Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft

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Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft
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Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft

Hg. von Gottfried Bitter und Martina Blasberg-Kuhnke




Studien

zur Theologie und Praxis

der Seelsorge

86



Herausgegeben von

Konrad Baumgartner und Erich Garhammer

in Verbindung mit

Martina Blasberg-Kuhnke und Franz Weber






Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft







Für Norbert Mette







Hg. von Gottfried Bitter und Martina Blasberg-Kuhnke











Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek



Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

<http://dnb.d-nb.de>

 abrufbar.



© 2011 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter-verlag.de

 Druck und Bindung: Difo-Druck GmbH, Bamberg ISBN 978-3-429-03424-5 (Print)  978-3-429-04610-1 (PDF)  978-3-429-06027-5 (Epub)




Inhaltsverzeichnis







Vorwort











1. Religion









Der lange Abschied von der Säkularisierungsthese – und was kommt danach?

(Karl Gabriel)







Geht das: Fromm sein, ohne zu glauben? Ein Beitrag zum Verständnis intermediärer Religiositätsformate

(Rudolf Englert)







Neurowissenschaftliche Herausforderungen an die Praktische Theologie – nur ein Hirngespinst?

(Tobias Kläden)







Re-Formation des Glaubens in der Diakonie – Plädoyer für die Rekonstruktion einer diakoniekritischen Reformationsgeschichte

(Ottmar Fuchs)







Kirche zwischen Glaubensgemeinschaft und System

(Leo Karrer)







Dialog – Trialog – oder mehr? Islam in Deutschland und die Zukunft der Theologien in praktisch-theologischer Perspektive

(Martina Blasberg-Kuhnke)







Migrationsgemeinden als Sehhilfe. Überlegungen zur veränderten Realität des Christlichen in Mitteleuropa

(Arnd Bünker)







Heimatrecht für den Samariter. Ein Plädoyer

(Ulrich Kuhnke)







Religion und Erfahrungen der Empörung

(Hadwig Müller)







„Mutter der Barmherzigkeit“ – Religiöse Spuren in der Gegenwartsliteratur am Beispiel von Thomas Hürlimann

(Erich Garhammer)







Konkordate oder Elternrechte? Was garantiert den Religionsunterricht? Muss sich die Religionspädagogik auf den Weg zu den Eltern machen?

(Udo Friedrich Schmälzle ofm)









2. Bildung









„Dass einer fiedelt, soll wichtiger sein, als was er geigt“ (Th. W. Adorno) – Religion und Bildung unter den Vorzeichen einer ‚Theorie der Unbildung‘

(Stefan Altmeyer)







Bildung und Aufklärung. Bildungsreformen in Münster in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts

(Werner Simon)







Mehr als eine Privatangelegenheit! Perspektiven für eine Religionspädagogik in der Zivilgesellschaft

(Friedrich Schweitzer)







Bildung und Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Familienbildung als Alltagsbildung

(Elisabeth Naurath)







Glauben lernen als Ziel des Religionsunterrichts? Anmerkungen aus gesellschaftlich-bildungstheoretischer Sicht

(Judith Könemann)







Auf Bildung gereimt. Zur Bildungsoffensive in der Gerechtigkeitstheorie und -politik

(Matthias Möhring-Hesse)







Zur theologischen Grundlegung der kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit Misereors

(Josef Sayer)







„No child left behind.“ – Religiöse Bildung im Kontext von Individuum und System

(Helga Kohler-Spiegel)







Begeisterung für den Lehrerberuf

(Dietlind Fischer)







„Hinter der Kirche gleich links“. Überlegungen zum Verhältnis von „Identifizierung“, „Identifikation“ und „Identität“ im Horizont der Umnutzung von Kirchengebäuden

(Rita Burrichter)









3. Religion und Bildung









Bildung und Religion, ein Verhältnis in Kontakt und Distanz

(Gottfried Bitter cssp)







Religion und theologische Bildung: eine spannungsreiche Konstellation. Glaube braucht Bildung! Wirklich?

