Czytaj książkę: «Handbuch der Soziologie»
[1]
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage
Böhlau Verlag ⋅ Wien ⋅ Köln ⋅ Weimar
Verlag Barbara Budrich ⋅ Opladen ⋅ Toronto
facultas.wuv ⋅ Wien
Wilhelm Fink ⋅ Paderborn
A. Francke Verlag ⋅ Tübingen
Haupt Verlag ⋅ Bern
Verlag Julius Klinkhardt ⋅ Bad Heilbrunn
Mohr Siebeck ⋅ Tübingen
Nomos Verlagsgesellschaft ⋅ Baden-Baden
Ernst Reinhardt Verlag ⋅ München ⋅ Basel
Ferdinand Schöningh ⋅ Paderborn
Eugen Ulmer Verlag ⋅ Stuttgart
UVK Verlagsgesellschaft ⋅ Konstanz, mit UVK/Lucius ⋅ München
Vandenhoeck & Ruprecht ⋅ Göttingen ⋅ Bristol
vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich
[2][3]Jörn Lamla/Henning Laux Hartmut Rosa/David Strecker (Hg.)
Handbuch der Soziologie
UVK Verlagsgesellschaft mbH ⋅ Konstanz mit UVK/Lucius ⋅ München
[4]Univ. Prof. Dr. Jörn Lamla, Universität Kassel, Fachgebiet Soziologische Theorie. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Gesellschaftstheorie, Soziologie des Politischen und Ökonomischen, insbesondere Konsumgesellschaft und Demokratie, Privatheit in der Digitalen Welt und Qualitative Internetforschung.
Henning Laux, Dr. phil, wiss. Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Bremen, Leiter des DFG-Projekts »Desynchronisierte Gesellschaft«. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Gesellschaftstheorie, Politische Soziologie, Zeitsoziologie, Wissenschafts- und Technikforschung.
Univ. Prof. Dr. Hartmut Rosa, Lehrstuhl für Allgemeine und Theoretische Soziologie und Sprecher der DFG-geförderten Kollegforschergruppe 1642 »Postwachstumsgesellschaften« an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena; seit Oktober 2013 auch Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt. Forschungsschwerpunkte: Theorien der Moderne, Zeitsoziologie, Kommunitarismus.
David Strecker, Dr. phil., Vertretung der Professur für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Universität Jena; Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Gesellschaftstheorie, Politische Soziologie, Politische Theorie und Ideengeschichte, Politische Philosophie, insbesondere Sklaverei in Vergangenheit und Gegenwart, Macht und Gewalt. Kritische Theorie.
Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2014
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Lektorat: Marit Borcherding, München
Satz und Layout: Claudia Wild, Konstanz
UVK Verlagsgesellschaft mbH
Schützenstr. 24 ⋅ D-78462 Konstanz
Tel.: 07531-9053-0 ⋅ Fax 07531-9053-98
UTB-Band Nr. 8601
ISBN 978-3-8463-8601-9
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
[5]Inhalt
Einleitung
Teil I: Der soziologische Blick
Die historischen Quellen soziologischen Denkens: Aus welchen Traditionen entwickelt sich die Soziologie? (Wolfgang Eßbach)
Wissenschaftstheoretische Positionen: Wie verhält sich die Soziologie zu ihrem Gegenstand? (Georg Kneer)
Die Gabelung zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung: Wie forschen Soziologinnen und Soziologen? (Alexandra Krause/Henning Laux)
Teil II: Grundbegriffe und fundamentale Kontroversen der Soziologie
Natur versus Kultur: Was ist der Gegenstand der Soziologie? (Gesa Lindemann)
Atomismus versus Holismus: Wie entsteht das Soziale? (Ingo Schulz-Schaeffer)
Planung versus Evolution: Wie verändert sich das Soziale? (Uwe Schimank)
Gemeinschaft versus Gesellschaft: In welchen Formen instituiert sich das Soziale? (Lars Gertenbach)
Teil III: Gesellschaftstheoretische Grundpositionen
Strukturfunktionalismus: Talcott Parsons (Axel Honneth/Kristina Lepold)
Theorie sozialer Systeme: Niklas Luhmann (Wolfgang Ludwig Schneider)
Kritische Theorie: Jürgen Habermas (William Outhwaite)
