Kompetenzorientierter Unterricht auf der Sekundarstufe I

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Kompetenzorientierter Unterricht auf der Sekundarstufe I
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Marcel Naas (Hrsg.)

Kompetenzorientierter Unterricht auf der Sekundarstufe I

Erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven

ISBN Print: 978-3-0355-0581-8

ISBN E-Book: 978-3-0355-0474-3

Gestaltung: Atelier Bläuer, Bern

Fotos (Umschlag und Titelfotos): Donat Bräm, Zürich

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.ch


Zusatzmaterialien und -angebote zu diesem Buch:

http://mehr.hep-verlag.ch/kompetenzorientierter-unterricht

Inhalt

Einleitung

TEIL 1 – ERZIEHUNGS WISSENSCHAFTLICHE PERSPEKTIVEN

HISTORISCHE PERSPEKTIVE | Rebekka Horlacher

Kompetenz wider das «tote Wissen» oder: Ein Kampf gegen Windmühlen?

1 Einleitung

2 Kompetenz in der amerikanischen Curriculumreform der 1960er-Jahre

3 Kompetenz als Schlüsselqualifikation und lebenslanges Lernen

4 Kompetenz als messbare Alternative zu Bildung

5 Kompetenz oder Wissen

LEHR- UND LERNTHEORETISCHE PERSPEKTIVE | Matthias Baer

Kompetenzorientierung im Unterricht und modernes Lehr- und Lernverständnis

1 Professionalität beim Handeln

2 PISA und die Folgen

3 Was sind Kompetenzen, und warum Kompetenzorientierung?

4 Zur Herkunft und weiteren Bestimmung von Kompetenz

5 Kompetenzorientierung im Lehrplan 21

6 Kompetenzorientierter Unterricht

7 Kognitiv-(sozial-)konstruktivistisches Verständnis von Lehren und Lernen im kompetenzorientierten Unterricht

SOZIOLOGISCHE PERSPEKTIVE | Regina Scherrer

Kompetenzorientierung der Schule – weniger Bildungsungleichheiten für Schülerinnen und Schüler?

1 Einleitung

2 Bildungsungleichheiten

3 Wie werden Kompetenzen aus soziologischer Perspektive definiert?

4 Welche Funktionen werden der Volksschule von der Gesellschaft zugewiesen?

5 Kompetenzorientierung – welche Erwartungen und Kritikpunkte sind aus soziologischer Perspektive zentral?

6 Kann die Kompetenzorientierung illegitime Bildungs ungleichheiten verringern?

7 Fazit

SONDERPÄDAGOGISCHE PERSPEKTIVE | Raphael Gschwend, André Kunz und Reto Luder

Flexible Anwendung von Lehrplänen als Antwort auf individuelle Lernwege

1 Sonderpädagogik in einer inklusiven Schule

2 Das bio-psycho-soziale Modell als Grundlage einer sonder pädagogischen Perspektive

3 Der Kompetenzbegriff aus sonderpädagogischer Sicht

4 Die ICF als Grundlage des schulischen Standortgesprächs und der Förderplanung

5 Probleme, Entwicklungen und Trends

6 Beobachtungsindikatoren zum schulischen Standortgespräch (BISS)

7 Fazit

ALLGEMEINDIDAKTISCHE PERSPEKTIVE | Herbert Luthiger

Kompetenzorientierte Didaktik? – Auf gaben als Brücke zwischen Allgemeiner Didaktik und Kompetenzorientierung