(Jürgen Werbick)







Die Aufgaben der kirchlichen Gemeinde im religiösen Lernprozess – eine unzeitgemäße Betrachtung

(Reinhard Feiter)







Grundvollzüge der Kirche im urbanen Raum

(Michael Sievernich SJ)







Ökumenisches Lernen konkret. Erinnerungen an eine EATWOT-Konferenz

(Giancarlo Collet)







„Für eine dienende und arme Kirche“. Der Katakombenpakt als subversives Vermächtnis des II. Vaticanums

(Norbert Arntz)







Migranten-Pastoral. Fragmentarische Überlegungen zu Aparecida (2007)

(Paolo Suess)







Ñukanchik Yachai – Eine bikulturelle Schule im Andenhochland

(Annebelle Pithan)







„Good Governance“ – eine Herausforderung der Kirche in Afrika

(Klaus Piepel)







Norbert Mette als Befreiungstheologe. Was ich in seiner Gegenwart gelernt habe

(Bert Roebben)







Religion und Bildung im Kontext des Europarates

(Peter Schreiner)







Italo Svevo – Lebensuntauglich. Herausforderungen der Literatur an die Theologie

(Ewald Berning)







Gotteskommunikation in Familien – Eltern und Kinder in die Mitte nehmen

(Albert Biesinger/Jessica Eichenhofer)







Maria Montessoris Religionspädagogik – konstruktivistisch gesehen

(Gerhard Büttner)









4. Felder religiöser Bildung









„Gleich und gleich gesellt sich gern“ – Bildung als Schule der Freiheit!?

(Mechthild Hartmann-Schäfers/Michael Schäfers)







Mehr (Bildungs-)Gerechtigkeit im Sinne einer Option für und mit armen jungen Menschen

(Ulrich Thien)







Katechese in Quebec

(Gregory Baum)







„Geh in die Stadt; dort wird dir gesagt, was du tun sollst…“ (Apg 9,6). Einige Erfahrungen und Impulse aus der City-Pastoral

(Bernhard Lübbering)







Teamen bei TRO

(Hermann Steinkamp)







Lesen bildet Kirche. Essay zum Bildungsauftrag einer theologischen Fachzeitschrift am Beispiel der „DIAKONIA“

(Veronika Prüller-Jagenteufel)







Heilige Schriften als Quellen der Menschlichkeit. Ermutigungen für ein friedliches Miteinander der Religionen

(Hans Grewel)







Geschichten – aus denen wir leben. Interaktion mit Grundlagentexten aus Bibel und Koran

(Detlev Dormeyer)









5. Autorinnen- und Autorenverzeichnis





 





Vorwort



Norbert Mette

 wird im Dezember 2011 65 Jahre alt. Zwar bedeuten Geburts- und Gedenktage in der theologischen Wissenschaft wenig. Aber wenn ein Theologe vom Rang

Norbert Mettes

 einen runden Geburtstag feiert, dann ist es an der Zeit, auf sein Leben und Wirken zu schauen. Und weil wir zusammen mit

Norbert Mette

 in den 70-er Jahren Schülerin und Schüler von

Adolf Exeler

 in Münster waren, haben wir dieses Motiv der Verbundenheit aufgenommen und viele Weggefährten und Freunde zum Mitwirken an dieser Festschrift eingeladen. Denn viele, viele sind mit

Norbert Mette

 auf unterschiedliche, ganz eigene Weise verbunden: durch gemeinsame Zeiten in Münster und Paderborn, in Dortmund und anderswo, durch gemeinsame Tätigkeitsfelder in Hochschule und Jugendarbeit, in Redaktionen und Akademien, durch Lektüre seiner zahlreichen Aufsätze und vielen Bücher. Selbstverständlich konnten wir in diesem Band nicht alle zusammenführen, die

Norbert Mette

 vieles verdanken und von ihm gelernt haben: Fachwissenschaftliches, Hochschul- und Kirchenpolitisches, Geistliches und einfach Menschliches. Denn viele mussten aus Gesundheitsund Altersgründen absagen; aber wir hoffen, dass auch diese Stimmen auf andere Weise gehört werden. So bleibt diese Festschrift zwar unvollständig, aber vielleicht werden einige Akkorde aus dem vielstimmigen Konzert des Schaffens von

Norbert Mette

 zu hören sein, die wenigstens einen ersten Eindruck von der Vielfalt der Themen und Perspektiven vermitteln, mit denen sich

Norbert Mette

 in seiner bisherigen wissenschaftlichen Biographie zu Wort gemeldet hat – und die von vielen als prägend erfahren worden sind.