Poststrukturalismus: Michel Foucault (Sina Farzin)
Praxistheorie: Pierre Bourdieu (Robin Celikates)
Theorien rationaler Wahl: James S. Coleman und Hartmut Esser (Clemens Kroneberg)
Theorie der Strukturierung: Anthony Giddens (Jörg Oberthür)
Soziologie der Existenzweisen: Bruno Latour (Henning Laux)
[6]Teil IV: Untersuchungsfelder der Soziologie
Körper, Geschlecht und Sexualität (Paula-Irene Villa)
Sozialisation, Familie und Bildung (Hans-Peter Müller/Erika Alleweldt/Jochen Steinbicker)
Recht, Norm und Sicherheit (Susanne Krasmann)
Wirtschaft, Arbeit und Konsum (Christoph Deutschmann)
Kultur, Medien und Technik (Scott Lash)
Wissen, Sprache und Macht (Sven Opitz/Ute Tellmann)
Nationalstaat, Demokratie und Solidarität (Hauke Brunkhorst)
Prekarität, Achsen der Ungleichheit und Sozialstruktur (Klaus Dörre)
Teil V: Aktuelle Herausforderungen für die Soziologie
Ökologie: Klimawandel, Knappheiten und Transformationen im Anthropozän (Bernd Sommer/Harald Welzer)
Gewalt: Krieg, Terror und Entzivilisierung (David Strecker)
Demographie: Altersstruktur, Mobilität und Multikulturalismus (Stephan Lessenich)
Eskalation der Nebenfolgen: Kosmopolitisierung, Beschleunigung und globale Risikosteigerung (Ulrich Beck/Hartmut Rosa)
Sinnverlust: Religion, Moral und postmoderne Beliebigkeit (Christel Gärtner)
Öffentlichkeit: Soziologie, Zeitdiagnose und Gesellschaftskritik (Jörn Lamla)
Sachregister
Personenregister
[7]Jörn Lamla, Henning Laux, Hartmut Rosa & David Strecker
Einleitung
Das Verfassen von Hand- und Lehrbüchern der Soziologie bietet dem Fach eine gute Gelegenheit, seinen angesammelten Wissensbestand zu bilanzieren, seinen Ort innerhalb der Forschungsund Disziplinen-Landschaft zu bestimmen sowie seine historische Entwicklung und nicht zuletzt seine gesellschaftliche Bedeutung kritisch zu reflektieren. Und wenn es sich – wie im vorliegenden Fall – um das Gemeinschaftswerk einer breiten Autorinnen- und Autorenschaft handelt, ist damit in der Disziplin zudem die Chance kollektiver Selbstverständigung oder Neuversammlung verbunden. Zugleich zeigt dieser Buchtypus eine fortgeschrittene Institutionalisierung des Faches und damit einhergehende Kanonisierung soziologischer Forschungsthemen und Lehrinhalte an, die von Zeit zu Zeit der Überprüfung bedürfen. Gründliche Überarbeitungen oder stetige Erweiterungen der vorhandenen, teils exzellenten Lehr- oder Handbücher bieten dafür die eine Möglichkeit; das Vorlegen eines neuen Vorschlags demgegenüber die andere. Letzteres ist die deutlich freiere Option, ist sie doch erheblich weniger durch die Rücksichtnahme auf einmal entworfene Konzepte, tradierte Schwerpunktsetzungen oder eingespielte theoretische Deutungen gebunden.
Als der Verlag vor einigen Jahren mit dem Anliegen auf uns zukam, einen solchen Prozess einzuleiten, also ein neues Handbuch für das Fach Soziologie zu konzipieren und herauszugeben, sind wir nach eingehender Prüfung zu dem Schluss gekommen, dass sich diese Mühe lohnen könnte, dass durchaus noch Bedarf an einem weiteren Versuch der Systematisierung des soziologischen Wissens- und Forschungsstandes besteht. Zwar sind im vergangenen Jahrzehnt nicht wenige soziologische Hand- und Lehrbücher erschienen, denen es mit verschiedenen Zugängen – über klassische Theorien, exemplarische Schlüsseltexte, spezielle Forschungsfelder oder alphabetische Stichwortsammlungen – durchaus gelungen ist, mehr Übersicht ins Fach zu bringen. Verloren gegangen ist aber der Ansatz, die Soziologie insgesamt, in der ganzen Vielfältigkeit ihrer aktuellen Denk- und Arbeitsweisen, in einem einzigen Buch sichtbar werden zu lassen.
