Grundwissen Psychisch Kranke

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Grundwissen Psychisch Kranke
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Grundwissen Psychisch Kranke

ISBN 978-3-86676-653-2

Clemens Lorei & Frank Hallenberger (Hrsg.)

Grundwissen Psychisch Kranke

ISBN 978-3-86676-653-2


Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner enthaltenen Teile inkl. Tabellen und Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Vervielfältigung auf fotomechanischem oder elektronischem Wege und die Einspeicherung in Datenverarbeitungsanlagen sind nicht gestattet. Kein Teil dieses Werkes darf außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ohne schriftliche Genehmigung in irgendeiner Form reproduziert, kopiert, übertragen oder eingespeichert werden.

© Urheberrecht und Copyright: 2016 Verlag für Polizeiwissenschaft,

Prof. Dr. Clemens Lorei, Frankfurt

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

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Alle Rechte vorbehalten.

Verlag für Polizeiwissenschaft, Prof. Dr. Clemens Lorei

Eschersheimer Landstraße 508 • 60433 Frankfurt

Telefon/Telefax 0 69/51 37 54 • verlag@polizeiwissenschaft.de

www.polizeiwissenschaft.de

Vorwort

Liebe Leser,

Die Polizei hat im Einsatz mit allen Bevölkerungsschichten und Gruppen zu tun. Dabei stellt der Umgang und die Arbeit mit Menschen mit unterschiedlichsten Persönlichkeiten und aus verschiedensten Kulturen ein Herausforderung dar. Noch anspruchsvoller wird die Polizeiarbeit aber dann, wenn diese Personen durch eine psychische Erkrankung in ihrem Verhalten und Erleben nochmals deutlich von dem „normalen“ Spektrum abweichen. Dies ist im Berufsalltag eines Polizeibeamten keine Seltenheit. Regelmäßig haben Polizisten Kontakt mit Menschen, die an einer psychischen Störung leiden. Diese Störungen können akut, beispielsweise aufgrund von Drogenkonsum bzw. -entzug oder Überforderung, auftreten, oder chronisch sein, wie z. B. als Ausprägung einer Krankheit. Um adäquat auf diese Menschen reagieren und professionell mit ihnen interagieren zu können, ist ein grundlegendes Wissen über psychische Problematiken.

Das Buch „Grundwissen psychisch Kranke“ verfolgt das Ziel, elementares Wissen zum Thema Psychische Störungen vor allem für die Polizei in Aus- und Fortbildung zur Verfügung zu stellen. Dabei richtet es sich in erster Linie an Polizeibeamte und an andere Einsatzkräfte. Die Beiträge sollen dazu dienen, nützliche und wissenschaftlich fundierte Kenntnisse zu vermitteln. Neben den wichtigsten Störungsformen werden auch Aspekte dargestellt, die für Polizeibeamte im Einsatz von besonderer Relevanz sind. Abgerundet wird dies durch einen Überblick über verschiedene Therapiemöglichkeiten.

Die Autoren sind renommierte polizeiinterne Experten und externe Wissenschaftler, die sich mit der Polizei und ihrem Handeln beschäftigen Wir danken allen für ihre Bereitschaft und ihr Engagement, die das Entstehen dieses Buches ermöglicht haben.

Da sich Arbeit, Gesellschaft, Technik und Zeit verändern, werden sowohl die wissenschaftlichen Erkenntnisse als auch die praktischen Anwendungsbereiche weiterentwickelt, ergänzt und aktualisiert. Ebensolches soll auch diesem Lehrwerk widerfahren. Die Herausgeber freuen sich deshalb auf Kommentare, Bemerkungen und Anregungen an grundwissen@polizeiwissenschaft.de.

Wir wünschen den Polizeipraktikern unter den Lesern, dass sie die Inhalte des Buches erfolgreich für ihr Handeln nutzen können. Den Lehrenden und Trainern mögen die Inhalte Erinnerung und Unterstützung bei ihrer Arbeit sein sowie vielleicht auch Ergänzungen und Anregungen zu bestehendem Wissen liefern.

