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Czcionka:

Schriftstellerinnen III

KLG Extrakt

Herausgegeben von

Axel Ruckaberle

Schriftstellerinnen III

Herausgegeben von

Carola Hilmes


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

www.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-96707-076-7

E-ISBN 978-3-96707-078-1

Umschlaggestaltung: Victor Gegiu

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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2020

Levelingstraße 6a, 81673 München

www.etk-muenchen.de

Inhalt

Einführung

Libuše Moníková

Lilian Faschinger

Angela Krauß

Sibylle Lewitscharoff

Alissa Walser

Gila Lustiger

Ruth Schweikert

Jenny Erpenbeck

Monika Rinck

Kathrin Röggla

Juli Zeh

Sekundärliteraturauswahl

Biogramme

Carola Hilmes

Einführung

Noch immer ist es nötig, Schriftstellerinnen und ihre Werke zu popularisieren. Zwar gibt es in der Gegenwartsliteratur erkennbar mehr Autorinnen als zu früheren Zeiten, aber trotzdem werden sie oft in die zweite Reihe gedrängt. Das gilt weniger für diejenigen, die sich dezidiert zu tagespolitisch aktuellen Themen äußern, wie z.B. Juli Zeh, Kathrin Röggla oder Sibylle Lewitscharoff, deren Schreiben und Engagement ganz unterschiedlich sind. Die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Ruth Klüger (*1931) hat einmal geraten, einfach zu zählen, wenn es um einflussreiche Positionen in den Akademien, den Redaktionen von Zeitungen, im Radio oder Fernsehen geht. In den Jurys von Literaturwettbewerben wird neuerlich stärker auf Ausgleich geachtet, wie z.B. der Ingeborg Bachmann-Preis in Klagenfurt 2019 zeigt. Über die Langzeitwirkung und Nachhaltigkeit ist damit noch nichts gesagt. Zukunftsträchtige Innovationen spielen sich ohnehin oft an den Rändern oder in den Schmuddelecken des Literaturbetriebs statt, wie Kathrin Passig 2018 in ihren „Grazer Vorlesungen zur Kunst des Schreibens“ (2019) ausführt. In jedem Fall lohnt es sich, die Namen der Autorinnen präsent zu halten und ihre Werke (wieder) zu lesen, denn sie eröffnen einen je spezifischen Blick auf die Welt. Auch in diesem dritten Band Schriftstellerinnen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur sind wieder nach 1945 geborene Autorinnen zusammengestellt, die verschiedene Bereiche und Genres abdecken. Die Auswahl orientiert sich, um nicht ganz subjektiv zu bleiben, an Literaturpreisen und Auftritten in der Öffentlichkeit wie z.B. Poetikvorlesungen, die eine wichtige Scharnierfunktion zwischen fiktionaler Literatur, medialer Vermittlung und den Selbstaussagen der Schriftstellerinnen besitzen.

Zusammen mit Ilija Trojanow veröffentlichte Juli Zeh 2009 eine engagierte Kampfschrift: „Angriff auf die Freiheit“. Darin geht es um „Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und den Abbau bürgerlicher Rechte“, wie es im Untertitel heißt. Diese gesellschaftspolitisch relevante Intervention blieb kein Einzelfall. 2013 lancierte sie zusammen mit anderen namhaften Autor*innen den Aufruf „Die Demokratie verteidigen im digitalen Zeitalter“. Dabei geht es „um den Konflikt zwischen dem Einzelnen und der absoluten Macht unter den neuen Bedingungen des Informationszeitalters“, wie es in der Begründung heißt (vgl. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/autoren-gegen-ueberwachung/demokratie-im-digitalen-zeitalter-der-aufruf-der-schriftsteller-12702040.html). Ein Jahr später schrieb Juli Zeh erneut an die Kanzlerin und fragte: Warum schweigen Sie, Frau Merkel? (vgl. https://www.zeit.de/2014/21/juli-zeh-offener-brief-an-merkel) Über die Homepage der Autorin sind diese Aktivitäten gut dokumentiert (vgl. http://www.juli-zeh.de/essay.php).

