Czytaj książkę: «Sprachgewalt»
David Ranan (Hg.)
Sprachgewalt
Missbrauchte Wörter und andere politische Kampfbegriffe
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
ISBN 978-3-8012-7030-8 (E-Book)
ISBN 978-3-8012-0587-4 (Printausgabe)
Copyright © 2021
by Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH
Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn
Umschlaggestaltung: Hermann Brandner | gaborís Köln
Satz: Rohtext, Bonn
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2021
Alle Rechte vorbehalten
Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
David Ranan
Einleitung
Jana Laura Egelhofer
Fake News
Brian Klug
Populismus
Marion Detjen
Patriotismus
Jörn Retterath
Volk
Marcus Funck
Heimat
Amos Goldberg
Antisemitismus
Christian Geulen
Rassismus
Gesine Krüger
Kolonialismus
Jonathan Alschech
Apartheid
Yair Wallach
Zionismus
Meltem Kulaçatan
Islamismus
Peter Lintl
Fundamentalismus
Mohammad A. S. Sarhangi
Märtyrer
Christoph Gollasch
Extremismus
David Ranan
Terrorismus
Michael Kohlstruck
Nazi
Ruth Ben-Ghiat
Faschismus
Anton Weiss-Wendt
Völkermord
Neve Gordon und Nicola Perugini
Menschenrechte
Stefanie Schüler-Springorum
Gender
Gregor Gysi
Kommunismus
Peter Steinbach
Sozialismus
Daniel Morat
Intellektuelle
Barnaby Raine
Elite
Marc Volovici
Kosmopolitismus
Rikki Dean und Jonathan Rinne
Demokratie
Micha Brumlik
Freiheit
Michael Quante
Wahrheit
Über die Autorinnen und Autoren
Danksagung
Einleitung
»Politische Sprache wird gestaltet, um Lügen wahrhaftig und Mord respektabel klingen zu lassen und leerem Geschwätz Aufmerksamkeit zu verschaffen.« Diese düstere Behauptung machte der britische Schriftsteller George Orwell in seinem 1946 veröffentlichten Essay Politics and the English Language und fügte hellsichtig hinzu: »Man sollte begreifen, dass das gegenwärtige politische Chaos mit dem Verfall der Sprache zusammenhängt und dass sich eine Verbesserung wahrscheinlich dadurch erreichen ließe, bei seinem verbalen Ende anzufangen.«1
Wer Orwells Worte heute liest, könnte meinen, er beschreibe den aktuellen Zustand unserer Welt. Sie klingen auffallend zeitgemäß. Fünfundsiebzig Jahre sind seit ihrer Niederschrift vergangen. Wir haben Orwell vielleicht gelesen, aber seine Warnung scheinen wir nicht verinnerlicht zu haben.
Das Ziel dieses Buches ist, das Bewusstsein für eine Sprache zu schärfen, die irreführend sein kann und oft genug bewusst in die Irre führen soll. Es ist jedoch kein Lexikon, sondern eine Sammlung von Essays. Der Aspekt, der für die Auswahl des jeweiligen Begriffs entscheidend war, ist sein Framing – sein Bedeutungsrahmen, der entscheidenden Einfluss darauf nimmt, wie Menschen dieses Wort verstehen. Es geht also um Begriffe, die nur vermeintlich klar sind, die oft gebraucht, aber schwer oder selten verstanden werden. Es geht um Begriffe, die im politischen Diskurs zur Beurteilung und Kategorisierung dienen, zur Einteilung in Gut und Böse, die beschönigen oder stigmatisieren, ein- oder ausschließen, fördern oder vernichten.
In seinem 1947 erschienenen Buch über die Macht der Sprache des Dritten Reiches, Lingua Tertii Imperii, erklärt Victor Klemperer »Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen je selbstverständlicher, je unbewußter ich mich ihr überlasse. Und wenn nun die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können wie winzige Arsendosen sein: Sie werden unbemerkt verschluckt; sie scheinen keine Wirkung zu tun – und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.«2
Die Idee hinter SPRACHGEWALT ist, sich auf dieses Problem zu konzentrieren. Es ist nicht neu, aber heute, zu einer Zeit, in der sich die Gesellschaft immer stärker polarisiert, brennender als in den ganzen fünfundsiebzig Jahren nach Kriegsende.