Prof. Dr. Clemens Lorei

Hessische Hochschule für Polizei und Verwaltung

Dr. Frank Hallenberger

Hochschule der PolizeiRheinland-Pfalz

Wir danken allen Autoren, die mit ihrer Bereitschaft und ihrem Engagement zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben.

Inhaltsverzeichnis

Störungsformen

Angststörungen

Rolf Meermann, Eberhard Okon

Persönlichkeitsstörungen

Jürgen Horn

Sexuelle Deviationen

Dietrich Hülschen

Affektive Störungen

Larissa Wolkenstein, Martin Hautzinger

Schizophrenie

Alexander Jatzko

Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen

Monika Vogelgesang

Pathologisches Glücksspielen und pathologischer PC-/Internetgebrauch

Monika Vogelgesang

Störungen im Alter

Larissa Wolkenstein & Martin Hautzinger

Familien- und Interaktionsprobleme

Marcel Schär, Sven Sutter, Guy Bodenmann

Besondere Aspekte psychischer Störungen

Suizidalität

Thomas Bronisch

Gewalttätigkeit bei psychisch Kranken

Norbert Nedopil

Umgang mit psychisch Kranken

Hans Peter Schmalzl, Knut Latscha

Formen der Psychotherapie

Formen der Psychotherapie

Jürgen Kriz

Angststörungen

Rolf Meermanna) & Eberhard Okonb)

a) Prof. Dr. med. Dipl.-Psych., AHG Psychosomatische Klinik Bad Pyrmont

b) Dipl.-Psych., AHG Psychosomatische Klinik Bad Pyrmont

Einleitung

Angsterkrankungen gehören zu den sehr häufigen psychischen Störungen. Dabei verbirgt sich hinter dem Begriff „Angsterkrankung“ eine Vielzahl unterschiedlicher Störungsbilder, die sich unterteilen lassen nach situations- oder auslöserbezogenen Ängsten und Ängsten, die nicht auf bestimmte Umgebungssituationen und bestimmte Auslöser begrenzt sind. Gemeinsam ist allen Angsterkrankungen, dass mehr oder weniger starke körperliche Symptome auftreten wie Zittern, Schwitzen, Herzrasen, Atemstörungen (besonders Hyperventilationen) und dass alle Angstpatienten dazu neigen, sich mit fortschreitender Erkrankungsdauer aus vielen Aktivitäten des Alltags zurückzuziehen (sog. Flucht- oder Vermeidungsverhalten). Auch wenn jeder Mensch die beschriebenen Symptome in schwächerer Form kennt, sind diese bei Angstpatienten so stark ausgeprägt, dass die „Lebenstüchtigkeit“ stark eingeschränkt ist.

Grundsätzlich unterscheidet man folgende Angsterkrankungen:

1) Situations- und auslöserbezogene Ängste (d. h., man kann bei entsprechenden Angstpatienten mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagen, in welchen Situationen eine Angstreaktion erfolgt oder nicht)

• Agoraphobie mit/ohne Panikstörung

• Spezifische Phobie

• Soziale Phobie

2) Ängste ohne spezifische situationale Auslöser

• Panikstörung

• Generalisierte Angststörung

3) Sonderformen angstverwandter Erkrankungen

• Zwangsstörung mit Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen

• Posttraumatische Belastungsstörung

Beschreibung der verschiedenen Angsterkrankungen

Die folgenden Beschreibungen der einzelnen Störungsbilder folgen der sogenannten International Classification of Disease (ICD)1, deutsche Bezeichnung: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. Dabei handelt es sich um ein weltweites Diagnoseklassifikations- und Verschlüsselungssystem in der Medizin, welches von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben und regelmäßig aktualisiert und überarbeitet wird. Die aktuelle Ausgabe datiert aus dem Jahr 2008 und stellt die insgesamt 10. Revision dar; folglich spricht man von der ICD-10. Alle psychischen Störungen sind in der ICD-10 im 5. Kapitel beschrieben und haben hier eine entsprechende Nummer, die bei der folgenden Beschreibung der Vollständigkeit halber mit aufgeführt wird.