Ausdrücklich stellt sich die ausgebildete Juristin Juli Zeh (*1974 in Bonn) in die Tradition der Aufklärung. Sie glaubt an deren Werte und Zielsetzungen. Vor allem die Freiheit ist ihr wichtig, nicht die Konsumfreiheit, auch nicht die Freiheit von Zwängen, sondern die Möglichkeit, Freiräume zu gestalten. Deshalb übernimmt sie auch Verantwortung: Auf Vorschlag der SPD wird sie im Dezember 2018 ehrenamtliche Verfassungsrichterin am Landesverfassungsgericht in Brandenburg, wo sie seit 2007 in einem kleinen Dorf lebt. Ohne in einen platten Illusionsrealismus zu verfallen, besitzen auch ihre Romane und deren Adaption als Theaterstücke eine politische Dimension. Bei den frühen Reiseromanen „Adler und Engel“ (2001) und „Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien“ (2002) ist das ebenso klar erkennbar wie in „Corpus Delicti“ (2009), einer Dystopie, die von einem Prozess in einer Gesundheitsdiktatur erzählt. Die letzten Romane versetzen das Politische in den Alltag und das Privatleben zurück. In „Leere Herzen“ (2017) wird eine gesellschaftliche Diagnose gestellt: die allgemeine Entleerung der Werte heutzutage. „Unterleuten“ (2016), ihr erfolgreichster Roman, an dem sie sehr lange gearbeitet hat, spielt in einem fiktiven Dorf in Brandenburg, während „Neujahr“ (2018) Ängste aus der Kindheit literarisch verarbeitet; es handelt sich produktionsästhetisch gesehen um ihr ‚intensivstes Buch‘.

Die gesellschaftskritische Dimension bei Kathrin Röggla (*1971 in Salzburg) ist auf die Kommunikationsstrukturen und die neoliberalen Wirtschaftsverhältnisse unserer Zeit gerichtet. Ihre literarischen Texte, die sich einer klaren Gattungszuweisung verweigern, erkunden den städtischen Raum, befragen sprachliche Gewohnheiten, erforschen das Katastrophische. Der journalistische Ansatz ihrer Theaterarbeiten verzichtet auf Psychologie zugunsten von Dokumentation. Die Zusammensetzung unserer Welt aus verschiedenen Ebenen – der sogenannten wirklichen Wirklichkeit, ihre Präsentation in den Medien, in Kunst und Literatur – vermischt sich in unserer Wahrnehmung. Darin liegt eine neue Herausforderung des Realismus. „Die Suche nach einem Blick auf die Welt, wie sie ist, ist die Suche nach einer besseren Welt“, heißt es in ihren Saarbrücker Poetikvorlesungen. Hier vertritt Kathrin Röggla einen ‚fiktionalen Realismus‘, der durch Selbstreferenzialität und Distanznahme einen Raum für Widerstand eröffnet. Auf diese Weise schreibt sie das ‚Projekt Aufklärung‘ fort. Von einem politischen Lehrtheater ist Röggla ebenso weit entfernt wie von postmoderner Beliebigkeit. In der Montage von ‚Wirklichkeitsblöcken‘ weiß sie sich Alexander Kluge nahe; seiner „Stimme mit Eigensinn“ hat sie einen Essay gewidmet (vgl. https://www.kathrin-roeggla.de/meta/eine-stimme-mit-eigensinn). Das Medium des Hörspiels erlaubt Röggla Zusammenhänge herzustellen, das Unterscheidungsvermögen der Zuhörer zu entwickeln und so eine kritische Auseinandersetzung zu befördern.

Ausdrücklich wertkonservativ äußerst sich Sibylle Lewitscharoff (*1954 in Stuttgart), die für ihr literarisches Debüt 1998 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde und der 2013 der Georg-Büchner-Preis zugesprochen wurde dafür, dass sie „in ihren Romanen mit unerschöpflicher Beobachtungsenergie, erzählerischer Phantasie und sprachlicher Erfindungskraft die Grenzen dessen, was wir für unsere Wirklichkeit halten, neu erkundet und in Frage stellt“, wie es in der Begründung heißt (vgl. https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/sibylle-lewitscharoff/urkundentext). Die Laudatorin Ursula Merz hebt Lewitscharoffs kulturkritische Invektiven anerkennend hervor, obwohl sie nicht immer deren Meinung teil. In die öffentliche Kritik geriet Lewitscharoff mit ihrer Dresdner Rede 2014, in der sie u.a. die künstliche Befruchtung brandmarkte, wofür sie sich später (beim Antritt der Poetikdozentur an der Universität Koblenz-Landau) allerdings ausdrücklich entschuldigte.