Dem vorliegenden Handbuch der Soziologie liegen der Wunsch und die Idee zugrunde, diese Lücke zu schließen und einen Gesamtüberblick über den gegenwärtigen Forschungsstand des Faches anzubieten, der nicht auf die kanonische Schließung oder die schlichte Verwaltung des breiten Sachverstandes abzielt, sondern darauf, den offenen, lebendigen, darum aber keineswegs konturlosen Charakter soziologischen Denkens und soziologischer Diskussion zu präsentieren. Deshalb haben die Herausgeber dem Handbuch einen konsequent problemorientierten Zugang verordnet. Wir haben die Autorinnen und Autoren gebeten, sich mit zentralen Fragen und Herausforderungen der Disziplin auseinanderzusetzen und jeweils zu den Rändern, den umkämpften Territorien ihrer Fachgebiete oder Forschungsschwerpunkte vorzustoßen. In den ersten Teilen sind deshalb überwiegend Spannungsfelder und Konfliktlinien des soziologischen Diskurses die Grundlage einzelner Kapitel. Für den dritten Teil haben wir eine Vergleichsfolie entwickelt, um die Herausforderungen einer umfassenden Gesellschaftstheorie in allen Beiträgen präsent zu halten. Und die letzten beiden Teilen des Buches bündeln Forschungsfelder und Themencluster, [8]die es unumgänglich machen, einerseits den jeweiligen Forschungsstand zu referieren und zu reflektieren, andererseits aber zugleich die etablierten Sprachspiele einzelner soziologischer Sektionen, Schulen oder epistemischen Zirkel zu problematisieren, wenn nicht sogar zu durchkreuzen. Das Fach soll hier in seiner ganzen Pluralität und Breite zur Sprache kommen und vorgestellt werden. Auf diese Weise glauben wir, der doppelten Zielsetzung dieses Handbuches gerecht zu werden. Denn wir wollen einerseits ein systematisches Überblickswerk für Lehrende und Studierende schaffen und andererseits ein Arbeitsbuch vorlegen, das dazu einlädt, Anschlüssen, Kontroversen und Verbindungslinien zwischen den vielfältigen Themen und Ansätzen nachzugehen, um den Tendenzen einer wachsenden Fragmentierung des Faches entgegen zu wirken.
Die Überlegungen, von denen wir uns dabei haben leiten lassen, möchten wir vorab in knapper Form darlegen. Dies erscheint uns notwendig, weil der Gliederung und Aufteilung des Handbuches Auswahlentscheidungen zugrunde liegen, die naturgemäß immer auch anders möglich gewesen wären. Es gibt gewiss weitere Forschungsthemen oder Theorieparadigmen, die nicht hinreichend gewürdigt werden. Doch ging es uns bei der Anlage dieses Handbuches nicht primär darum, enzyklopädische Vollständigkeit zu erreichen oder absolute Neutralität gegenüber der theoretischen Paradigmenvielfalt zu demonstrieren. Wir wollen vielmehr bewusst ein Statement darüber abgeben, wie wir das Fach Soziologie und seine zentralen Aufgaben, Einsichten, Leistungen und Desiderate gegenwärtig und in naher Zukunft sehen. Für fatal hielten wir es, vor dessen Komplexität und Heterogenität zu kapitulieren und auf jegliche Syntheseansprüche zu verzichten, indem wir uns auf alphabetische Stichwortsammlungen oder ähnlich diskursarme Registraturen der Fachkultur zurückziehen. Keineswegs wird die Soziologie hier aus der Sicht einer bestimmten Theorieschule dargestellt und beobachtet. Die Vielfalt ihrer paradigmatischen Zugänge sehen wir vielmehr als eine wesentliche Stärke dieses Faches an. Ausgehend von ihren verschiedenen Perspektiven und Zugangspunkten bildet aber auch die ungewisse und offene Suche nach ihrer (verlorenen?) Einheit ein Motiv der Beiträge. Diese Ausrichtung gilt bereits für die Gliederung in fünf Hauptteile, denen jeweils bestimmte Orientierungsfragen zugrunde liegen, die aus unserer Sicht für eine gemeinsame Standortbestimmung des Faches leitend sein sollten.