1 Herausforderungen – auch für die Allgemeine Didaktik!

2 Zum Verhältnis von Allgemeiner Didaktik und Kompetenz orientierung

3 Aufgaben als Brücke zwischen der Didaktik und der Kompetenz orientierung

4 Fazit: Gibt es eine kompetenzorientierte Didaktik?

TEIL 2 – FACHDIDAKTISCHE PERSPEKTIVEN

DEUTSCH | Doris Grütz

Kompetenzorientierung im Deutsch unterricht: Lesen

1 Was passiert, wenn wir lesen? – Ein Beispiel

2 Das kognitionspsychologische Modell des Textverstehens

3 Lesekompetenzen: Didaktisches Drei-Dimensionen-Modell des Leseverstehens

4 Die kognitive Dimension der Lesekompetenz

5 Die subjektbezogene Dimension der Lesekompetenz

6 Die kommunikationsbezogene Dimension der Lesekompetenz

7 Welche Kompetenzen fördert die Schule? – Der Lehrplan 21

8 Was sind Lesestrategien, und wie werden sie am besten vermittelt?

9 Sachtexte lesen – ein Thema in allen Fächern!

10 Literarische Texte: Jugendliteratur

11 Kompetenzorientiert unterrichten

12 Fazit

MATHEMATIK | Maurus Küttel und Thomas Schmalfeldt

Kompetenzmodelle im Fach Mathematik

1 Typische mathematische Tätigkeiten und Prozesse

2 Kompetenzmodelle als Grundlage der Curriculumentwicklung

3 Planen von kompetenzorientiertem Mathematikunterricht

4 Überprüfung von Kompetenzen im Mathematikunterricht

5 Fazit

FREMDSPRACHEN: ENGLISCH UND FRANZÖSISCH | Karin Haller und Clément Zürn

L’importance of becoming compétent

 