Wir leben in einer Welt, in der das Wort »postfaktisch« – auf Englisch »Post-Truth« – von der Redaktion der Oxford Dictionaries zum Internationalen Wort des Jahres 2016 gekürt wurde, ein Urteil, dem sich die Gesellschaft für Deutsche Sprache anschloss. Im selben Jahr wurde ein gewisser Donald Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt, und eine betrügerische antieuropäische Referendums-Kampagne in Großbritannien führte zum Brexit.
Politiker, die nicht hundertprozentig ehrlich sind, sind kein neues Phänomen. Übertreibungen und Halbwahrheiten werden mittlerweile gar in Kauf genommen, so lange jedenfalls, wie die allgemeinen Aussagen und Botschaften glaubwürdig erscheinen. Aber der Typus des »postfaktischen Politikers« stellt uns vor eine größere Herausforderung, empfindet er doch die Selbstverpflichtung zur Wahrheit als ein mühsames, unnötiges Hindernis, das man getrost außer Acht lassen kann. Er verkündet mit der vollen Autorität seines Amtes – wir müssen nur unsere Zeitungen aufschlagen, um Beispiele dafür zu finden – was seiner Meinung nach seinen momentanen Interessen am besten dient.
Nicht nur, dass jene politische Sprache, die nach Orwell dazu dient, Lügen wahrheitsgetreu klingen zu lassen, nicht verschwunden ist, die Mittel ihrer Verbreitung sind zudem ausgefeilter geworden. Wissenschaft und Technologie wurden und werden skrupellos für Desinformationsziele aller Art benutzt. Die technologische Entwicklung hat die Informationskanäle, die uns erreichen, fast grenzenlos ausgeweitet. Nur auf den ersten Blick macht es uns diese Vielfalt leichter, »Wahrheit« und »Lüge« zu unterscheiden.
Die neuen Entwicklungen ermöglichen es außerdem, dass Maschinen vernünftig klingende Texte produzieren, die strategisch in die sozialen Medien eingespeist werden. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz werden gefälschte Fotos und Videos erstellt und verbreitet. Es wird immer schwieriger, maschinelle von »echten« Inhalten menschlicher Autoren zu unterscheiden. Wir ertrinken in Informationen und wissen nicht mehr, wem wir vertrauen können.
Was fake, gefälscht, und was echt ist, mag für manche eine rein ästhetische Frage sein, aber sie hat praktische, manchmal lebensgefährliche Auswirkungen, und wir müssen lernen, kritisch zu lesen und kritisch zuzuhören, damit wir in der Lage sind, diese Unterscheidung zu treffen. In einer Welt, in der ein Präsident der Vereinigten Staaten – und er war nicht der einzige – fast täglich Lügen und Legenden twittert, müssen wir wachsam sein und unsere politischen Instinkte schärfen, um uns vor solchen Machenschaften zu schützen.
Sehr schnell kann der Punkt erreicht werden, an dem die Frage zu stellen ist: Wie bleiben wir wachsam, ohne paranoid zu werden? Für den britischen Philosophen Bertrand Russell war klar: »Wenn man einem Fürsten vertrauen kann, dann nicht, weil er gut ist, sondern weil es gegen seine Interessen ist, schlecht zu sein.« Er plädiert für hohen Skeptizismus. In der Tat geht Demokratie nicht von blindem Vertrauen aus. Ganz im Gegenteil. Um sich vor Missbrauch zu schützen, bedarf die Demokratie robuster Kontrollmechanismen. Vertrauen hält unsere Gesellschaft im Kern zusammen, aber Vertrauen bedeutet nicht Kritiklosigkeit. Wir müssen wachsam bleiben, um nicht manipuliert zu werden. Und doch wird bei völligem Misstrauen ein gemeinsames Leben sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Ständige Wachsamkeit hat ihren Preis, sie erfordert Zeit und Konzentration und kann dazu führen, dass ein diffuses Misstrauen die Oberhand gewinnt. Die Vorstellung, dass unsere gewählten Repräsentanten unglaubwürdig sind, kann an sich schon destruktiv sein. Es ist viel einfacher, im Vertrauen darauf durchs Leben zu gehen, dass die Informationen, die uns erreichen, einwandfrei sind und wir stets die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit erfahren. Der amerikanische Philosoph, Logiker und Mathematiker Charles Sanders Peirce (1839–1914) – der auch als »Vater des Pragmatismus« bezeichnet wird – schrieb: »Wir klammern uns beharrlich daran, nicht nur zu glauben, sondern das zu glauben, was wir glauben.«3 Er erklärte, dass Menschen zu fast allem bereit sind, um an ihrem Glauben oder ihren Überzeugungen festhalten zu können, die es ihnen ermöglichen, unbequeme Zweifel zu eliminieren. Anstatt die gesamte Bandbreite der verfügbaren Informationen zu untersuchen, glauben wir lieber genau das weiter, was wir bereits glauben.