Diese Fragen betreffen zunächst die historischen, wissenschaftstheoretischen und methodologischen Wurzeln und Grundlagen, von denen jegliches soziologische Forschen und Denken seinen Ausgang nimmt und die in ihrer Breite und Vielfalt zu kennen und zu reflektieren wir für ein professionelles Selbstverständnis als unumgänglich erachten (Teil I). Um sodann die Komplexität des Faches systematisch und strukturiert entfalten zu können, erschien es uns sinnvoll, zunächst nach den fundamentalen Kontroversen und grundlegenden Alternativen zu fragen, die sich in der soziologischen Forschung und Diskussion immer wieder zeigen und reproduzieren (Teil II). Vor deren Hintergrund haben sich verschiedene Theorieansätze herausgebildet, die für das multiparadigmatische Bild der heutigen Soziologie verantwortlich sind. Sie verweisen unserer Ansicht nach aber noch immer auf ein gemeinsames Set von Bezugsproblemen, das in seiner Konsequenz auf die Entfaltung eines umfassenden sozial- und gesellschaftstheoretischen Programms hinzielt. Wir haben uns daher für die Auswahl von acht theoretischen Grundpositionen der Soziologie entschieden, die sich in unterschiedlicher Weise, aber jeweils vollständig an der allgemeinen Aufgabenstruktur eines solchen Programms abarbeiten (Teil III). Davon zu unterscheiden sind all jene Forschungen, die überwiegend mit Bereichstheoremen arbeiten und sich um spezielle Sachprobleme und Themenfelder der Soziologie kümmern. Hier haben wir thematische Cluster gebildet, die es den Autorinnen und Autoren einerseits ermöglichen sollten, über die disziplinären Subwelten einzelner Sektionen der Standesorganisation oder traditionsreicher spezieller Soziologien hinaus- und auf spannende Fragen an inner- und interdisziplinären Kreuzungspunkten einzugehen, andererseits sollen auf diesem Wege zugleich neue Kategorien für die kollektive Wissensorganisation [9]im Fach gesucht, gefunden, erprobt und reflektiert werden (Teil IV). Vergleichbare Begriffsfelder haben wir schließlich auch für die Beiträge des letzten Teils formuliert, denen allerdings jeweils eine zentrale aktuelle Herausforderung für die innovative Weiterentwicklung der Soziologie vorangestellt worden ist: Ökologie, Gewalt, Demographie, Nebenfolgeneskalation, Sinnverlust und Öffentlichkeit zeigen als Stichworte unserer Zeit Probleme an, die das Fach Soziologie im 21. Jahrhundert vor ernsthafte Bewährungsproben stellen (Teil V).
Im Folgenden werden wir die orientierungsleitenden Fragen dieser fünf Teile in ihrer Systematik näher ausführen und damit zugleich einen Überblick über den Aufbau des Handbuches und seine 29 Beiträge geben. Den Autorinnen und Autoren, die sich mit viel Energie, Sachverstand, Neugierde und vor allem Geduld an diesem umfangreichen Projekt beteiligt haben, wollen wir an dieser Stelle ganz herzlich danken! Ihre scharfsinnigen Analysen und kompetenten Darstellungen gewähren aus unserer Sicht den Forschenden, Lehrenden, Lernenden und allen an der Soziologie sonst noch interessierten Leserinnen und Lesern einen guten Einstieg und Überblick. Zugleich ermöglichen sie tiefe selektive Einblicke in die Struktur des soziologischen Arbeitens und Wissens, ohne die vorhandenen Differenzen, Kontroversen und Meinungsverschiedenheiten zu verstellen, aber auch ohne Gegensätze und Unterschiede in den Positionen künstlich zu reproduzieren, so als wäre diese Heterogenität und Stimmenvielfalt alles, was Soziologie heute noch zu bieten hat. Dass das Fach Soziologie auch weiterhin von einer beachtlichen Kohärenz in den und hinter den Kontroversen und Gegensätzen geprägt ist, zeigen die Beiträge dieses Bandes unseres Erachtens sehr klar.