1 Einleitung mit zwei Fallbeispielen

2 Kompetenzorientierung im Fremdsprachenunterricht

3 Kompetenzaufbau

4 Überprüfung der Kompetenzen

5 Fazit und Ausblick

NATUR UND TECHNIK | Christoph Gut, Hanspeter Pfirter und Josiane Tardent

Modellkompetenz im Naturwissenschaftsunterricht – Förderung und Diagnose

1 Grundkompetenzen der Naturwissenschaften

2 Modelle im Unterricht

3 «Arbeiten mit Modellen» als Schülerkompetenz

4 Planung und Gestaltung kompetenzorientierter Lerngelegenheiten

5 Diagnose von Modellkompetenz im Unterricht

6 Verknüpfung von Problemtypen: Diskussion zweier kompetenz orientierter Lerngelegenheiten

7 Fazit und Schlussgedanken

GESCHICHTE | Beatrice Bürgler, Peter Gautschi und Stephan Hediger

Kompetenzorientiert arbeiten im Geschichtsunterricht

1 Ziele historischen Lernens

2 Kompetenzorientiert lehren und lernen

3 Kompetenzorientierte Lernprozesse im Geschichtsunterricht – ein Beispiel

4 Kompetenzorientierten Unterricht planen und beurteilen

5 Fazit

BILDNERISCHES GESTALTEN | Hans Diethelm und Claudia Niederberger

Kompetenzorientierter Unterricht im Bildnerischen Gestalten

1 Ästhetisches Verhalten von Jugendlichen

2 Auf dem Weg zur Kompetenzorientierung – ein kurzer Blick in die Fachgeschichte

3 Bildkompetenz: Kompetenzorientierung im Lehrplan 21, Fachbereich Gestalten

4 Planung, Durchführung und Auswertung von kompetenz orientiertem Fachunterricht

5 Exemplarische Planung, Durchführung, Beurteilung und Analyse einer kompetenzorientierten Unterrichtseinheit

6 Ergänzende Bemerkungen zur Kompetenzorientierung

TEXTILES GESTALTEN | Pia Aeppli

Das Sweatshirt – Mein Sweatshirt

1 Einleitung

2 Kompetenzdiskurs im Textilen Gestalten

3 Kriterien für die Konstruktion kompetenzorientierter Lernaufgaben

4 Bezug zum Lehrplan 21

5 Kompetenzorientierung im Textilen Gestalten – Das Sweatshirt

6 Begutachten – Beurteilen im Textilen Gestalten

7 Fazit

BEWEGUNG UND SPORT | Ilaria Ferrari Ehrensberger und Ursula Baggenstos

Kompetenzorientierung im Sport unterricht der Sekundarstufe I

1 Einleitung: Kompetente Schülerinnen und Schüler im Sportunterricht

2 Der Kompetenzbegriff im sportpädagogischen Diskurs

3 Sportunterricht planen

4 Exemplarische Planung eines Unterrichtsvorhabens

5 Schlussgedanken

ONLINE VERFÜGBARE ARTIKEL

MEDIENBILDUNG | Flurin Senn-Albrecht und Friederike Tilemann

«Mehr als nur klicken» – Medienkompetenz als Unterrichtsziel

http://mehr.hep-verlag.de/kompetenzorientierter-unterricht

1 Einleitung

2 Medienbildung als Aufgabe der Schule

3 Lernen über Medien – Lernen mit Medien

4 Medienkompetenz als Unterrichtsziel

5 Lehrpersonen brauchen mehr als Medienkompetenz: medienpädagogische Kompetenz

6 Medienbildung und Kompetenzorientierung

7 Medien lesen, beurteilen und gestalten lernen

8 Kompetenzorientierung in der schulischen Medienbildung am Beispiel des Infotainments

9 Fazit

SEXUALPÄDAGOGIK | Lukas Geiser

Die Sache mit dem Sex und der Liebe – Sexualkundlichen Unterricht kompetenzorientiert umsetzen

http://mehr.hep-verlag.de/kompetenzorientierter-unterricht

1 Sexualitätsbezogene Themenfelder und der damit verbundene Kompetenzerwerb

2 Wenn Werte und Normen mitspielen … Personale und soziale Kompetenzen

3 Das Spannungsfeld von Ressourcen, Kompetenzen und Performanz

4 Beispiele für die Praxis

5 Beurteilung von Kompetenz und Performanz im Kontext von Sexualität

6 Fazit

Einleitung

Einleitung

Kompetenzorientierung – ein Reizwort mit Potenzial

Der Begriff «Kompetenzorientierung» ist – nicht nur in der Schweiz und vor dem Hintergrund eines neuen kompetenzorientierten Lehrplans – in aller Munde. Er provoziert, polarisiert, verspricht aber auch Antworten auf ganz unterschiedliche pädagogische, didaktische und bildungspolitische Fragen.

Zum einen impliziert Kompetenzorientierung eine pädagogische und didaktische Antwort auf die Frage nach den richtigen Unterrichtsinhalten und -prozessen für eine zunehmend heterogene Schülerschaft. «Kompetenz» meint dabei das Wissen und Können einer Einzelperson, und der Leistungsfortschritt ist an einer individuellen Bezugsnorm orientiert. Binnendifferenzierung oder zumindest ein mit Heterogenität rechnender und daran ausgerichteter Unterricht muss demnach das Ziel sein. Nicht alles ist neu – das hat die Kompetenzorientierung auch nie für sich reklamiert –, und doch lohnt sich ein bewussterer Blick auf Kernelemente eines kompetenzorientierten Unterrichts, dessen grosse Chance der Fokus auf Unterrichtsqualität ist. Guter Unterricht thematisiert authentische und schülernahe Inhalte mittels kognitiv aktivierender Lernaufgaben, strebt eine Niveaudifferenzierung an, enthält Formen des kooperativen Lernens, der Partizipation und Verantwortung für das eigene Lernen, ist handlungsorientiert (verbindet also Wissen und Können) und auf transparente – möglichst individuell vereinbarte – Lernziele ausgerichtet. Kritisch gefragt werden darf, ob der Begriff «Kompetenz» diesen verschiedenen und schon länger bekannten Qualitätskriterien ein neues Gesicht oder einen Rahmen verleihen kann und somit – zum Beispiel durch neue kompetenzorientierte Lehrpläne und Lehrmittel – guten Unterricht tatsächlich begünstigt.

Zum anderen bietet Kompetenzorientierung mit der Forderung nach beschreibbarem Können, nach messbarem «Output» oder besser «Out­come» eine bildungspolitische Antwort auf die Frage der standardisierten Messung, der Vergleichbar-Machung von individuellen und institutionellen Leistungen und der damit verbundenen Steuerung, was gerne auch mit «Bildungsmonitoring» umschrieben wird. Dem oben erwähnten Zugang über eine individuelle Bezugsnorm steht also, quasi im krassen Gegensatz, eine kriteriumsorientierte und soziale Bezugsnorm gegenüber, indem – durchaus auch im Streben um Chancengerechtigkeit – mit «Bildungsstandards» versucht wird, sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Schulen – ja ganze nationale Bildungssysteme – miteinander zu vergleichen und damit nicht nur an sich selbst, sondern vor allem an der Leistung der anderen zu messen.