Zusammen mit anderen Autor*innen hat sie sich zum Weltfrauentag 2019 gegen den Genderismus ausgesprochen. „die tageszeitung“ vom 28.4.2019 wendet dagegen ein: „(…) gendergerechte Sprache gehört nicht nur zu den Voraussetzungen für eine weibliche literarische Stimme. Sie steht für das Ziel einer zukunftsoptimistischen Gesellschaft.“ Bereits 2017, also nach der offiziellen Anerkennung eines ‚dritten Geschlechts‘ (d für divers) hatte die Dudenredaktion ein Buch zum Thema herausgebracht: „Richtig gendern“. Die Begriffe Genus, Geschlecht und Gender sind auf unterschiedlichen Ebenen relevant: grammatisch (der, die, das), biologisch (sex), sozial bzw. kulturell (gender) sowie semantisch (z.B. der Vamp: grammatisch männlich, biologisch (meist) weiblich, kulturell überaus schillernd und ambig; divers). Genauigkeit hilft, differenziertes Sprechen ist wichtig. Das sollten doch gerade die Schriftsteller*innen wissen.

Sprache ist selten unschuldig. So haftet der Kategorie Frauenliteratur etwas Abwertendes oder Marginalisierendes an, obwohl sie auch rein beschreibend (Literatur von Frauen für Frauen über Frauen) verstanden werden kann. Die Frau als Thema (Weiblichkeit als Stoff) ist nicht problematisch, aber Frauen als Produzentin und Adressatin können den diskreditierenden Effekt auslösen. Wer will schon in eine ‚Sondergruppe‘ – einen ‚Nebenkanon‘ – gesteckt werden? Die Stimmen der Schriftstellerinnen sind gerade im Kanon der anderen, in der Tradition meist männlichen Stimmen wichtig, die zugleich den Wert der Literatur – die Maßstäbe, nach denen sortiert wird – festlegten. So erklärt sich das Fehlen der Autorinnen in der Literaturgeschichte; für das 19. Jahrhundert wird meist nur eine genannt: Annette von Droste-Hülshoff (vgl. Stephan Neuhaus: Grundriss der Neueren deutschsprachigen Literaturgeschichte, Tübingen 2017). Verkaufszahlen stimmen mit den ästhetischen Wertungen nicht immer überein; bereits in der Goethezeit sind viele Schriftstellerinnen durchaus erfolgreich, obwohl sie nur selten unter eigenem Namen publizieren konnten oder wollten (vgl. Hilmes: Skandalgeschichten. Aspekte einer Frauenliteraturgeschichte. Königstein/Ts. 2004).

In der österreichischen Literatur gibt es seit Ingeborg Bachmann (1926-1973) starke weibliche Stimmen. Zur Generation von Elfriede Jelinek (vgl. Schriftstellerinnen I) und Marlene Streeruwitz (vgl. Schriftstellerinnen II) gehört auch Lilian Faschinger (*1950 in Tschöran, Kärnten), die mit dem Roman „Die neue Scheherazade“ (1986) als fabulierfreudige Erzählerin auftritt. Sie spielt mit literarischen Mustern und verarbeitet auf eine witzige Art Trivialmythen. So macht sie nicht nur auf die gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen aufmerksam, sondern auch auf den Fremdenhass. Die komplexe Struktur des Romans „Wiener Passion“ (1999) erzählt die Geschichte einer böhmischen Magd um 1900, also der Zeit der legendären Kaiserin Sissi, zusammen mit einer interkulturellen Liebesgeschichte zwischen einer jungen Afroamerikanerin und ihrem Gesangslehrer in Wien, bei dem sie Unterricht nimmt, um sich auf die Rolle der Anna Freud in einem Musical in New York vorzubereiten. Die sozialkritische historische Dimension des Romans wird mit einer Gegenwartserzählung verbunden, wodurch Kontinuitäten aufgezeigt werden können.