1. | Warum Soziologie? |
Die unter der Überschrift »Der soziologische Blick« versammelten Texte im ersten Teil des Handbuches sind so angelegt, dass sie als eine breite und allgemeinverständliche Einführung in die Grundlagen des soziologischen Denkens schlechthin gelesen werden können. Die Fundamente des Faches sind erstens historischer, zweitens wissenschaftstheoretischer und drittens methodologischer Natur, und auch wenn sich diese drei Aspekte nicht immer eindeutig voneinander trennen lassen, erweist es sich doch als hilfreich für das Verständnis des Faches, zunächst danach zu fragen, wie sich die Soziologie als akademische Disziplin historisch herausgebildet und entwickelt hat. Die konsequente Beschäftigung mit den Anfängen soziologischen Denkens und Forschens, d. h. auch mit den praktischen Situationen und gesellschaftlichen Konstellationen, in denen bestimmte soziologische Theorien, Operationsweisen und Lösungsmuster aufgekommen sind, ermöglicht dem Fach, sich bewusst der historischen Kontingenz seiner Problemstellungen und Zugangsweisen zu stellen. Am Beginn einer problemorientierten Rekonstruktion und Darstellung der Soziologie steht die Einsicht, dass sie als Disziplin selbst tiefgreifend in praktische gesellschaftliche Interdependenzen und Zusammenhänge, Krisenwahrnehmungen und Machtverhältnisse verwickelt ist. Doch was kann Soziologie über Gesellschaft wissen, wenn sie selbst nur ein Teil dieser Gesellschaft ist? Was ist die Basis dieses Wissens – und wie wirkt sie auf ihren Gegenstand, die Gesellschaft bzw. das soziale Leben zurück? Es kann als zentrales Motiv und grundlegendes Problem erkenntnistheoretischer Reflexionen innerhalb der Soziologie angesehen werden, an dieser historischen Kontingenz nicht zu verzweifeln, sondern daraus spezifisch sozialwissenschaftliche Tugenden zu machen und systematisch zu entfalten, die ihr dennoch wissenschaftlichen Halt bieten können. Nach der Behandlung dieser ›epistemologischen‹, auf die Bedingungen der Möglichkeit soziologischen Wissens gerichteten Frage geht das Handbuch im dritten Schritt auf die nicht minder komplexe und kontroverse Frage ein, wie, das heißt mit [10]welchen Erkenntnismitteln, Forschungsinstrumenten und Methoden gesichertes oder zumindest legitimierbares soziologisches Wissen schließlich geschaffen werden kann – wie soziologische Forschung also zu betreiben ist. Auf dieser Ebene der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Forschungsmethoden, insbesondere der folgenreichen historischen Gabelung zwischen quantitativer und qualitativer Sozialforschung, wird die Bewahrung der disziplinären Einheit besonders virulent. Die Beschäftigung mit dem Problemfeld der Methodologie ist auch deshalb erforderlich, weil die Wahl der Techniken und methodischen Arbeitsweisen den soziologischen Gegenstand nicht unberührt lässt, sondern folgenreich beeinflusst und formt.
Wolfgang Eßbach hat sich der ersten Frage angenommen. Er rekonstruiert in seinem historisch ausgerichteten Beitrag die soziokulturellen Ereignisse und ideengeschichtlichen Traditionsbestände, aus denen sich die Soziologie im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat und die der mit den »soziologischen Klassikern« assoziierten Gründungsphase des Faches somit noch vorausgehen. Dies wirft ein neues Licht auf die Frage, in welcher Situation die Soziologie entsteht und auf welche Problemlage sie genau reagiert. Der Beitrag informiert zugleich darüber, welche Diskurse und Personen zur Gründung, Etablierung und Weiterentwicklung des Faches beigetragen haben, und auf welche Hindernisse, Widerstände und Veränderungen sie dabei gestoßen sind. Dabei wird ebenfalls sichtbar, welche gesellschaftliche Funktion und Rolle die Soziologie zu übernehmen vermag, mit welchem Anspruch sie auftritt und wie sie sich mit anderen Disziplinen wie der Politikwissenschaft, der Ökonomie, den Naturwissenschaften oder der Sozialphilosophie verbindet oder von ihnen abgrenzt. Besonderes Augenmerk legt Eßbach in diesem Zusammenhang auf die Differenz zwischen ordnungsstabilisierenden und emanzipatorischen, auf einen Gesellschaftswandel abzielenden Kräften. Beide haben großen Einfluss auf die entstehende Soziologie und zeigen, wie tief diese Disziplin in das Machtgefüge der Gesellschaft verflochten ist.