Aufbau und Absicht des Buches

Diese grosse Spannweite an positiven Erwartungen und kritischer Distanz bezüglich «Kompetenzorientierung» widerspiegelt sich auch in diesem Buch und ist durchaus beabsichtigt. Sie ist aber auch einer Fülle von teils recht unterschiedlichen Definitionen von «Kompetenz» geschuldet. Auch vor der Entstehung dieses Buches stand die Frage nach einer Definition von «Kompetenz» bzw. «Kompetenzorientierung» und demzufolge von «kompetenzorientiertem Unterricht» zur Diskussion. Wovon gehen wir aus? Beziehen sich alle Beiträge auf den gleichen Kompetenzbegriff? Gibt es einen Konsens in der Definition? – Und die Antwort ist so einfach und pragmatisch wie auch auf den ersten Blick enttäuschend: Nein.

Als Herausgeber des Buches gehe ich mit Walter Herzog einig, dass es «keine allgemeine Kompetenz (im Singular), sondern immer nur spezifische Kompetenzen (im Plural) [gibt], die die Bewältigung von spezifischen Anforderungen in spezifischen Situationen ermöglichen.»[1] Unter dieser Prämisse ist auch Kompetenzorientierung in jedem Fach etwas anders zu definieren und umzusetzen. Eine Anbindung an einen zu starren Begriff oder ein Modell schien deshalb für das vorliegende Buch nicht zielführend, was zur Folge hat, dass bezüglich der Auslegung des Kompetenzbegriffs Vielfalt statt Einfalt (im Sinne von Homogenität oder Uniformität) herrscht.

Im ersten Teil, «Erziehungswissenschaftliche Perspektiven», wird in fünf Beiträgen ein je historischer, lehr- und lerntheoretischer, soziologischer, sonderpädagogischer und allgemeindidaktischer Blick auf die Thematik geworfen. Im zweiten Teil folgen fachdidaktische Perspektiven, die in acht Beiträgen (und zwei weiteren überfachlichen Kapiteln online) aufzeigen, was Kompetenzorientierung in den einzelnen Fächern (Mathematik, Deutsch, Fremdsprachen, Geschichte, Bildnerisches Gestalten, Bewegung und Sport, Textiles Gestalten, Natur und Technik, Medienbildung, Sexualpädagogik und Lebenskunde) bedeutet und wie ein kompetenzorientierter Unterricht gestaltet sein könnte. Hierfür werden auch exemplarisch konkrete Unterrichtsreihen und -beispiele beschrieben, um der allenfalls zu Beginn der Lektüre noch leeren Hülle «Kompetenz­orientierter Unterricht» Inhalt und Kontur zu verleihen. Jeder Beitrag wird durch ein Abstract eingeleitet und enthält neben weiterführenden Fragen und einer ausführlichen Literaturliste zentrale Begriffe, die in der Marginalienspalte aufgelistet sind und in der zum Buch gehörenden App[2] erklärt werden.

 

App zum Buch

Da die Beiträge zeitgleich entstanden sind, beziehen sich die einzelnen Texte meistens nicht aufeinander; es ist deshalb auch keine bestimmte Reihenfolge beim Lesen vorausgesetzt. Redundanzen (z.B. die Forderung nach guten Lernaufgaben) sind bewusst nicht entfernt worden, weil eine wiederholte Nennung die Wichtigkeit einer Forderung zeigt und das Buch auch bewusst so angelegt ist, dass je nach Interesse (z.B. bezüglich der Fächer, die man selbst unterrichtet) auch nur einzelne Beiträge gelesen werden können. Dies wiederum will nicht heissen, dass kein roter Faden zu finden wäre – im Gegenteil. Die einzelnen erziehungswissenschaftlichen Perspektiven sind beispielsweise bewusst so gewählt worden, dass sie sich ergänzen und gemeinsam zu einer umfassenden Sicht auf die Thematik beitragen. Gerade die Erziehungswissenschaften haben sich – im Gegensatz zu den Fachdidaktiken, die aufgrund anstehender Reformen unter Zug- und Publikationszwang stehen – bisher eher zurückhaltend mit dem Thema befasst. Dies zu ändern, ist ein Ziel des Buches. Erziehungswissenschaft und Fachdidaktik in einem Buch zu vereinen, ein zweites. Und schliesslich sollen – als ein drittes Ziel – die oft als zu theoretisch zurückgewiesenen Forderungen der Fachdidaktiken mittels guter Beispiele aus dem konkreten Schulunterricht der Sekundarstufe I illustriert werden, um so der Theorie-Praxis-Kluft entgegenzuwirken.