Der Titel ‚Religion und Bildung – in Kirche und Gesellschaft’ deutet den weiten Denkhorizont an, vor dem

Norbert Mette

 seine wohl wichtigsten Arbeiten seit den 70-er Jahren vorgelegt hat. Dabei sind alle

Mette-

Beiträge angetrieben vom sozialethischen und christlichen Gewissen des Soziologen und Theologen

Norbert Mette

; immer geht es ihm um das Eintragen christlicher Impulse in die offene, säkulare Gesellschaft heute, um das Freisetzen inkulturierender Anstöße aus der Kraft des Evangeliums, aus den Möglichkeiten christlichen Lebens und Glaubens. Dementsprechend werden hier vier Schwerpunkte von den Autorinnen und Autoren herausgestellt: ‚Religion’ und ‚Bildung’, ‚Religion und Bildung’ und ‚Felder religiöser Bildung’.

Norbert Mettes

 großer Bekannten- und Freundeskreis bringt es mit sich, dass fast durchgängig nur Kurzbeiträge zu lesen sind, die jeweils durch einige wenige ‚Leitartikel’ gebündelt werden. Es entspricht durchaus

Norbert Mettes

 optionengeleiteter, handlungswissenschaftlicher Praktischen Theologie, wenn die einzelnen Beiträge Hand und Herz der Autorin/des Autors spüren lassen – je mit engem oder weiterem Bezug zu

Mettes

 Arbeiten. So verwundert es auch nicht, dass beim Lesen dieser Festschrift immer wieder

Mette

 durchscheint:

Norbert Mette

 wird hier durch die Brille engagierter Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde gelesen.



Jetzt gilt es, allen zu danken, die das Werden dieser Festgabe ermöglicht haben. Da sind zuerst die Autorinnen und Autoren der Beiträge zu nennen, dann die wissenschaftliche Mitarbeiterin

Anna Brümmer

, die das ganze Projekt betreut hat und alle Manuskripte auf ihre formale Gestaltung prüfte, die Sekretärinnen

Ricarda Hovermann

 und

Daniela Pajaziti

, die für den störungsfreien Austausch der Texte und ihre verschiedenen Fassungen sorgten, außerdem

Achim Korte

 für die technische Unterstützung. Unser Dank gilt den Herausgebern der Reihe „Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge“,

Konrad Baumgartner

 und

Erich Garhammer

 in Verbindung mit

Franz Weber. Thomas Ruster

 ist zu danken, dass er einen stattlichen Druckkostenzuschuss der Universität Dortmund einbrachte und außerdem einer verborgen bleiben wollenden Spendenquelle. Endlich sei dem Echter-Verlag gedankt für die verlegerische Betreuung des Projekts, besonders Heribert Handwerk.



Nun möge dieses Buch den Christen und Gemeinden im 21. Jahrhundert, in einer epochalen Umbauphase der Kirchen, Anstoß und Mut geben und

Norbert Mette

 Ehre und Freude machen.




Gottfried Bitter cssp

Martina Blasberg-Kuhnke





1. RELIGION




Religion ist heute ein Alltagswort geworden mit vielen Farben, in vielen Formen. Religion wird in unserer Gesellschaft von den einen gesucht als seltene Kostbarkeit, von den anderen gemieden wie eine ansteckende Krankheit. Insgesamt ist Religion zum Gebrauchsgegenstand geworden – je nach eigenem Verwendungszweck und Geschmack als freie Komposition unterschiedlicher religiöser Traditionen und Praxen. Darum ist es sehr schwierig, vielleicht sogar unmöglich, eine begriffliche Eingrenzung, ganz zu schweigen von einer begrifflichen Bestimmung von Religion und Religionen, umgangssprachlich zu benennen. Wenn aber hier nun ausführlich nach dem Wechselverhältnis von Bildung und Religion gefragt wird, so ist es unverzichtbar, wenigstens eine vorsichtige Umschreibung dessen anzugeben für das, was Religion genannt werden und was von Religion erwartet werden kann. Darum hier ein Umschreibungsversuch (eingeschlossen seine nicht näher genannten apriorischen Vorverständnisse). –