In der politischen Sprache spielen Slogans und Schlagwörter eine wichtige Rolle. Die deutsche Sprache hat hierfür einen treffenden Namen: Kampfbegriff – ein »Reizwort, das die Gegner in einer Auseinandersetzung provozieren und die Zuhörer für den eigenen Standpunkt überzeugen soll«4, wie der DUDEN schreibt, ein Begriff, der als »Instrument des politischen Meinungskampfes« dient. Kurioserweise hat die englische Sprache kein wirklich passendes Äquivalent. Schlachtruf, politische Parole, polemischer Slogan – keiner davon ist so eingängig wie Kampfbegriff. Begriffe, sagt Bertold Brecht in seinen Flüchtlingsgesprächen, »sind sehr wichtig. Sie sind die Griffe, mit denen man die Dinge bewegen kann.« Bei Kampfbegriffen können diese Griffe zu Waffen werden.5
Es gibt Begriffe wie Freiheit, Demokratie, Wahrheit oder Menschenrechte, bei denen für die meisten von uns eine negative Konnotation oder ein negatives Framing fast unvorstellbar ist. Am anderen Ende der Skala stehen Begriffe wie Völkermord oder Fake News. Und es gibt eine ganze Reihe von ideologischen Bezeichnungen, die ihre Anhänger positiv finden, während sie für ihre Gegner Schimpfwörter darstellen. Kommunismus, Sozialismus und Faschismus gehören in diese Kategorie. Einige Ideen und Ideologien überleben länger als andere, einige sogar trotz ihres extrem schlechten Rufs; und somit gibt es immer noch Menschen, die stolze Rassisten oder Neonazis sind. Und dann gibt es natürlich auch Begriffe, die – rein theoretisch jedenfalls – ein ideologiefreies Leben hätten führen können, wären sie nicht von einem ganz bestimmten Deutungsrahmen belastet worden: Sind Eliten gut oder schlecht? Und was ist mit den Intellektuellen? Kann man sich auf Kosmopoliten verlassen, oder ist ihr mangelnder Patriotismus ein Problem? Wenn der Terrorist des einen der Freiheitskämpfer des anderen ist, können dann Terroristen auch als positive Akteure betrachtet werden? Und was ist mit dem Zionismus, der vielen Juden Hoffnung und eine Heimat gab und dennoch dazu führte, dass viele Palästinenser ihre Heimat verloren haben?
All diese Wörter besitzen eine Eigenschaft, die sich am besten mit Charisma beschreiben lässt: Sie ziehen sofort die Aufmerksamkeit auf sich und wirken unmittelbar und machtvoll auf die, die sie hören. Es gibt eine Dynamik, die charismatische Wörter in politische Schlagwörter verwandelt. In Demokratien sind solche Wandlungsphasen diffizile Zeiten. Gerade wenn man darüber streitet, wer die Deutungshoheit über einen Begriff hat, kann eine »Umkodierung« von Wörtern und die daraus resultierende Mehrdeutigkeit irreführend sein. Sie entgleiten ihrem alten Rahmen und haben keinen festen neuen.