Georg Kneer wendet sich im Anschluss daran dem zweiten Problemkomplex zu, indem er die grundlegenden wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Fragen präsentiert und diskutiert, an denen sich das Fach von seiner Gründungsphase bis heute abarbeitet. Welche Rolle spielt die Soziologie bei der Bestimmung ihres Gegenstandsbereiches? Kann sie ›neutrales‹, objektives Wissen darüber erwerben? In welchem Sinne gibt es Gesellschaft überhaupt, inwiefern gibt es Klassen oder ›die Wirtschaft‹? Entsprechen diesen Begriffen Dinge in der Wirklichkeit, wie es Positionen des Realismus behaupten, oder sind sie das Ergebnis kollektiver sprachlich-symbolischer Konstruktionsprozesse, wie konstruktivistische Positionen nahelegen? Mindestens ebenso virulent ist bis heute die Debatte darüber geblieben, welchen Erklärungsanspruch die Soziologie erheben kann: Vermag sie es, nach dem Vorbild der Naturwissenschaften gesetzmäßige, kausale Erklärungen sozialer Zusammenhänge zu liefern – oder ist sie eher auf hermeneutische Verstehensleistungen ausgerichtet und angewiesen? Ist sie eine erklärende oder eine deutende Wissenschaft? Der Autor schafft die hier geforderte Übersicht durch systematische Gegenüberstellungen und feingliedrige Differenzierungen einer Vielzahl von Beiträgen und Positionen zu den Debatten über die Bedingungen der Möglichkeit soziologischer Erkenntnis- und Wissensgenerierung.
Die epistemologischen Fragen leiten bereits über zu dem Beitrag von Alexandra Krause und Henning Laux, in dessen Fokus die Rekonstruktion der soziologischen Methodenlehre steht. Zentral ist dafür die Gabelung zwischen quantifizierenden und qualifizierenden Forschungsmethoden. Während die ersteren vor allem mit Hilfe statistischer Verfahren und Berechnungen messbare Korrelationen und Zusammenhänge zwischen sozialen Phänomenen zu ergründen suchen, streben die letzteren beispielsweise über narrative oder biographische Interviews oder ethnografische Fallstudien danach, die Sinnstrukturen der sozialen Welt verstehend und deutend zu rekonstruieren. Der Beitrag untersucht aber vor allem, wie und warum es überhaupt zu dieser Aufspaltung der Sozialforschung gekommen ist und auf welchen Prämissen, Überzeugungen und [11]Erkenntniszielen die jeweiligen Positionen beruhen. Ausgehend von dieser Markierung werden einzelne Methoden gegenstandsnah, exemplarisch und knapp vorgestellt und im Hinblick auf Komplementaritäten und Unvereinbarkeiten geprüft. Wie forschen Soziologinnen und Soziologen, welche Techniken haben sie entwickelt, um Daten über die soziale Welt zu sammeln und zu verarbeiten? Abschließend wird gezeigt, wie mithilfe von problemorientierten Triangulationsverfahren bestehende Einseitigkeiten überwunden werden können.
2. | Welche grundlegenden Alternativen bestehen in der Soziologie? |
Eine Möglichkeit, den internen Zusammenhang der verschiedenen methodischen Lager, epistemologischen Grundpositionen und (wissens-)politischen Strömungen der Soziologie darzustellen, besteht in der Rekonstruktion anhaltender Debatten und zentraler Konfliktlinien des Faches. Die großen Fragen, die das soziologische Feld seit vielen Jahrzehnten mit hoher Zuverlässigkeit entzweien, enthalten immer auch Hinweise auf jene Elemente, die in der Zunft Verbindungen stiften, insofern sie gemeinsame Problemhorizonte definieren. Entscheidend für die Konzeption des zweiten Teils war nun, mehrfach anzusetzen und die verschiedenen grundlegenden Problemdimensionen zu identifizieren, entlang derer stets aufs Neue Debatten darüber geführt werden, was die Soziologie im Kern ausmacht und welche alternativen Auffassungen zu dieser Frage bestehen. Diese Debatten drehen sich im Unterschied zu den im ersten Teil präsentierten formalen Zugängen zur Soziologie um solche Probleme, die den »Grundstoff« des Sozialen betreffen und damit Substanzielles darüber auszusagen gestatten, was das Soziale oder Gesellschaft sind und was nicht, woraus beide sich zusammensetzen, was sie dabei zusammenhält und in welcher Weise sie sich verändern. Es sind diese vier Kernfragen, die wir für eine Rekonstruktion der Soziologie aus der Substanz ihrer anhaltenden Kontroversen identifiziert und ausgewählt haben.