Intertextualität, also die ausdrückliche Vernetzung unterschiedlicher Literaturen, spielt für die Prager Autorin Libuše Moníková (1945-1998) eine wichtige Rolle. Für ihr Schreiben wichtig waren Dostojevskij (die russische Literatur überhaupt), Kafka natürlich, Borges und Arno Schmidt, wie sie in dem Essayband „Schloß, Aleph, Wunschtorte“ (1990) erläutert. Für die aus Prag in die BRD übersiedelte Ich-Erzählerin in „Pavane für eine verstorbene Infantin“ (1983) ist die Figur namens Kafka ein wichtiger Dialogpartner. Diese von Fremdheit und Exil handelnde Erzählung wurde auszugsweise abgedruckt in „Die schwarze Botin“ (Nr. 19, 1983), der etwas anderen Frauenzeitschrift. Gegründet im selben Jahr wie „Courage“ (1976-1984) thematisieren die ‚Frauenhefte‘ (1976-1987) die dunklen Seiten der Literatur- und Kulturgeschichte. Dezidiert intellektuell ausgerichtet stellt sich die in Berlin gegründete Zeitschrift in die Tradition von Aufklärung und Surrealismus: Durch Analyse, verblüffende Bezüge und unerwartete Schnitte will „Die schwarze Botin“ „falsches und schädliches Denken“ entlarven; die Wiener Redaktion hatte Elfriede Jelinek übernommen. In den ‚Frauenheften‘ sind viele literarische Entdeckungen zu machen: Christa Reinig (1926-2008) und Elfriede Gerstl (1932-2009), Greta Knutson (1899-1983) und Unica Zürn (1916-1970) sowie aus der jüngeren Generation Ursula Krechel (*1947), Elfriede Czurda (*1946), Ginka Steinwachs (*1942) und Gisela von Wysocki (*1940). Propagiert wird eine entschieden feministische Position.

Die deutschsprachige Literatur hat viele Stimmen, die außerhalb nationaler Grenzen liegen. Kafka und Musil sind dafür prominente Beispiele, ebenso Elias Canetti oder W.G. Sebald. Die interkulturelle Dimension und mehrsprachiges Schreiben finden seit einiger Zeit größere Beachtung. Die Nobelpreisträgerin Herta Müller stammt aus einer deutschen Sprachenklave in Rumänien, Terezía Mora ist in Ungarn zweisprachig aufgewachsen (vgl. Schriftstellerinnen II). Die sogenannte deutsch-türkische Literatur – prominent vertreten mit Emine Sevgi Özdamar – oder auch die deutsch-türkischen Filme eines Fatih Akin (*1973 in Hamburg) tragen entschieden zur Bereicherung der deutschen Kultur bei. Aber wie steht es mit der mehrsprachigen Schweiz? Autoren wie Frisch oder Dürrenmatt waren auch ohne die in der BRD einflussreiche Gruppe 47 erfolgreich (vgl. KLG Extrakt: Literatur der Schweiz). Aber wer kennt die deutschsprachigen Autorinnen der Schweiz? Gertrud Leutenegger (*1948 in Schwyz) wurde 1978 von der Jury in Klagenfurt für „Zürich oder Immer wieder ist Atlantis in Gefahr“ mit dem Sonderpreis ausgezeichnet. Zoë Jenny (*1974 in Basel) landete mit ihrem Debütroman „Das Blütenstaubzimmer“ (1997) einen Bestseller im Kontext des sog. literarischen Fräuleinwunders. Aglaja Veteranyi (*1962 in Bukarest, † 2002 in Zürich) war eine Schweizer Schauspielerin und Schriftstellerin, deren Roman „Warum das Kind in der Polenta kocht“ (1999) für einen transkulturellen Diskurs exemplarisch ist und auch fürs Theater adaptiert wurde.

Ruth Schweikert (*1965 in Lörrach, aufgewachsen in Aarau) debütierte beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb und schockte mit expliziten Sexszenen. Von einer ‚Frauenliteratur ̒ als Betroffenheitsliteratur, in der die Protagonistinnen in die Opferrolle gedrängt werden, distanziert sie sich. Anlässlich der Übergabe des Stadtschreiberamtes in Bergen-Enkheim betonte die Jury, Schweikert gehe „mit schonungslosem Blick auf das alltägliche Leben [den] Verwerfungen der Liebe und folgenreichen Entscheidungen nach“ (FAZ, 1.7.2015). Nicht erst ihr Roman „Wie wir älter werden“ (2015) trägt autobiographische Züge. Schweikerts literarische Auseinandersetzung mit ihrer Erkrankung an Brustkrebs ist nach den Tagen einer Woche strukturiert: Der Titel „Tage wie Hunde“ (2019) verdankt sich einer Ausstellung von Camille Henrot, „Days are Dogs“ (2017). Ein Dialog mit anderen Künsten ist Ruth Schweikert wichtig.