Die Sprach- und Kognitionsforscherin Elisabeth Wehling erklärt die Bedeutung des politischen Framings: »Wann immer wir ein Wort hören oder lesen, simulieren wir nicht nur das jeweils repräsentierte einzelne Konzept – sondern zusätzlich eine ganze Reihe anderer Konzepte. […] Wenn es gilt, Worte oder Ideen zu begreifen, so aktiviert das Gehirn einen Deutungsrahmen, in der kognitiven Wissenschaft Frame genannt. Inhalt und Struktur eines Frames […] speisen sich aus unseren Erfahrungen mit der Welt.«6 Zu diesen Erfahrungen gehören auch die Sprach- und Kulturerfahrungen. Wehling spricht über den ideologisch selektiven Charakter von Frames, welche die »gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten aus einer bestimmten Weltsicht heraus« bewerten und interpretieren.7 Diese Frames leiten unser Denken und Handeln, ohne dass wir es merken, und darin liegt die Gefahr, vor der wir uns schützen müssen.
»Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben«8, machte angeblich Walter Ulbricht seiner nach ihm benannten Gruppe von kommunistischen Kadern klar, die 1945 aus dem Moskauer Exil zurückkam, um in der sowjetisch besetzten Zone neue politische Strukturen aufzubauen. Sie hatten vor allem dafür zu sorgen, dass das deutsche Volk die Anweisungen der sowjetischen Militärverwaltung befolgt. Jenseits aller theoretischen Überlegungen, was »demokratisch« sein oder bedeuten kann, ist eines klar: Ulbricht wollte etwas vorspiegeln, das nicht war, was es ist. Er wollte vom positiven Glaubwürdigkeitskapital, das der Begriff Demokratie bei Menschen genießt, erst recht bei demokratisch ausgehungerten Menschen, profitieren. Das demokratische Aussehen durfte auf keinen Fall demokratisch sein. Wir – nicht das Volk – müssen die Macht in der Hand halten. 1949 wurde dann die DDR gegründet, die nicht als einziger nicht demokratischer Staat das Wort »demokratisch« im Namen führte. Man denke an Nord-Korea, das sich noch heute »Demokratische Volksrepublik Korea« nennt. Mit dieser verbalen Fassade meint das Kim-Regime, nach innen wie außen als etwas Besseres zu erscheinen, als es ist, jedenfalls nicht als Diktatur. Diktaturen haben es da in gewisser Hinsicht leichter als liberale Demokratien, sie handeln per Dekret und zwingen die Menschen ihres Machtbereichs, das Wort in der verdrehten Bedeutung zu akzeptieren. Aber warum legen sie so großen Wert darauf? Welchen Vorteil bringt es ihnen, so zu tun, als seien sie nicht das, was sie sind?
Auch die Nationalsozialisten taten dies. Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels vertraute seinem Tagebuch im Februar 1942 an, »ich veranlasse, dass von unserem Ministerium Wörterbücher für die besetzten Gebiete vorbereitet werden, in denen die deutsche Sprache gelehrt werden soll, die aber vor allem eine Terminologie pflegen sollen, die unserem modernen Staatsdenken entspricht. Es werden dort vor allem Ausdrücke übersetzt, die aus unserer politischen Dogmatik stammen. Das ist eine indirekte Propaganda, von der ich mir auf die Dauer einiges verspreche.«9
Unpräziser oder falscher Sprachgebrauch kann das Ergebnis von Unwissenheit sein, aber auch von wissentlichem Missbrauch der Terminologie. Die vorliegenden Essays beschreiben und analysieren die Wahl und Verwendung von Begriffen, die mit einer bestimmten Bedeutung beladen sind, und das Ausmaß, in dem sie als Machtinstrumente der Förderung bestimmter politischer Ziele dienen.