Situations- und auslöserbezogene Ängste

Agoraphobie mit/ohne Panikstörung (ICD-10: F40.0)

Die Agoraphobie gehört zu den Ängsten, die situations- oder auslöserbezogen hervorgerufen werden. Angstauslösende Situationen sind vor allen Dingen:

• Menschenmengen

 

• Öffentliche Plätze

• Reisen in Zügen, Bussen, Pkws

• (Längere oder weite) Abwesenheit von zu Hause oder anderen sicheren Orten

Dabei ist Hauptbestimmungsmerkmal der Agoraphobie die Sorge des Betroffenen, sich den genannten Orten/Situationen im Falle des Auftretens einer Angstreaktion nicht rechtzeitig durch Flucht entziehen zu können oder keine Hilfe zu finden. Es erfolgt eine Reaktion mit ausgeprägten vegetativen Symptomen (Schwitzen, Zittern, Mundtrockenheit), Symptomen im Bereich des Brustkorbs (Atemnot, Hyperventilation) oder des Verdauungstraktes (Stuhl- und Harndrang) sowie typischen psychischen Symptomen wie Schwindel, Unsicherheit, Schwäche, Gefühlen des „im falschen Film Seins“ sowie einer ausgeprägten Angst vor einem Kontrollverlust in der Situation. Erfahrungen mit den genannten Symptomen in angstauslösenden Situationen führen oft dazu, dass entsprechende Situationen gar nicht mehr aufgesucht werden, sondern im Vorfeld direkt vermieden werden. Werden solche Situationen aus verschiedenen Gründen doch aufgesucht, „tricksen“ sich die entsprechenden Menschen in der Regel

mit großer ängstlich-getönter Anspannung und entsprechenden Belastungsgefühlen durch die Situation. In sehr gravierenden Fällen kann dieses Vermeidungsverhalten zu massiven Beeinträchtigungen der Alltagstauglichkeit führen; bei einer chronischen Krankheitsentwicklung kann es im Extremfall dazu führen, dass die Betroffenen seit vielen Jahren überhaupt keine Angstreaktion im eigentlichen Sinne mehr erlebt haben, weil sie sich vollkommen aus dem sozialen Leben und aus Alltagsaktivitäten zurückgezogen haben.

Spezifische Phobie (ICD-10: F40.2)

Auch die spezifische Phobie gehört zu den Ängsten mit situations- oder auslöserbezogenen Angstreaktionen, wobei im Gegensatz zur Agoraphobie die Ängste in fest umschriebenen Situationen auftreten und sich als eine ausgeprägte und anhaltende Angst vor diesen klar erkennbaren Situationen und/oder Objekten äußern. Auch hier kann das Auftreten einer Angstreaktion bei Konfrontation mit dem auslösenden Reiz in aller Regel mit sehr großer Sicherheit vorhergesagt werden. Typische Auslöser für spezifische Phobien können sein:

• verschiedene Tiere (Spinnenphobie, Hundephobie, Schlangenphobie)

• Fahrstühle

• Tunnel

• Flugzeug

• Spritzen/Injektionen (Zahnarztphobie, Spritzenphobie)

Im Gegensatz zur Agoraphobie, die bei längerem Verlauf fast immer zu einer massiven Beeinträchtigung der sozialen Funktionstüchtigkeit führt, ist die Auswirkung der spezifischen Phobie auf das soziale Funktionieren sehr abhängig vom auslösenden Reiz.

So kann z. B. eine Zahnarztphobie oder eine Spritzenphobie auf Dauer zu sehr massiven gesundheitlichen Problemen führen, wenn notwendige Behandlungen unterbleiben. Ein ausgeprägter Schlangenphobiker aber etwa, der in einem Büro in einer Großstadt arbeitet, kann mit seiner Phobie in aller Regel recht gut leben, während diese Schlangenphobie aber z. B. bei einem Tierpfleger durchaus gravierende berufliche Folgen haben kann. Allerdings neigen Angsterkrankungen zur sog. Generalisierung, d. h. Ängste, die vielleicht noch in einem überschaubaren Umfang entstanden sind, dehnen sich bei Nichtbehandlung auf immer mehr Situationen aus.