Geplant war ein Studienbuch für angehende Sekundarlehrpersonen, das als Teil eines Projekts der Abteilung Sekundarstufe I an der Pädagogischen Hochschule Zürich die Absicht verfolgte, das Thema «Kompetenz­orientierter Unterricht» in Modulen der Ausbildung zur Lehrperson zu verankern. Entstanden ist – auch dank der ausgezeichneten Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule Luzern – ein Werk von Autorinnen und Autoren beider Hochschulen, das in dieser Form aber auch weitere an Bildung beteiligte Kreise erreichen kann und soll. Das Buch richtet sich somit an Studierende in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Lehrpersonen, Schulleitende, aber auch an Interessierte aus Bildungspolitik, Erziehungswissenschaft und Fachdidaktik und ist – trotz Orientierung am schweizerischen Bildungssystem – sicher auch in anderen deutschsprachigen Ländern gewinnbringend zu lesen.

Dank

Eine solche Publikation wäre nicht möglich ohne finanzielle und zeit­liche Ressourcen, wofür ich mich bei den Verantwortlichen der Pädagogischen Hochschulen Zürich und Luzern – namentlich bei Esther Kamm und Werner Hürlimann, die sich massgebend für das Projekt eingesetzt haben – herzlich bedanke. Für die inhaltliche Qualität gilt es dann aber in erster Linie den beteiligten Autorinnen und Autoren zu danken, die ihr grosses fachliches Wissen – auf Kompetenzorientierung fokussiert – zu Papier gebracht haben und ein Reviewing durch ausgewiesene Expertinnen und Experten (auch diesen sei an dieser Stelle herzlich gedankt!) nicht scheuten. Für die Illustrationen (auf dem Titelblatt und den Kapitelöffnerseiten) danke ich Donat Bräm, der in den Schulhäusern der Oberstufen Stadel und Pfäffikon ZH fotografieren durfte, weshalb deren Schulleitenden ebenfalls ein herzlicher Dank gebührt. Robert Fuchs bin ich für das Begleiten der vertraglichen Verhandlungen ebenso zu Dank verpflichtet wie den Mitarbeitenden des hep-Verlags für die ausgezeichnete Zusammenarbeit.

Nun wünsche ich dem Werk viel Erfolg und hoffe, es möge den Lesenden kompetenzorientierten Unterricht näherbringen und zur fundierten Diskussion darüber anregen, aber auch – und darum muss es schliesslich gehen – guten Unterricht bewirken und so die Schülerinnen und Schüler erreichen!

Zürich, im Frühling 2016

Marcel Naas (Herausgeber)

TEIL 1 – ERZIEHUNGS WISSENSCHAFTLICHE PERSPEKTIVEN

Teil 1

Erziehungswissenschaftliche Perspektiven


HISTORISCHE PERSPEKTIVE | Rebekka Horlacher

Historische Perspektive

Der Beitrag beschäftigt sich in einer historischen Perspektive mit dem Begriff der Kompetenz und widmet sich zuerst den verschiedenen Verwendungen von Kompetenz in der aktuellen Diskussion. Damit verbunden wird die Frage, ob Kompetenz ein pädagogischer Slogan sei. Anschliessend werden drei Wegmarken der pädagogischen oder psychologischen Verwendung des Kompetenzbegriffs in ihrem Kontext dargestellt: die Debatte um die amerikanische Curriculumreform der 1960er-Jahre, die erziehungswissenschaftliche Unterscheidung von Selbstkompetenz, Sachkompetenz und Sozialkompetenz in den 1970er-Jahren sowie die Diskussion um die Frage, ob der Begriff der Kompetenz den oft kritisierten Bildungsbegriff ablösen könne. Das abschliessende Kapitel diskutiert die in den verschiedenen Debatten sichtbar gewordene Unterscheidung von Kompetenz und «totem Wissen» und fragt nach deren Bedeutung für die bildungspolitische und wissenschaftliche Diskussion.

Kompetenz wider das «tote Wissen» oder: Ein Kampf gegen Windmühlen?