Als Student in Jerusalem in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren gehörten auch bei mir politische Diskussionen in den Cafeterien an der Universität zur täglichen Übung des Campuslebens. In diesen Diskussionen wurde mit dem Begriff »Faschisten« oft sehr frei herumgeworfen. Faschismus war die Hauptgefahr, Faschisten sollten ausgeschlossen und, noch besser, bekämpft werden. Die Argumentation klang oft ziemlich schwammig, und ich wollte besser verstehen, was das Ganze genau bedeutete. Ein damaliger Mitbewohner im Studentenheim, der Politikwissenschaft studierte, riet mir, die Vorlesungen eines jungen und vielversprechenden Dozenten namens Ze’ev Sternhell zu besuchen.10 Der junge Sternhell, der damals zwar noch keinen Weltruhm auf dem Feld der Faschismusforschung erlangt hatte, schuf dank seiner instruktiven Vorträge ein Bewusstsein dafür, wachsam sein zu müssen. Den sorglosen Umgang mit politischer Sprache beendeten diese natürlich nicht. In den 1980er-Jahren sprachen US-Präsident Ronald Reagan und die britische Premierministerin Margaret Thatcher gern davon, dass der Kommunismus bekämpft werden müsse. Als die Sowjetunion 1989 implodierte, sahen die beiden begeisterten Antikommunisten darin einen Sieg über den Kommunismus. Nach Reagans Tod titelte The Economist sogar: »Der Mann, der den Kommunismus besiegte.« Es stellt sich die Frage: Tat er das? Hat Reagan tatsächlich einen Krieg gegen den Kommunismus als Idee oder Ideologie gewonnen oder den Wettbewerb zwischen den beiden Supermächten?
Der sorglose Umgang mit politischer Sprache nimmt zurzeit stark zu, und oft dient diese Sorglosigkeit politischen Zwecken. Sprache ist natürlich nicht statisch, und man darf zurecht fragen, ob sich die Bedeutung eines Begriffs nicht ständig verändert. Gleichwohl trägt jeder der hier ausgewählten Begriffe immer eine spezifische Bedeutung mit sich, die der Grund dafür ist, dass er im politischen Diskurs verwendet wird. Ich habe 27 einschlägige Experten, Politologen, Historiker, Philosophen und Soziologen, gebeten, sich jeweils einem besonderen Begriff zu widmen, um die Frage seines möglichen Missbrauchs zu beleuchten.
Leserinnen und Leser folgen bei Beiträgen wie diese meist ihrer Neugier, und daher ist es unwahrscheinlich, dass dieses Buch streng von vorne nach hinten gelesen wird. Dennoch habe ich die Begriffe nicht einfach alphabetisch geordnet, sondern mich entschieden, das Buch mit dem Text über Fake News zu beginnen und mit dem über Wahrheit zu beenden.
Schlagworte können wie Leitsterne, Hymnen oder Feldstandarten eine Richtung vorgeben. Sie sind einprägsam und bequem, indem sie uns jedes vertiefende Nachdenken ersparen. Aber wir verlieren, ohne es zu merken, darüber unsere Freiheit. Denn wenn wir andere für uns denken lassen, werden wir zu ihren Marionetten. Amartya Sen schließt sein Buch Identität und Gewalt mit einem Plädoyer, dem ich mich anschließe: »Wir müssen vor allem darauf achten, dass unser Geist nicht durch einen Horizont halbiert wird.«11
David Ranan
1George Orwell: Politics and the English Language, in: Essays, London 2002, S. 967.
2Victor Klemperer: LTI, Notizbuch eines Philologen, Ditzingen 2018, S. 26.
3Charles S. Peirce: The Fixation of Belief, in: Popular Science Monthly (12), November 1877 ‹http://www.bocc.ubi.pt/pag/peirce-charles-fixation-belief.html› (7.11.2020).
4‹https://de.wiktionary.org/wiki/Kampfbegriff› (8.11.2020).
5Brecht Bertolt: Flüchtlingsgespräche, GW Bd. 14, Frankfurt a. M. 1967, S. 1461.
6Elisabeth Wehling: Politisches Framing: Wie eine Nation sich ihr Denken einredet und daraus Politik macht, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2017, S. 27 f.
7Ebd., S. 191.
8Wolfgang Leonhard: Die Revolution entlässt ihre Kinder, Köln 1955, S. 440.