Exkurs

„Seltene Phobien“

Die Anzahl möglicher spezifischer Phobien kann nur geschätzt werden. Wer im Internet per Suchmaschine nach dem Wort „Phobie“ recherchiert, bekommt eine Auswahl von mehreren hundert „Phobien“ (Beispiele einer Recherche vom 28.11.2011):

• Ablutophobie – Angst vor dem Waschen und Baden

• Bogyphobie – Angst vor Bogys (Golfbegriff, auch aus dem Englischen bogy = Schreckgespenst)

• Musicophobie – Angst vor Musik

• Novercaphobie – Angst vor der Stiefmutter

Diese Begriffe stammen aber sehr oft nicht aus der wissenschaftlichen Fachliteratur. Vielmehr scheinen hier Einzelfallbeschreibungen eine wichtige Rolle zu spielen, wobei sich sehr spezifische Phobien oft unter die „seriösen“ Diagnosen subsumieren lassen. Andererseits widersprechen aber auch manche Phobien in ihrer Begrifflichkeit den wissenschaftlichen Modellen zur Entstehung von Angsterkrankungen. Und wiederum manche Phobien sollen wohl eher eine Abneigung oder Lustlosigkeit ausdrücken und nicht eine doch gravierende Erkrankung.

Also: Wer Spaß hat, lustige Worte zu bilden, kann sich an solchen Phobienamen erfreuen; in der seriösen Psychiatrie/ Psychotherapie ist das mit Vorsicht zu genießen.

Soziale Phobie (ICD-10: F 40.1)

Bei der sozialen Phobie handelt es sich um eine Angst, die sich am ehesten beschreiben lässt als eine Sorge vor der Bewertung durch andere Menschen, dies meist bei sozialen Kontakten in kleineren Gruppen oder im Einzelkontakt. Diese Sorge dürfte allen Menschen bekannt sein; auch hier gilt aber, dass bei Vorliegen einer sozialen Phobie das private und/oder berufliche Funktionieren massiv beeinträchtigt ist. Menschen mit einer sozialen Phobie vermeiden häufig entsprechende soziale Situationen. Auswirkungen der sozialen Phobie mit negativen Folgen können etwa sein, dass nicht vor einer Gruppe geredet werden kann oder dass Hemmungen bestehen, etwa Gespräche mit Vorgesetzten oder anderen Autoritätspersonen zu führen. In diesen Fällen kommt es oft zu einer vollkommenen Vernachlässigung von entsprechenden Verpflichtungen. Manchmal zeigt sich aber eine soziale Phobie auch darin, dass entsprechende Patienten sich nicht trauen, in Gemeinschaft zu essen.

Auch für die soziale Phobie gilt, dass bei entsprechenden auslösenden Situationen zum Teil heftige Körperreaktionen, wie bei der Agoraphobie beschrieben, auftreten können; im fortgeschrittenen Krankheitsverlauf zeigt sich dann meist auch ein umfassendes Vermeidungsverhalten. Die soziale Phobie zeichnet sich auch durch starke Angstreaktionen aus, wobei die Übergänge etwa zu mangelndem Selbstbewusstsein, selbstunsicheren Persönlichkeitsstrukturen oder dem, was umgangssprachlich als Schüchternheit bezeichnet wird, sehr oft fließend und im Einzelfall nicht immer deutlich abgrenzbar sind.

Ängste ohne spezifische situationale Auslöser

Panikstörung (ICD-10: F 41.0)