Rebekka Horlacher

1 Einleitung

Es ist eine bemerkenswerte Eigenheit pädagogischer Diskussionen, dass darin immer wieder neue Begriffe auftauchen, die breite Aufmerksamkeit auf sich ziehen und zu eigentlichen Modebegriffen werden. Diese Begriffe versprechen in der Regel, etwas Neues und noch nie Dagewesenes, aber dennoch Wichtiges und Essenzielles zu bezeichnen und die pädagogische Theorie oder Praxis (besser noch beide) entweder zu revolutionieren oder doch zumindest entscheidend neu zu gestalten und zu verbessern.

Die hier beschriebene Funktion eines Modebegriffs hat seit einiger Zeit der Begriff der «Kompetenz» übernommen, der nicht nur in der Bildungspolitik und in der Lehrerbildung in aller Munde ist, sondern auch in allen möglichen Verbindungen gebraucht wird, von der Sozialkompetenz in Stellenausschreibungen über das Schweizer Kompetenz Centrum für Gesundheit und Prävention (SKC) mit dem Ex-Fussballer Alain Sutter als «stolzem Mitglied des SKC Netzwerks»[3] bis hin zur transkulturellen Kompetenz als Weiterbildungsangebot des Roten Kreuzes. Damit hat sich «Kompetenz» zu einem eigentlichen Zauberwort des Unterrichts, der Schule, der Berufsbildung und der bildungspolitischen Debatte entwickelt. Der Begriff hat aber auch eine vielstimmige Opposition hervorgerufen, die ihm auf unterschiedlichen Ebenen skeptisch bis ablehnend gegenübersteht. «Kompetenz» wird dabei als Verkörperung eines eher sinnlosen Reformeifers verstanden, als Anfang vom Untergang der abendländischen (Bildungs-)Tradition, als Kniefall vor der Dominanz der Leistungsmessung und der Output-Steuerung im Bildungswesen, ja sogar als Trojanisches Pferd im Kampf um die Vereinheitlichung des Schweizerischen Bildungswesens, was den Verlust der kantonalen Souveränität in Bildungsfragen zur Folge hätte.

Die Verfechter des Kompetenzbegriffs setzen in ihrer Anwaltschaft der Kompetenz oft den Begriff des «toten Wissens» entgegen, wobei dieser eine Art von Wissen bezeichnet, das keine praktischen Konsequenzen habe bzw. in praktischen Situationen nicht angewendet werden könne. Es werde also nur für Prüfungen oder für die Schule gelernt, so der oft formulierte Vorwurf, weshalb Gelerntes, sobald die Prüfungs- oder Schulsituation vorüber sei, sofort wieder vergessen werde. Kompetenz dagegen verweise auf ein tätiges oder aktives Wissen, mit dem in konkreten Situationen aktiv gehandelt werden könne und das deshalb praxisrelevant und bedeutungsvoll sei und für diejenigen, die darüber verfügten, einen tatsächlichen Mehrwert biete.[4]

Gemäss der aktuellen Ausgabe des Dudens hat der Begriff «Kompetenz» zwei Hauptbedeutungen. Er bezeichnet einen bestimmten Sachverstand oder eine Fähigkeit und knüpft damit an die Verwendung innerhalb der römischen Rechtslehre im Sinne von kompetent als «zuständig», «befugt», «rechtmässig» oder «ordentlich» an (Grunert 2012, 39). Zudem beschreibt Kompetenz in den Sprachwissenschaften die Summe aller sprachlichen Fähigkeiten, die eine muttersprachliche Person besitzt. Von einer explizit pädagogischen oder psychologischen Verwendung ist im Duden nicht die Rede.