9Elke Fröhlich (Hg.): Die Tagebücher v. Joseph Goebbels. Teil II, Bd. 3, München 1994.
10Professor em. Ze’ev Sternhell starb in Jerusalem im Jahr 2020.
11Amartya Sen: Identity And Violence: The Illusion of Destiny, London 2007, S. 186.
Fake News
Jana Laura Egelhofer
Einleitung
Der Begriff Fake News ist spätestens seit dem US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 nicht mehr aus dem öffentlichen Diskurs wegzudenken. Der Einsatz von Desinformationen in der politischen Kommunikation stellt gewiss kein Novum dar.1 Das Aufkommen von Internet und sozialen Medien hat die Erstellung und Verbreitung jedoch derart vereinfacht, dass das heutige Ausmaß beispiellos ist. Dementsprechend ist eine Debatte über die möglicherweise demokratiegefährdenden Konsequenzen von politischer Desinformation entfacht – subsumiert unter dem Begriff Fake News.
Bis vor Kurzem verwendeten KommunikationswissenschaftlerInnen »Fake News« noch, um politische Satire-Formate zu bezeichnen, wie beispielsweise die »The Daily Show« in den USA. Satiriker wie Jon Stewart haben den Begriff Fake News selbst als Bezeichnung für ihre Arbeit etabliert, um zum Ausdruck zu bringen, dass – obwohl sie das Format von seriösen Nachrichtensendungen imitieren – ihr Hauptmotiv die Unterhaltung ist.2 In den vergangenen Jahren hat der Begriff Fake News jedoch eine gravierende Bedeutungsänderung erfahren. WissenschaftlerInnen sowie JounalistInnen verstehen unter dem Begriff vorwiegend als legitime Nachrichtenartikel aufbereitete Desinformation. Betrachtet man die wortwörtliche Bedeutung von »Fake« – sprich »Schwindel« oder »Fälschung«3 – erscheint es naheliegend, Fake News als Falschinformationen, welche durch ein journalistisches Erscheinungsbild Glaubwürdigkeit »erschwindeln« sollen, zu begreifen. Das wohl bekannteste Beispiel hierfür ist die #pizzagate-Geschichte über die angeblichen Verwicklungen der damaligen Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton in einen Kinderpornoring.4 Seitdem hat sich »Fake News« zu einer allgegenwärtigen öffentlichen Debatte entwickelt, in welcher BürgerInnen, PolitikerInnen, JournalistInnen und WissenschaftlerInnen ihre Besorgnis über den möglicherweise schädlichen Einfluss gefälschter Nachrichten auf politische Ereignisse zum Ausdruck bringen.
Fast zeitgleich hat Donald Trump nach seiner Wahl zum Präsidenten erfolgreich den Fokus dieser Debatte umgelenkt, indem er etablierte Medien als »Fake News« bezeichnete. Dies war wirkungsvoll, da der Begriff bereits eine inhärente Bedeutung als eine potenziell gefährliche Entwicklung in modernen Demokratien innehatte. Inzwischen ist Fake News zu einem aufgeladenen Kampfbegriff geworden, den neben Trump zahlreiche PolitikerInnen in verschiedenen Ländern verwenden, um kritische Medien zu diskreditieren.
Zur besseren Einordnung sollte Fake News daher als ein zweidimensionales Phänomen betrachtet werden: Einerseits umfasst der Begriff das 1. Fake News-Genre, das die bewusste Erstellung pseudojournalistischer Desinformation beschreibt, andererseits gibt es das 2. Fake News-Label, also die politische Instrumentalisierung des Begriffs zur Delegitimierung von Nachrichtenmedien.
Abb. 1: Fake News als zweidimensionales Phänomen (basierend auf Egelhofer und Lecheler, 2019).
Jedoch wurde der Begriff so inflationär verwendet, dass er inzwischen fast bedeutungsleer ist und für »alles Ungenaue« zu stehen scheint. Im Folgenden werden zunächst die beiden Dimensionen des Fake News-Genres und des Fake News-Labels näher erläutert, um im Anschluss genauer auf die Problematik des Begriffs und seiner Verwendung einzugehen. 5