Die Panikstörung ist eine Angst, die durch immer wiederkehrende, oft sehr schwere Angstattacken gekennzeichnet ist; diese treten aus Sicht des Betroffenen häufig aus heiterem Himmel auf und sind meistens nicht an spezielle Situationen und/oder Umstände gebunden. Dies macht häufig auch den Leidensdruck für die Patienten aus, da das Auftreten einer Panikattacke in aller Regel nicht vorhergesagt werden kann und damit auch durch Vermeidungsverhalten (wie bei der Agoraphobie beschrieben) keine Angstvermeidung oder Angstreduktion erreicht werden kann. Vielmehr kann die Panikattacke in jeder Situation plötzlich und überfallartig auftreten. Dabei zeichnet sie sich durch eine erhebliche körperliche Symptomatik aus, bis hin zu Gefühlen, einen Schlaganfall oder Herzinfarkt zu erleiden und in dieser Situation zu sterben. Die Panikattacke kann tatsächlich zu Zusammenbrüchen oder auch zum Einnässen oder Einkoten führen. Da die Panikattacke keine Situationsbezogenheit aufweist, findet auch kein Vermeidungsverhalten statt; allerdings verlieren Panikpatienten das Vertrauen in ihre eigene Funktionstüchtigkeit und in die Funktionstüchtigkeit des eigenen Körpers, sodass sie sich insgesamt „aus dem Leben zurückziehen“ und somit ein umfassendes, sogenanntes sekundäres Vermeidungsverhalten ausbilden. Im Gegensatz zum Vermeidungsverhalten bei der Agoraphobie, der sozialen Phobie und der spezifischen Phobie verhindert allerdings dieses sekundäre Vermeidungsverhalten nicht das mögliche Auftreten einer Panikattacke, etwa auf dem heimischen Sofa.

Die Panikstörung kann alleine auftreten, häufig aber auch in Verbindung mit einer Agoraphobie.

Generalisierte Angststörung (ICD-10: F 41.1)

Die generalisierte Angststörung zeigt sich darin, dass über viele oder fast alle Lebensbereiche eine anhaltende Angst vorliegt, die nicht auf bestimmte Stimuli beschränkt ist. Es zeigen sich sehr unterschiedliche Symptome wie Nervosität, ständiges Zittern, Muskelanspannungen, ständiges Schwitzen, Schwindelgefühle, Magen-/Darmbeschwerden. Gemeinsames grundlegendes Merkmal der generalisierten Angststörung ist eine ausgeprägte Tendenz, sich um alles und jeden Sorgen zu machen oder ständige Vorahnungen zu haben bezüglich bevorstehender schlimmer Ereignisse. Ein konkretes Beispiel wäre ein Mensch, der im Wohnzimmer sitzt und draußen das Martinshorn eines Einsatzwagens der Polizei, Feuerwehr oder des Notarztes hört und sofort in eine ausgeprägte Angst und Sorge ausbricht, dass einem seiner Angehörigen jetzt etwas passiert ist. Die generalisierte Angststörung weist viele Ähnlichkeiten mit verschiedenen Formen der depressiven Erkrankungen auf. Was sie von der Depression unterscheidet ist die Tatsache, dass Patienten mit generalisierter Angststörung häufig keinen Verlust bestehender Lebensfunktionen wie Antrieb, Appetit oder Schlaf aufweisen.

Sonderformen angstverwandter Erkrankungen

Zwangsstörung (Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen) (ICD-10: F 42)

Die Zwangsstörungen gehören nicht zu den Angststörungen im engeren Sinne; vielmehr zeichnen sich Zwangsstörungen dadurch aus, dass daran erkrankte Patienten häufig immer wiederkehrende Zwangsgedanken mit gewalttätigen oder obszönen Inhalten haben oder ritualisierte Zwangshandlungen (übermäßiges Kontrollieren von Türklinken oder Elektrogeräten, übermäßiges Duschen und Händewaschen) ausführen. Hinter diesen Zwangshandlungen und Zwangsgedanken stehen aber in der Regel Sorgen, Ängste und Befürchtungen, dass bei Unterbleiben gefährliche, unangenehme oder peinliche Ereignisse auftreten könnten. So hat der Patient mit Waschzwängen häufig eine große Angst davor, dass bei Unterbleiben verschiedener Wasch- und Reinigungsrituale eine Ansteckung mit gefährlichen und lebensbedrohlichen Erkrankungen eintritt; der Kontrollzwangspatient hat Ängste vor dem Eintreten von Unfällen, Diebstählen oder ähnlichem.