Auch die deutsch-jüdische Literatur wird an den Rand gedrängt. Zwar wird ihre Wichtigkeit vor allem im Zusammenhang mit dem Anti­semitismus, der Verfolgung und dem Holocaust meist pflichtschuldig betont, die öffentliche Wirkung bleibt aber, von spektakulären Ausnahmen abgesehen, dahinter zurück. Kafka z.B. ist einer der in der Weltliteratur wichtigsten deutschsprachigen Autoren, dass er aus Prag stammt, also auch Tschechisch sprach und zur jüdischen Gemeinde gehörte, wird meist nachrangig behandelt, wenn es überhaupt beachtet wird. Wie mit anderen Ordnungsmustern (deutsch-türkische Literatur, Migrationsliteratur u.ä) besteht bei der deutsch-jüdischen Literatur die Gefahr der Marginalisierung, die paradoxerweise einhergeht mit dem Versuch, diesen Bereich des literarischen Spektrums sichtbar zu machen. Im Falle der Frauenliteratur potenziert sich das Problem. Gila Lustiger (*1963 in Frankfurt/M., lebt seit 1987 in Paris) hat 2016 den Horst-Bingel-Preis für Literatur bekommen. Ausgezeichnet wurde sie für ihren Essay „Erschütterung − Über den Terror“, für den sie die Situation der Jugendlichen in den Pariser Vororten recherchiert und eindringlich dargestellt hat. Es sind gesellschaftlich brisante Themen, die sie seit ihrem ersten Roman „Die Bestandaufnahme“ (1995), in dem sie das jüdische Schicksal im „Dritten Reich“ behandelt, immer wieder aufgreift.

Einen eigenen Bereich innerhalb der deutschen Literaturgeschichte seit 1945 bildet auch die Literatur aus der DDR. Hier sind bekannte Namen zu verzeichnen. Anna Seghers (1900-1983) etwa, die aus ihrem mexikanischen Exil nach dem Krieg nach Ost-Berlin zurückkehrte. Die Büchnerpreisträgerin von 1947 war langjährige Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR (1952-1978). Für die später als gesamtdeutsche Autorin gefeierte Christa Wolf (1929-2011) war Seghers eine wichtige Bezugsperson. Sarah Kirsch (1935-2013) war die wohl bekannteste Lyrikerin aus der DDR; nach ihren Protesten gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 wurde sie aus der SED und dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen; ein Jahr später konnte sie nach West-Berlin ausreisen. Diese Lebensläufe sprechen von einer engen Verflechtung zwischen Politik und Literatur, die gleichwohl darauf abzielt, eine je individuelle Schreibweise zu realisieren. Auf die Staatsdoktrin des Sozialistischen Realismus ließen sich die Schriftstellerinnen nicht verpflichten. In ihrer Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität wichen sie davon ab; das gilt in besonderem Maße für Irmtraud Morgner (1933-1990), die in feministischer Absicht den Alltag der Frauen mit Phantastik durchmischt.

Ebenfalls aus Chemnitz stammt Angela Krauß (*1950), deren literarische Anfänge noch in die DDR fallen, die aber durch den Ingeborg Bachmann-Preis 1988 größere Bekanntheit erlangte. Schreiben bedeutet für Krauß, „Formen zu finden, für das, was uns widerfährt“, wie sie in einem Gespräch mit Astrid Köhler (2009) erläutert (vgl. http://angelakrauss.de/gespraeche/20-jahre-danach-gespraech-mit-­astrid-koehler-2009.html). In ihrer Frankfurter Poetikvorlesung stellt sich Krauß in die Tradition der Romantik; das erklärt ihre literarische Experimentierfreude und die Bedeutung, die sie der „Liebe als Urphänomen“ zuschreibt. Ihre literarisch verdichteten Texte zeugen von Eigenwilligkeit und davon, dass sie Wissen auf eine andere, nichtdiskursive Art vermitteln. „Wie weiter“ (2006) ist ein spätes Echo auf den Epochenwechsel 1989, den sie bereits in „Die Überfliegerin“ (1995) behandelt hatte. Es ist vor allem die Imagination, die die Autorin vorantreibt, über die Realität hinaus.