Religion

 wird eine von vielen Menschen geübte alltägliche Lebensweise genannt, die sich leiten lässt von der nachdenklichen und hoffenden Überzeugung, dass eine überweltliche, unbedingte (göttliche) Macht der Welt und den Menschen nahe steht, sie begleitet und vollendet. Diese unbedingte Macht wird als Sinn-Grund erlebt, sie gibt zu denken und prägt das Handeln. Darum gibt Religion den einzelnen Menschen, einer Gesellschaft, einer Kultur jeweils ihr eigenes Gesicht, ihre Identität. Religion ist ganz selbstverständlich ein personales und ein soziales, ein kulturelles und politisches Phänomen, das sich wandelt, untergeht und aufersteht – in seinen Wirkungen und Ausgestaltungen, in seinen Ethiken und Riten. Diese Wirkungen und Wandlungen von Religion breiten die folgenden elf Beiträge aus, ehe dann die folgenden Kapitel die Themenfelder ‚Bildung’ und ‚Religion und Bildung’ samt ihren Auswirkungen zur Sprache bringen.



Karl Gabriel

 geht den jüngsten Wandlungen der Umgangsformen mit Religion in unserer Gesellschaft nach, prüft das Verhältnis von Religion und „multiplen Modernen“ und gibt der noch immer oft angeführten Säkularisierungsthese den Abschied. –

Rudolf Englert

 erkennt in den Formen religiöser Praxis heute eine deutliche „Zunahme intermediärer Religionsformate“ mit Neigung zum „Kulturchristentum“, das sich jenseits aller dogmatischen Vorgaben der möglichen „religiösen Dimension der Wirklichkeit“ vergewissern will. –

Tobias Kläden

 nimmt das noch wenig erkundete Gespräch zwischen Theologie und Neurowissenschaften auf, die die neuronalen Korrelate von Religiosität erforschen und befragen – jenseits der Fragen nach der Existenz oder Nicht-Existenz Gottes. –

Ottmar Fuchs

 wirbt für ein neues Verständnis von Reformation im Sinn von re-formatio, für ein neues Zusammenbinden von Glauben und Leben, von Martyrie und Diakonie – dargestellt an Elisabeth von Thüringen und Johannes von Gott als stillen Kirchen-Reformatoren. –

Leo Karrer

 prüft die „Innenarchitektur“ der Kirchen, er mahnt die Christen und Gemeinden, „Gott nicht zu klein zu denken“ und endlich eine ehrliche, ernsthafte Selbstevangelisierung einzuleiten. –

Martina Blasberg-Kuhnke

 berichtet von religions- und universitätspolitischen Unternehmungen, dem Islam aus christlichtheologischer Verantwortung heute wissenschaftliches und kulturelles Heimatrecht an deutschen Universitäten zu geben: durch die Einrichtung eigener Institute für Imam-Ausbildung. –

Arnd Bünker

 prüft die Möglichkeiten, ob die sich weithin selbst organisierenden Migrantengemeinden in Mitteleuropa mit ihren phantasievollen Vitalitäten vielleicht ein Bild der künftigen Minderheiten-Kirchen in Europa abgeben können. –

Ulrich Kuhnke

 plädiert für einen selbstverständlichen Platz samaritanisch gesinnter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in kirchlichen Sozialeinrichtungen, auch wenn sie ihre helfenden Dienste nicht (mehr) aus christlicher Glaubensüberzeugung besorgen (wollen/können). –

Hadwig Müller

 öffnet die vielfach apathisch gewordenen Herzen – mit Eduard Schillebeeckx und Frère Rudolf – auf die Empörung über das Leid und die Solidarität mit den Leidenden als „inspirative Kräfte für eine aufrichtende Theologie“. –

Erich Garhammer

 spürt die Mutation von Religion heute auf, indem er den „religiösen Spuren in der Gegenwartsliteratur am Beispiel von Thomas Hürlimann“ nachgeht und dabei „Versuche einer narrativen Rettung des katholischen Kosmos“ aufdecken kann. –

Udo Friedrich Schmälzle

 schaut auf die dramatischen Veränderungen der religiösen Landschaften in den letzten Jahrzehnten und fragt dazu kritisch an, ob die gesellschaftlichen und religionspolitischen Voraussetzungen noch zutreffen, auf denen die Rechtsgrundlage des schulischen Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG aufbaut – ohne eine dringliche Verstärkung des Elterninteresses an diesem Religionsunterricht ihrer Kinder.