Im Gegensatz zu den situationsbezogenen Ängsten, die oft auf eine aktuelle oder kurz bevorstehende konkrete Situation gerichtet sind, sind Zwangshandlungen und Zwangsgedanken häufig auf manchmal weit in der Zukunft liegende Ereignisse mit statistisch gesehen niedriger Auftretenswahrscheinlichkeit gerichtet. Falls ein entsprechender Patient sein Zwangsritual nicht ausüben kann, kommt es aber trotzdem zu ausgeprägten körperlichen Reaktionen, wie es auch bei oben beschriebenen Ängsten der Fall ist.

Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1)

Ebenfalls einen Sonderfall nimmt die „Posttraumatische Belastungsstörung“ (häufig findet man auch die Abkürzungen PTBS oder nach der englischen Bezeichnung Posttraumatic Stress Disorder: PTSD) ein, die nach der ICD-10 nicht zur Gruppe der Angststörungen gehört, sondern zu den sogenannten „Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen“. Neben der ICD-10 gibt es noch ein weiteres, insbesondere für psychiatrische Erkrankungen wichtiges Diagnosemanual, das „Diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen“ (DSM-IV)2. In diesem wird die posttraumatische Belastungsstörung zu den Angststörungen gezählt. Von der Symptomatik der posttraumatischen Belastungsstörung zeigt sich in der Tat eine gewisse Ähnlichkeit zu den verschiedenen Angststörungen. So leiden Patienten mit PTBS auch unter einem erhöhten psychophysiologischen Erregungsniveau, sind häufig angespannt und zeigen ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten vor schwierigen Situationen. Zusätzlich finden sich Alpträume und hartnäckige, nicht zu stoppende Erinnerungsattacken an das auslösende Ereignis. Wichtigster Unterschied der PTBS zu den Angststörungen ist jedoch, dass für die posttraumatische Belastungsstörung als diagnostisches Kriterium zwingend gefordert ist, dass ein traumatisierendes Ereignis von außergewöhnlichem Schweregrad (tatsächliche Bedrohung von Leben oder Gesundheit) vorhanden ist. Nur wenn ein solches auslösendes und traumatisierendes Ereignis mit dem entsprechenden Schweregrad vorliegt, kann von einer posttraumatischen Belastungsstörung gesprochen werden; bei Angststörungen kann, muss es aber in der weitaus größten Zahl der Fälle nicht zu einem auslösenden Ereignis gekommen sein. Auch die posttraumatische Belastungsstörung lässt sich verhaltenstherapeutisch gut behandeln.3

 

Epidemiologie und Komorbidität

Häufigkeit von Angsterkrankungen

Generell gehören Angststörungen zu den häufigsten seelischen Erkrankungen; je nach Studie wird für sämtliche Formen der Angsterkrankungen von einer sogenannten Lebenszeitprävalenz (d. h. wie viele Menschen erkranken im Laufe ihres Lebens zumindest einmal an einer Angsterkrankung) zwischen knapp 14 und knapp 25 % ausgegangen4 (Bandelow 2001); dies bedeutet, dass jeder Vierte bis Siebte einmal in seinem Leben an einer Angststörung leiden wird.

„Die Agoraphobie weist eine Lebenszeitprävalenz nach Schneider und Markgraf (1998)5 von knapp 6 %, die Panikstörung von 2,4 % auf.

Die spezifischen Phobien kommen nach Perkonigg & Wittchen (1995)6 auf Häufigkeiten zwischen 4,5 und 11 %, die soziale Phobie zwischen 11 und 16 %.

Komorbidität

Nach Wittchen (1991)7 leiden Angstpatienten häufig meist zusätzlich unter Depressionen und vor allen Dingen unter Medikamenten- und Alkoholabusus. Alkoholmissbrauch ist eine der häufigsten Komorbiditäten und oft Folge eines sogenannten inadäquaten Selbstheilungsversuchs. Zu diesem kommt es, wenn Menschen mit Ängsten die damit verbundene körperliche Anspannung, aus diesen möglicherweise resultierende Schlafstörungen oder für sie schwierige z. B. soziale Situationen mit Alkohol besser aushalten können. Aus einzelnen so bewältigten Situationen kann die Erfahrung entstehen „Mit Alkohol komme ich besser klar!“. Dies kann dann vom chronischen Missbrauch bis hin zur Alkoholabhängigkeit führen. Das Gesagte gilt gleichermaßen für die regelmäßige Einnahme von Beruhigungsmitteln (Tranquilizer).