Literarisch setzt Alissa Walser (*1961 in Friedrichshafen am Bodensee) auf die kurze Form der Prosa und auf leichte Lesbarkeit. Viele ihrer Erzählungen behandeln die Geschichten junger Frauen unserer Zeit. Demgegenüber spielt ihr bisher einziger Roman „Am Anfang war die Nacht Musik“ (2010) im Jahr 1777 und erzählt von der historisch verbürgten Begegnung der früh erblindeten Musikerin Maria Theresia Paradis mit Anton Messmer. Die Begegnung der Künste mit anderen Formen des Wissens ist für Alissa Walser wichtig, denn sie selbst ist auch Malerin. Das erklärt das intermediale Setting einiger ihrer Geschichten, insbesondere das von ihr entworfene literarische Porträt der impressionistischen Malerin Berthe Morisot (1841-1895). Für das Theater ist in der Walser-Familie die jüngere Tochter, Theresia Walser (*1967), zuständig, deren Stücke ironisch überspitzt Alltagsszenen und -probleme auf die Bühne bringen; so etwa „King Kongs Töchter. Schauspiel in 13 Szenen“ (UA 1998), das von Altenpflegerinnen handelt, die den Tod der Patienten inszenieren – ein satirischer Kommentar zum Pflegenotstand unserer Gesellschaft und eine bitterböse Selbstreflexion des Theaters.

Schlaglichter auf die soziale, politische oder auch ökonomische Situation der Gegenwart – unter besonderer Berücksichtigung geschlechterspezifischer Aspekte – gibt es in allen literarischen Genres: in der Prosa, auf dem Theater und in der Lyrik sowie in verschiedenen aktuellen Hybridformen, wobei deren Reichweite ganz unterschiedlich ausfallen kann. Theatertexte etwa sind auf Inszenierung angewiesen; Wiederaufführungen auch preisgekrönter Gegenwartsstücke sind allerdings eher selten. Monika Rinck (*1969 in Zweibrücken) ist vor allem Lyrikerin, die sich durch sprachliche Experimentierfreude auszeichnet. Durch gemeinsame Projekte mit Liedermachern u.a. Künstlern weiß sie sich Gehör zu verschaffen. In der jungen Poetry-Slam-Szene gilt sie als wichtige, innovative Stimme. Rinck arbeitet außerdem als Dozentin für kreatives Schreiben (u.a. in Leipzig und Wien) sowie als Kuratorin, etwa für „Poetica III“ in Köln (2017) oder den Festivalkongress „Fokus Lyrik“ (2019) in Frankfurt am Main. Dichten allein reicht nicht, man muss auch vermitteln. Das tut Rinck in ihren Poetik-Vorlesungen in Münster (2015) und Göttingen (2019). Außerdem ist sie seit 2017 Vizepräsidentin der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Geschickt versteht sie es, die Macht der Institutionen zu nutzen.

Jenny Erpenbeck (*1967 in Ost-Berlin) debütierte um die Jahrtausendwende, als Volker Hage im „Spiegel“ (11.10.1999) das seitdem sogenannte „Literarische Fräuleinwunder“ ausrief. Ihr kleiner Debütroman „Geschichte vom alten Kind“ (1999) fügt sich nicht so ohne weiteres in die propagierte ‚neue Lust am Erzählen‘. Der Roman „Heimsuchung“ (2008), der die Geschichte Deutschlands am Beispiel eines Grundstücks – einem Haus am Scharmützelsee – erzählt, stieß auf geteilte Kritik. Ihren engagiert kritischen Blick auf Historie und Gesellschaft behält Erpenbeck in ihren weiteren Romanen bei. So thematisiert sie etwa in „Gehen, ging, gegangen“ (2015) das Schicksal eines afrikanischen Geflüchteten, der vergeblich versucht, in Berlin sein Asylrecht geltend zu machen. „Aller Tage Abend“ (2012) erzählt von den möglichen Leben eines ‚halbjüdischen‘ Mädchens, die es hätte haben können, wäre es nicht schon als Säugling gestorben. Auf diese Weise kommt die poetische Macht des Zufalls ins Spiel, die bereits in dem Film „Lola rennt“ (1998; Regie: Tom Tykwer) so viele Zuschauer begeisterte.