Ein – gemäss Eigenwerbung – «Standardwerk» der Psychologie, das «seit vielen Studentengenerationen […] eine umfassende Orientierung über Grundlagen, Konzepte und Begriffe der Psychologie ermöglicht»,[5] der «Dorsch», definiert «Kompetenz» als kontextspezifische «Leistungs­disposition» bzw. als «Leistungspotenzial», das stärker als das Konzept der Intelligenz den Handlungsaspekt betone und damit den Kontext berücksichtige (Wirtz 2015). Während der Kompetenzbegriff in der psychologischen Forschung noch als einigermassen klar definiert gelten könne, so ist weiter zu lesen, treffe das für eine pädagogische Verwendung nicht mehr unbedingt zu. Kompetenz werde im pädagogischen Feld zum Teil auch als «Persönlichkeitsdimension verstanden, die sich umfassend auf die ‹fühlenden, denkenden, wollenden und handelnden Individuen› während ihrer lebensbegleitenden Lern- und Entwicklungsprozesse bezieht», was «ein lebenslanges und zunehmend selbstgesteuertes» Lernen ermögliche, wobei der Lernende selbstverantwortlich in pädagogisch gestalteten Lernumgebungen agieren soll. Ein «solch umfassender Definitionsansatz» könne nur dann empirisch nutzbar gemacht werden, wenn er in analytisch zugängliche Konstrukte aufgeteilt werde (ebd.). Der Begriff der Kompetenz ist – das muss aus diesem Lexikoneintrag geschlossen werden – im pädagogischen Kontext ein Konglomerat unterschiedlicher Versatzstücke mit höchst bedingter empirischer Nutzbarkeit bzw. Funktions­fähigkeit, dafür aber mit hohen Erwartungen verbunden.

Den emanzipatorischen Aspekt betont eine Studie zu Kompetenz als neuem Paradigma des Lernens in Schule und Arbeitswelt, die hauptsächlich auf die französischsprachigen Debatten rekurriert. Der Begriff wird hier als «mehr» als nur ein Modewort beschrieben, da er Ausdruck einer gesellschaftlichen Veränderung mit dem Ziel einer kritischen und selbstreflexiven Autonomie sei, was nicht ohne Auswirkungen auf die Struktur und das Verständnis von Unterricht bleibe, aber auch das Selbstverständnis der Lehrenden nicht unberührt lasse (Max 1999, 469–471). Der «Kompetenzdiskurs» scheint ein sprachgrenzenübergreifendes Phänomen zu sein, das hier wie dort ähnlich diskutiert wird.

Ein Blick in die weitere Forschungsliteratur zeigt, dass der Kompetenzbegriff sich aus mehreren und vor allem auch theoretisch, historisch und konzeptionell ganz unterschiedlichen Wurzeln nährt. Darauf haben nicht nur schon die beiden im Duden angegebenen Begriffsverwendungen hingewiesen, sondern auch begriffsgeschichtlich orientierte Studien. Das historische Wörterbuch der Philosophie beispielsweise listet unter dem Stichwort «Kompetenz» sechs Einträge auf, die sich aus römisch-rechtlicher, militärischer, öffentlich-rechtlicher, biologischer, motivationspsychologischer und sprachtheoretisch-kommunikationswissenschaftlicher Perspektive mit dem Begriff beschäftigen (Ritter u. Gründer 1976, 918–920). Vor diesem Hintergrund erstaunt nicht, dass der Eintrag «Kompetenz» aus sechs Einzelbeiträgen besteht, die jeweils zu ganz unterschiedlichen Begriffsbestimmungen gelangen.

In einem Artikel zu «Kompetenzkonzepten» werden die «Wurzeln des Kompetenzbegriffs und der darauf aufbauende Diskurs in der Erziehungswissenschaft» rekonstruiert (Klieme u. Hartig 2007, 11) und die Ursprünge in der Soziologie Max Webers, der Linguistik Noam Chomskys und in einer «pragmatisch-funktionalen» Tradition der amerikanischen Psychologie gefunden. Damit ziehen die beiden Autoren eine Traditionslinie, der in der neueren Literatur oft gefolgt wird und auf die sich die erziehungswissenschaftlich-psychologische Literatur bezieht, die sich ihrer begrifflichen Herkunft versichern möchte.

