationen zu Gottfried Benn, Günther Eich, Trakl und anderem, was im Gymnasium nicht vorkam.

Ich studierte an der Uni Freiburg, lernte dort einen ebenfalls arroganten Studenten kennen, Urs, der viel zu jung aussah, wie ein Quartaner, der sich an die Uni verirrt hatte. Er war unterhaltsam zynisch und hatte das laute frische Lachen eines Spitzbuben. Obwohl ich dachte, da er in Bern wohnte, er müsse reich sein – denn aus Bieler Sicht waren alle Berner reich –, freundeten wir uns an. Er wohnte in einem besetzten Wohnblock, Wände wurden in allen Farben gestrichen, Badewannen waren Kühlschränke, Zimmer waren Discos oder Massenlager. Bern begann mir zu gefallen.

An einer der vielen Partys kreuzte er auf, schaute etwas erwachsener aus als andere, war aber ebenso uncool und etwas zu überschwänglich wie alle anderen Berner Männer – aus Bieler Sicht. Unser erstes Gespräch war kurz, ich stand an einem improvisierten Buffet mit vor allem Alkohol drauf und suchte nach einer Flasche, in der noch drin war, was draufstand, da spricht er mich von hinten an.

»Hey, bist du Raphael? Ich bin der Luki. Habe gehört, dass du schreibst.«

»Ja.«

»Ich schreibe auch. Du Gedichte, nicht wahr? Cool! Ich eher so Kurzgeschichten.«

»Cool. Freut mich, äh, Luki.«

In der Erinnerung sehe ich so eine Art Kreuzung von jungem Johnny Cash und Nick Cave vor mir, jedenfalls was die Kleider betrifft. Ein begeistertes Lachen, vielleicht ein Schulterklopfen. Ich dachte damals, das sei Attitüde, um bekannt zu werden oder so. Ich hatte kaum jemandem erzählt, dass ich Gedichte schreibe, also folgerte ich, dass Lukas ein Freund von Urs sein musste. Wohl ein Amateur, dachte ich in meiner Arroganz.

Die nächsten Jahre kreuzten sich unsere Wege oft. Meine Arroganz wich einer Begeisterung für improvisierte Lesungen in besetzten Häusern, Berndeutschen Rap und viel WG-Leben. Immer tauchte irgendwo auch Bärfuss auf, meist kam er später als alle anderen und ging früher. Er war der Einzige, der eine Armbanduhr trug und auch immer wieder darauf schaute. Er wirkte oft, als hätte er weniger Zeit als wir. Wir waren Studenten, ließen uns mehr oder weniger von unseren Eltern aushalten, er war Buchhändler im »Lindwurm« in Fribourg und hatte diese Art Unterstützung nicht. Kein Hochschulabschluss, keine Uni.

Urs und ich waren Germanisten und quälten uns durch Wilhelm Raabe oder Stefan Zweig. Bärfuss verschlang Weltliteratur, las amerikanische und russische Wälzer, war nicht gebunden durch Seminarstoff oder Termine. Er las, um sich zu bilden und um Schreiben zu lernen.

1996 überredete er mich, mit ihm zum »Offenen Block« in Solothurn zu fahren. »Dort darf jeder lesen, der will, das ist doch super.« Ich wusste nicht recht, und doch ging ich mit. Bärfuss kann sehr überzeugend sein, er ist direkt, begeisternd und gibt einem das Gefühl, dass vieles möglich ist, und dass man ein Spielverderber ist, wenn man nicht mitmacht.

In Solothurn las er eine Geschichte über einen jungen Schnösel der – soweit ich mich erinnern kann, bei T. S. Eliot wohnte, in der Nachbarschaft von Ezra Pound. Irgendwo kam auch noch ein Rollbrett vor. – Ich las nach ihm und war zu nervös, um richtig zuzuhören, doch war der Applaus wohlwollend. Ich las einige an H. C. Artmann angelehnte Liebesgedichte an eine imaginäre »Ludmilla«. Es wurde gelacht, und tags darauf wurden wir beide namentlich in der »Berner Zeitung« erwähnt.