Unter dem Titel „Best of Frauen-Kanon“ präsentiert „Der Spiegel“ im August 2018 einen Gegenkanon: diese Frauen sollten Sie heute kennen (vgl. https://www.spiegel.de/fotostrecke/bildungs-kanon-diese-frauen-sollten-sie-kennen-fotostrecke-163276.html). Angeführt wird diese Liste von der Verhaltensforscherin und Tierschützerin Jane Goodall (geb. 1934) gefolgt von Hildegard von Bingen (1098-1179), der Benediktinerin, Äbtissin, Dichterin, Komponistin, Universalgelehrte. Die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek (geb. 1946) steht auf Platz acht und damit vor der Kinderbuchautorin Astrid Lindgren (1907-2002), der Erfinderin von „Pippi Langstrumpf“, „Karlsson auf dem Dach“ und „Ronja Räubertochter“. Danach folgt auf Platz 10 die erfolgreiche Pop-Sängerin Madonna (geb. 1958); die russische Punk-Band Pussy Riot, die mit ihren Aktionen Debatten über Kunst, Religion und Frauenrechte auslöste, besetzt Platz 4. Auch Joanne K. Rowling (geb. 1965), die „Harry Potter“-Erfinderin, schafft es immerhin auf Platz 7 und rangiert damit nach Michelle Obama (geb. 1964), der ehemaligen First Lady der USA. Dieser Frauen-Kanon ist recht divers. Neben weiteren Schauspielerinnen und Sängerinnen gibt es auf Platz 12/12 Alice Guy-Blaché (1873-1968), eine Filmpionierin, die in der frühen Stummfilmzeit große Erfolge feierte.

Der ebenfalls im Sommer 2018 veröffentlichte Bildungskanon in „Die Zeit“ enthält hauptsächlich männlichen Namen. Das veranlasste Autorinnen und Journalistinnen dazu, unter dem Hashtag #DieKanon eine Art Gegenliste mit weiblicher Besetzung zu erarbeiten. Das Vorwort schrieb Sibylle Berg (*1962), eine der meistgelesenen Kolumnistinnen Deutschlands: Dieser Kanon ist weiblich: Deshalb „Die Kanon“ (vgl. https://diekanon.org/). Aufgelistet werden 148 Frauen in vier Kategorien: 1) Wissenschaft, Technik & Forschung; 2) Theorie & Politik; 3) Literatur & Graphic Novel; 4) Kunst. #DieKanon ist also binnendifferenziert und umfangreicher als die Shortlist im „Spiegel“; auffällig ist der internationale und interdisziplinäre Zuschnitt; veröffentlicht wurde diese genderspezifische ‚Gegenliste‘ auf „watson“ und auf „Spiegel online“. Damit ist Bewegung in die sonst eher verkrustete Diskussion gekommen. Martina Wernli von der Goethe-Universität Frankfurt hat im Wintersemester 2019/2020 für ihr Seminar #DieKanon einen Blog eingerichtet, der viele unterschiedliche Facetten des Genderbias im Literatur- und Kulturbetrieb aufgreift (vgl. https://kanonsem.hypotheses.org/uber). Diese zeitgemäße Form der Kommunikation bietet so vielfältige, zum Teil auch überraschende Informationen. Hilfreich ist auch die Verlinkung zu anderen Seiten wie z. B. #frauenzählen: Konzept zu „Gender & Culture“ (http://www.frauenzählen.de/index.html).

Auch das KLG profitiert von der Nutzung neuer Medien, denn die Loseblattsammlung der einzelnen, auf aktualisierende Fortschreibung angelegten Artikel ist mittlerweile als Datenbank verfügbar. KLG Extrakt gibt es konventionell als gedrucktes Buch und als E-Book. „Schriftstellerinnen III“ bietet neuerlich einen Querschnitt durch die deutschsprachige Literatur von Autorinnen nach 1945 und möchte zur weiteren Lektüre der Primärtexte anregen.

Ulrike Vedder

Libuše Moníková

Zu Beginn des Romans „Die Fassade“ (1987) heißt es vom Bildhauer Jan Orten, der die Schlossfassade restauriert: „Von der Anspannung der Augen hat er ein Lidflattern, es ist so unkontrollierbar und unpersönlich, als würde es nicht ihn meinen, sondern eine phylogenetische Fehlentwicklung anzeigen, eine verspätete Antwort auf das schwache Ticken in den siebenschaligen Eiern der Saurierjungen, die ihre Schutzhüllen nicht mehr verlassen konnten; die Panzerung, die Übersicherung des Geleges war der falsche evolutive Weg, die Zukunft gehörte kleinen, beweglichen Arten.“