Die verschiedenen Ansätze machen deutlich, dass die Bedeutungen, die dem Kompetenzbegriff in der Forschungsliteratur und in der zeitgenössischen Schul- und Unterrichtsdiskussion zugeschrieben werden, nicht neu sind und von einem gesellschaftskritischen und die Selbstreflexion und Selbstbestimmung fördernden Potenzial bis hin zu einem empirisch messbaren Konstrukt reichen. Die Analyse der verschiedenen und eher disparaten Diskussionsbeiträge verweist indes auf einen in den pädagogischen Debatten durchaus weitverbreiteten Umgang mit Begriffen. Diese Begriffe werden relativ unabhängig von ihrer inhaltlichen Bestimmung zu einer Chiffre für ein Phänomen, das nicht klar zu definieren und zu bestimmen ist und das aus durchaus unterschiedlichen Gründen Attraktivität besitzt. In dieser begrifflichen Unschärfe können jeweils mehr oder weniger diffuse Erwartungen und Anforderungen zusammengefasst werden, die Bedeutung versprechen, auch wenn oder vielleicht gerade weil nicht präzis formuliert werden kann, was genau damit gemeint ist.[6] Allerdings können solch unscharf konzeptualisierte Begriffe durchaus definiert und die daraus entstandenen Definitionen als «wahr» oder «real» angesehen werden, ohne dass der Begriff als historisches Konglomerat von vielen verschiedenen Anforderungen, Ansprüchen und Wünschen verstanden wird, das – vielleicht nur zufällig – Diskursdominanz erhalten und in dieser Dominanz ein Eigenleben entwickelt hat, das nur noch eine sehr bedingte Verbindung zu den eigentlichen oder ursprünglichen Absichten hat.[7]

Der amerikanische Wissenschafts- und Erziehungsphilosoph Israel Scheffler (1923–2014) bezeichnete das eben beschriebene Phänomen 1960 als «pädagogischen Slogan», der im Gegensatz zu einer Definition unsystematisch sei (Scheffler 1971, 55). Ein solcher Slogan beherrsche durch seine emotionale Konnotationsfähigkeit die Diskussionen sowohl in der Wissenschaft als auch in der Öffentlichkeit und gebe vor, «‹Forschungsresultate› der Pädagogik» zu bezeichnen (Reichenbach 2007, 190): «Einigermassen naiv dürfte die Annahme sein, dass der Gebrauch und die Akzeptanz von solchen Vokabularien keinen Einfluss auf pädagogisches Handeln und Denken hätte», wobei sie «auch entlastende Funktion» haben. Begriffe sind damit nicht nur Bezeichnungen für empirische Phänomene, sondern bestimmen durch ihre Begrifflichkeit auch empirische Phänomene. Oder noch pointierter formuliert: «Hinter verfänglichen Proklamationen und pathetischen Phrasen offenbaren sich immer wieder bloss die uniformierten Meinungen der tatsächlichen oder vermeintlichen Vertreter der Disziplin, die sich von den eigenen Selbstwirksamkeitsgefühlen und -wünschen haben verführen lassen» (ebd., 191).

Kompetenz wird in diesem Beitrag als ein ebensolcher «pädagogischer Slogan» verstanden, was anhand einiger Wegmarken der pädagogischen und psychologischen Verwendung dargestellt wird. Dabei geht es nicht darum, umfängliche Entwicklungslinien des Begriffs zu rekonstruieren, sondern an bestimmten Punkten der Geschichte schlaglichtartig ausgewählte Debatten in ihrem Kontext zu beleuchten, um die Vielschichtigkeit des Kompetenzbegriffs beispielhaft aufzuzeigen. Durch diese historische Kontextualisierung kann der Begriff der Kompetenz entmythologisiert und können dessen Grenzen und theoretische Verstrickungen aufgezeigt werden. Ziel ist kein wie auch immer ausformulierter «richtiger» Begriff von Kompetenz im Gegensatz zu einem «falschen» Begriff, um damit eine gültige Lesart zu bestimmen. Vielmehr geht es darum, die verschiedenen historischen Herkünfte und Wurzeln so herauszuarbeiten, dass die damit verbundenen Erwartungen oder gar «Erlösungshoffnungen» (Geissler u. Orthey 2002, 73) sichtbar werden. Die gängige Unterscheidung von Kompetenz und «totem Wissen» wird dabei als heuristisches Mittel verstanden, das heisst als eine intellektuell konstruierte Hilfe, um einen Sachverhalt deutlicher zu erfassen. Diese Unterscheidung hat sich allerdings längst zu einer empirischen Realität entwickelt, die sowohl die öffentliche als auch die wissenschaftliche Diskussion bestimmt und dazu führt, dass einigermassen «geschichtsvergessen» immer wieder neue Konzepte und Begriffe als «pädagogische Erlösung» zuerst erfreut rezipiert werden, bevor sie später enttäuscht durch neue ersetzt werden.