Die Texte im zweiten Teil des Handbuches geben dementsprechend einen breiten und allgemeinverständlichen Überblick über die grundbegrifflichen Weichenstellungen, mit denen in der Soziologie auf diese Grundprobleme reagiert worden ist. Anhand von vier binären Gegensatzpaaren werden fundamentale Alternativen soziologischen Denkens beleuchtet, die für die Konstitution des Faches und seine Abgrenzung zu anderen Disziplinen große Bedeutung erlangt haben, die aber auch immer wieder zu internen Reflexionen, Revisionen und Weiterentwicklungen des disziplinären Selbstverständnisses Anlass geben: Natur versus Kultur, Atomismus versus Holismus, Planung versus Evolution und Gemeinschaft versus Gesellschaft. Von Beginn an arbeitet die Soziologie mit solchen analytischen Unterscheidungen, um auf diese Weise die Komplexität des Sozialen handhabbar zu machen und dessen Grenzen zu bestimmen. Liefern solche oder verwandte Dualismen einerseits ein scheinbar stabiles Fundament für Theoriearchitekturen und Forschungsprojekte, so blieben derartige Differenzierungen andererseits doch selten ohne Widerspruch, denn sie definieren in erheblichem Maße mit, wie und worüber geforscht wird, was sagbar ist und was unsichtbar bleibt. Die kritische Inspektion des sozialtheoretischen Grundvokabulars gehört daher zu den ebenso zentralen wie unabschließbaren Aufgaben der Soziologie.
Den Auftakt macht in diesem Teil Gesa Lindemann mit einer kritischen Rekonstruktion des Natur-Kultur-Dualismus. Damit ist die vielleicht fundamentalste, jedenfalls eine lange Zeit eher unstrittige Unterscheidung der Soziologie benannt: Gesellschaft schien sich als kulturell konstituierter Zusammenhang über die bloße Natur zu erheben. Ein solches Verständnis der Soziologie von ihrem Gegenstand kommt in verschiedenen Varianten vor, etwa als normative Unterscheidung und Hierarchisierung von Natur und Kultur oder auch als historische Auffassung von einem [12]mehr oder weniger linearen Zivilisierungsprozess. Die Autorin verfolgt diese Positionen bis zu ihren philosophischen und anthropologischen Wurzeln, wodurch alternative Konzeptionen sichtbar und die scheinbar sichere Grundlage soziologischen Denkens des Sozialen erschüttert werden. Wege zu einer Neukonzeptualisierung der Natur-Kultur-Unterscheidung bahnen aber erst die konsequent methodischen Reflexionen der damit verknüpften Annahmen und Unterstellungen. Der Beitrag legt dar, inwiefern das begrifflich konstituierte Grenzregime in der Gegenwart unter Druck gerät und diskutiert, inwiefern mit Hilfe von Autoren wie Helmuth Plessner, Bruno Latour oder Philippe Descola eine empirisch gehaltvolle Bestimmung sozialer Grenzen möglich wird.
Individuum versus Gesellschaft, Handlung versus Struktur, Mikroversus Makroebene – der Gegensatz von atomistischen und holistischen Betrachtungsweisen, dem der Beitrag von Ingo Schulz-Schaeffer gewidmet ist, kennt in der Soziologie viele Ausprägungen. Diese Oppositionen spiegeln sich in Theorieschulen, methodischen Ansätzen, lebensweltlichen Überzeugungen, Lehrbüchern und sogar in der Denomination soziologischer Lehrstühle, die etwa für Mikrooder Makrosoziologie ausgeschrieben werden. Während der methodologische Individualismus das Soziale ausgehend von seinen kleinsten Atomen, den individuellen Handlungsentwürfen, deutet, geht der methodologische Holismus den umgekehrten Weg und beginnt mit den sozialen Strukturen und Tatbeständen auf der Makroebene. Der Autor beschränkt sich aber nicht auf die Gegenüberstellung der Argumente für die eine oder die andere Seite in diesem Grundlagenstreit, sondern zeigt die vielfältigen Abstufungen und Differenzierungen innerhalb dieser Lager auf, die es gestatten, auch nach Kontinuitäten und Brücken Ausschau zu halten. So behandelt Schulz-Schaeffer in seinem Quervergleich sowohl System- und Handlungstheorie als offensichtliche Gegensätze als auch interaktionistische und praxistheoretische Positionen als weniger eindeutige Ansätze. Abschließend plädiert er für die Zentralstellung eines integrativen Handlungsbegriffs, mit dessen Hilfe Einseitigkeiten von Kategorien wie Kommunikation oder Praxis überwunden und die Alternative zwischen atomistischen und holistischen Auffassungen vom Sozialen empirisch offen gehalten werden könnten.