Dieser Satz gibt – paradigmatisch – eine Reihe von Interessen, Motiven und Elementen der Schreibweise in Moníkovás Texten zu lesen. Durch die eigenwillige Verbindung scheinbar weit auseinander liegender Felder finden Perspektivverschiebungen statt, die, wie das Lidflattern selbst, eine eindeutige Übersicht über die Ordnung der Natur, des Menschen, der Welt nicht mehr erlauben. Sie rücken nämlich Details ins Blickfeld, die sich nicht in die (soziale, symbolische, politische, evolutionäre) Ordnung einfügen, die vielmehr kaum sichtbar sind, peripher, beinah vergessen. Und so heißt es in „Die Fassade“ weiter: „Urechsen, Trilobiten – aus Sympathie für Versteinerungen, für die Sackgassen in der Evolution ritzt Orten ein Kerbtier in den Fries.“

Indem Moníkovás Texte auf unterschiedliche Weise ihren Fokus auf die „Sackgassen“, auf die Behinderungen, die Beschädigungen richten, kommen auch die Bedingungen des ‚Normalen‘ in den Blick. Die Gewalt der ‚Normalität‘ wird dabei nicht nur in ihrer Wirkung auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft beschrieben, sondern auch in ihren Effekten auf die Subjekte, die Sprache und die Kultur- und ‚Real‘-Geschichte. Diese Komplexität macht – unter anderem – die Qualität der Texte aus.

„‚Wieso habe ich es früher so wenig gemerkt?‘“ Ein unbestimmtes „es“ kennzeichnet in der Erzählung „Eine Schädigung“ (1981) das Gefühl der Bedrohung, das von einer anonymen „Verwaltung“ der Stadt ausgeht. Die Studentin Jana nimmt es erst wahr, als sie in einer schockartigen Konkretion dieser Gewalt auf dem Verwaltungsgelände von einem Polizisten vergewaltigt wird. Sie versucht sich zu wehren und erschlägt ihn schließlich mit seinem Knüppel. Eine andere Frau bietet ihr die Fluchtmöglichkeit in eine „Kolonie“ außerhalb der Stadt an, Jana kann sich jedoch nicht entschließen, die Stadt zu verlassen.

Die zunächst nur undeutlich gezeichnete Gewalt manifestiert sich hier im Verhältnis Mann-Frau und wird am weiblichen Körper ausgetragen. Dabei überschneiden sich in der Figur des Polizisten Männlichkeit und Repräsentation der Macht auf untrennbare Weise. Sein Geruch ist das Widerlichste, denn er „imitiert, daß der Polizist ein Mensch ist“, während er Janas Selbstwahrnehmung und -artikulation als Individuum doch gerade zerstört. Die Anonymität seiner namenlosen Gewalt beraubt sie ihrer eigenen „Bezeichnungen für ihren Körper“. Als Jana den Polizisten erschlägt, gibt jeder Schlag ein Wort wieder frei – Begriffe, durch die sie sich benennen kann: „Geschlecht“, „Organe“, „Kopf“. Ihre Gewalt ist kein Ausgleich, sondern der Versuch, ihr eigenes Ich aus der „Kette der Wörter, die aus den Schlägen geflogen kam“, zu rekonstruieren. Dabei geht es nicht, wie in Teilen der ‚Frauenliteratur’ der siebziger und achtziger Jahre, um die Herstellung einer neuen, geheilten Identität, sondern um die Rückerstattung ihres verletzten Körpers im bleibenden Wissen um Gewalt. Folglich wird nicht psychologisiert, vielmehr sucht die Protagonistin Artikulationsräume für ihren Schmerz und ihren Widerstand.

Auf der Suche nach solchen Räumen spielt die Topografie der Stadt eine große Rolle. Die Verwaltungstürme als Ort einer anonymen Gewalt und die Kolonie außerhalb der Stadt als Ort einer flüchtigen Utopie bilden die Begrenzung des Handlungsspielraums, der auch durch den „historischen Rahmen“ der Altstadt und den „Betongürtel der Neubauten“ gesetzt ist. Doch inmitten der bis ins Kleinste gerastert und kartographiert erscheinenden Stadt gibt es Leerstellen, „unauffindbare Plätze“, wo Jana niemandem begegnet. Dort eröffnet sich ihr ein Raum, der nicht schon immer mit fixierten Bedeutungen besetzt ist, sondern in dem die Grenze zwischen Realität und Imagination fließend ist.