Karl Gabriel

Der lange Abschied von der Säkularisierungsthese – und was kommt danach?



Für die Frage nach der Zukunft von Religion und religiöser Bildung war lange Zeit – zumindest in Europa – der Horizont der Säkularisierungsthese dominierend. Für diejenigen, die sich im Umkreis von

Franz-Xaver Kaufmann

 seit den 1970-er Jahren mit einer Soziologie des Katholizismus beschäftigten, gab es von Anfang an gute Gründe, an den allzu einlinigen und teleologischen Vorstellungen der Säkularisierungstheorie zu zweifeln. Zu ihnen gehörte

Norbert Mette

 mit seinen frühen Arbeiten über die „Kirchlich distanzierte Christlichkeit“ und die missglückten Versuche einer katholischen Religionssoziologie.

(vgl. Mette 1980/1982)

 Heute stehen wir am Ende eines langen Abschieds von der Säkularisierungsthese. Dies ist inzwischen zumindest die Mehrheitsmeinung unter den Religionssoziologen. Weniger einig ist man sich in der Frage, was nach dem Abschied von der Säkularisierungstheorie angesagt ist. Als direkte Alternative hat die These von der Rückkehr bzw. Wiederkehr der Religion in den letzten Jahren eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Im folgenden Beitrag soll auch diese Vorstellung einer Kritik unterzogen werden. Stattdessen plädiere ich für die Perspektive einer an der Vorstellung multipler Modernen orientierten religiösen Modernisierung.





Die Kritik der Säkularisierungsthese



Wie sich insbesondere an

Max Weber, Emil Durkheim und Georg Simmel

 zeigen lässt, sind die Grundzüge der Säkularisierungsthese in die Ursprünge der Soziologie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eingelassen.

(vgl. Krech/Tyrell 1995)

 Sie macht einen Teil der disziplinären Identität des Faches aus. Der Ausbau der These ging in drei eng aufeinander bezogene Richtungen:

Webers

 Entdeckung des Kampfs der Wertsphären in modernen Gesellschaften wurde in der Theorie funktionaler Differenzierung entfaltet. Säkularisierung erhielt hier die Bedeutung der Trennung und Ablösung der gesellschaftlichen Funktionsbereiche von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft etc. von der Religion. Seit den 1930-er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Religion zum Gegenstand der neu entstehenden empirischen Sozialforschung. Sie wandte sich dem Messbaren an der Religion zu: Kirchgangshäufigkeit, massenstatistische Befragungen zu Gottesglauben, Befolgung kirchlicher Moralvorschriften und Vertrauen zur Institution Kirche. Die empirische Sozialforschung belegt seitdem, dass die so gemessene Religiosität bzw. Kirchlichkeit in lang- wie kurzfristiger Perspektive abnimmt. Sie stellt bis heute einen signifikanten Zusammenhang mit typischen Merkmalen moderner Gesellschaften wie Industrialisierung, Urbanisierung und Höhe des Bildungsgrads her. Die Säkularisierung als Rückgang des Glaubens auf individueller Ebene erhielt damit den Charakter einer vielfach bestätigten empirischen Tatsache. Noch in eine dritte Richtung erfuhr die Säkularisierungsthese einen weiteren charakteristischen Ausbau: Religion wurde in modernen Gesellschaften als Phänomen der Privatsphäre begriffen. Während die dominierenden Institutionen des öffentlichen Lebens nach säkularen, rationalen Maximen funktionierten, bleibe der Religion – so etwa

Thomas Luckmann

 – das Reich des Privaten. Die Religion werde privatisiert, individualisiert und verwandele sich in einen Gegenstand individueller Wahlvorgänge.

 



Der Einfluss der Säkularisierungsthese reicht bis heute weit über die Soziologie hinaus. Man übertreibt kaum, wenn man sagt, die Säkularisierungsthese sei die dominierende Selbstverständigungskategorie des 20. Jahrhunderts gewesen, zumindest unter den Intellektuellen Europas. Die aufstrebenden Naturwissenschaften konnten sich auf sie berufen und alle Geisteswissenschaften sind von ihr impr