Richtet man den Blick nicht darauf, was Gesellschaft ist bzw. nicht ist und was sie im Innersten zusammenhält, sondern auf die Frage, wie sie sich verändert und entwickelt, so tritt ein anderes Oppositionspaar in den Mittelpunkt des Interesses, dem Uwe Schimank in seinem Beitrag auf den Grund geht, nämlich die Gegenüberstellung von Planung und Evolution. Hier geht es um die Bestimmung der Motoren oder Triebkräfte des Sozialen. Lässt sich der gesellschaftliche Wandel als Fortschrittsgeschichte beschreiben, welche durch individuelle bzw. kollektive Akteure gestaltet wird? Oder muss die Gesellschaft angesichts der Kriege und Katastrophen in der Moderne als von evolutionären Dynamiken geprägt betrachtet werden? Hat der soziale Wandel eine Richtung oder ist er umkehrbar und zufällig? Welche alternativen oder vermittelnden Positionen gibt es zum Verhältnis von Intentionalität und Transintentionalität des sozialen Wandels in der Soziologie? Sowohl Evolution als auch Planung beschreiben nach Ansicht des Autors unzureichend, wie sich sozialer Wandel in der Moderne konkret vollzieht. Eingespannt zwischen diesen Polen lässt sich aber zeigen, dass sich in der Gesellschaft sukzessive eine Anspruchsreduktion und damit eine Annäherung der Gegensätze durchsetzt. Der Beitrag beschreibt die moderne Gesellschaft als eine Art »Dauerbaustelle«: Angesichts globaler Interdependenzgeflechte und -effekte werden Planungsambitionen sukzessive heruntergeschraubt, ohne es in der Praxis bei bloßer Evolution zu belassen. Die Alternativen sind dann inkrementalistische Gestaltungsansätze, das Hoffen auf Reserven an sozialer Resilienz oder Versuche der institutionellen Sicherung oder Ermöglichung von »guter« Evolution.
Lars Gertenbach schließlich rückt mit seiner Rekonstruktion des (vermeintlichen) Gegensatzes von Gemeinschaft und Gesellschaft eine basale Typologie institutioneller Formen des Sozialen in [13]den Mittelpunkt der Betrachtung, die sich als folgenreich nicht nur für die Disziplin, sondern für die politische Geschichte der Moderne überhaupt erwiesen hat. Dieses Oppositionspaar ist ein gutes Beispiel dafür, dass soziologische Begrifflichkeiten die Wirklichkeiten nicht einfach nur abbilden, sondern in durchaus erheblichem Maße auch mitbestimmen und verändern. In den Debatten, die zur Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft in der Soziologie geführt worden sind, lassen sich interessante Wendungen identifizieren. Steht das Aufeinanderprallen einer als »kalt« empfundenen Gesellschaft mit der vermeintlich »warmen« Gemeinschaft im Anschluss an Ferdinand Tönnies für Versuche, die Soziologie für das Gemeinschaftsdenken einzunehmen, erfährt diese Haltung doch auch deutliche Kritik, etwa in der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners. Durchgesetzt haben sich dagegen dynamische Begriffe von Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung, die sich zudem nicht nur als Gegensatz, sondern – wie Gertenbach exemplarisch an der Theorie der Liminalität des Ethnologen Victor Turner zeigt – ebenso als sequenzielle Phasen der Institutionalisierung des Sozialen auffassen lassen. Fragen der Verschränkung von Gemeinschaft und Gesellschaft beschäftigen die Soziologie bis heute in Debatten über Kommunitarismus und Liberalismus oder in zeitdiagnostischen Analysen post-traditionaler Vergemeinschaftung.