Ich war glücklich und dankbar, dass Luki mich überredet hatte. Danach gab es mehr Lesungen und Happenings in besetzten Häusern, er schrieb sein erstes Stück, eine Neufassung von Oedipus und ich wurde vom Regiestudenten Samuel Schwarz als Musiker verpflichtet, der das Stück in einer riesigen, geschlossenen Fußgängerunterführung in Zürich inszenierte. Wir froren alle, obwohl es Sommer war, in diesen kellerartigen Gängen am Escher-Wyss-Platz. Doch passte die unwirtliche Umgebung zum Stück. Es war ein düsterer, roher Oedipus. Wie auch Bärfuss’ Sprache düster war, roh. Ja, zum Teil fast ungelenk, aber dennoch kräftig, alttestamentarisch. Keine leichte Kost. Sprachlich erinnerte es mich an den jungen Dürrenmatt, der in seinen »Stoffen« schrieb, er habe, als er mit Schreiben anfing, zuerst Deutsch lernen müssen, daher sei sein parataktischer Stil gekommen, und nicht etwa wegen seiner Affinität zum Expressionismus.

Dürrenmatt war Emmentaler, Bärfuss kommt aus Thun. Sein leiblicher Vater starb in der Zeit, in der wir uns kennenlernten, in dem Dorf, aus dem mein Vater stammt. Bärfuss kümmerte sich allein um die Beerdigung. Er organisierte die Bestattung, löste die Wohnung auf, erledigte alle Formalitäten. Jeder Tote macht uns etwas erwachsener.

Nach der Jahrtausendwende wurden unsere Leben hektischer, Bärfuss zog nach Zürich, ich blieb in Bern. Doch immer machten wir Ausflüge oder reisten zusammen. Ich begleitete ihn an die französischsprachige Uraufführung des Stückes »Die sexuellen Neurosen unserer Eltern« in Lausanne, vielleicht, weil ihn damals Französisch, das er heute fließend beherrscht, noch etwas nervös machte. Und: Wer geht schon gerne allein an eine Premiere?

Er besuchte mich 2003 in New York, wo ich ein Stipendium hatte, und von dort aus flogen wir nach Santo Domingo, wohin seine Mutter und sein Stiefvater gezogen waren, da der Stiefvater keine volle Rente beziehen konnte. Sie hatten mehr oder weniger mit der Schweiz abgeschlossen, der Kontakt war spärlich und ich verstand, weshalb er die Reise nicht allein machen wollte. Santo Domingo dann war Rum in Halbliterflaschen, dominospielende Dominikaner, die Mutter, die Bettlern zuschaut, die Kehrichteimer durchsuchen, und sagt »wenigstens frieren sie hier nicht«, seltsame Schweizer Clubs mit alten Männern, die über Santo Domingo und die Schweiz herziehen, junge Dominikanerinnen am Arm, und wir mittendrin, verloren, aber wenigstens zu zweit.

Ich traf ihn ein paar Wochen nach dem Tod seines Halbbruders, an seinem vierzigsten Geburtstag. Seine Mutter habe den Tod registriert. In die Schweiz kam sie nicht. Wieder organisierte Bärfuss eine Beerdigung praktisch allein.

Später wollte ich mit meiner Frau, frisch verheiratet, nach Südfrankreich fahren. An einen Ort, der mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zugänglich war. Bärfuss bot sich als Fahrer an, organisierte ein Auto. Unglaublich hilfsbereit, wie immer. Wir fuhren nach einer gemeinsamen Lesung am Genfersee los, hörten laut Melvins im Auto und machten Witze über »Flitterwochen zu dritt«. Vielleicht weil Bärfuss nicht viel Zeit mit seiner Familie verbrachte, fühlt sich Zeit mit ihm immer familiär, vertraut, ungezwungen an.

Das Haus war groß genug, die Ruhe auch. Bärfuss schrieb in einem Zimmer mit Sicht auf die Hügellandschaft des Languedoc in seiner stilsicheren Schrift die ersten Seiten von »Koala«. Wie immer, Handarbeit.

Ich erinnere mich, wie er von einem Gespräch mit einem Schreinerlehrling erzählte, das er im Zug geführt hatte. Der Lehrling fragte ihn, was er denn beruflich mache.

»Wie? Schriftsteller? Das möchte ich nie sein!«

»Warum?«, fragte Bärfuss zurück.

»Da musst du immer gut sein. In meinem Beruf muss ich die Anforderungen erfüllen, aber du musst besser sein, immer bei den besten. Das wäre mir zu anstrengend.«

»Ich pflichte dem angehenden Schreiner zu«, sagte Bärfuss zu mir. Wir lachten. Nicht weil es lustig war, sondern weil es stimmte. Das Schreiben ist für Bärfuss ein knochenhartes Geschäft. Abgabetermine sind ihm ein Albtraum. Deshalb, nicht wegen der Eitelkeit, ist die Anerkennung wichtig und so unglaublich schön.

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170 str. 1 ilustracja
ISBN:
9783967071122
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Bookwire
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