Zur Entstehung von Ängsten

Warum manche Menschen im Laufe ihres Lebens eine Angststörung entwickeln, ist nicht immer erklärbar. Während man zu Beginn der Angstforschung Anfang letzten Jahrhunderts noch häufig annahm, dass Ängste durch negative Erfahrungen hervorgerufen werden, ließ sich das im weiteren Fortschritt der wissenschaftlichen Erforschung nicht halten. Angstpatienten haben nur in den allerseltensten Fällen zu Beginn ihrer Erkrankung ein negatives Erlebnis, das in einem Zusammenhang mit der Angstreaktion steht. Dieses Modell trifft am ehesten noch zu bei der Entstehung von spezifischen Phobien, z. B. wenn jemand mit einer Hundephobie von einem Hund gebissen wurde. Dieses Modell nennt sich klassische Konditionierung und geht zurück auf Experimente von Watson & Rayner (1920).8

Eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Ängsten spielt das sogenannte Modelllernen. Ängstliche Eltern haben eine größere Wahrscheinlichkeit, auch ängstliche Kinder zu bekommen, da sich die Kinder die Sorgen und Befürchtungen der Eltern zu eigen machen.

Das Modelllernen spielt auch im Erwachsenenalter eine wichtige Rolle; so werden junge Polizisten, die mit erfahreneren, aber ängstlichen Kollegen in bestimmte Einsatzlagen gehen, mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit diese Ängste übernehmen und im weiteren Berufsleben hier möglicherweise unsicherer oder – positiv formuliert – vorsichtiger sein, als wenn sie Kollegen gehabt hätten, die nicht ängstlich reagieren.

Heute weiß man, dass Bewertungs- und Interpretationsprozesse bei Angstpatienten eine sehr wichtige Rolle spielen; hier ist die sogenannte transaktionelle Stresstheorie nach Lazarus (1966)9 von Bedeutung, wobei diese sich auch für andere Beschwerden, wie z. B. übermäßige Stressreaktionen, als Erklärungsmodell bewährt hat.

Kurz gefasst beschreibt dieses Modell die Rolle von Bewertungen und Einschätzungen einer bedrohlichen Situation, wobei Menschen bei potenziell bedrohlichen Situationen immer zwei aufeinanderfolgende Bewertungsprozesse durchführen:

In einem ersten Schritt wird eine Situation als möglicherweise bedrohlich eingeschätzt.

In einem zweiten Schritt werden dann die eigenen möglichen Bewältigungsfertigkeiten für eine solche gefährliche Situation bewertet.

Führt dann letztendlich die Kombination beider Bewertungsschritte (die Situation ist gefährlich und ich habe ihr nichts entgegenzusetzen) zu einer insgesamt pessimistischen Einschätzung, kann es zu Stress- und Angstreaktionen kommen.

Da sich bei Angstreaktionen immer eine starke psychophysiologische Reaktion zeigt (also Herz-, Kreislaufsymptome, Schwitzen, Schwindel, Verdauungsprobleme), kommt es in der Regel auch immer zu einem positiven Rückkopplungsprozess, in dem die ausgeprägten körperlichen Symptome angstfördernd wirken und die negativen und nicht bewältigungsorientierten Gedanken im Sinne eines Teufelskreises verstärken. So kommt es zu einem kontinuierlichen Aufschaukelungsprozess, der sich im sogenannten „Teufelskreis der Angst“ wiederfindet.

Abbildung 1


Aus Sicht der Autoren ist die fehlende letztendliche Klärung, wie es denn jetzt zum Ausbilden einer Angststörung kommt, wissenschaftlich sicherlich unbefriedigend; für die Behandlung und den Umgang mit Ängsten spielt es aber keine entscheidende Rolle, ob in der einzelnen Biographie auslösende Ereignisse identifiziert werden können oder nicht.

Maßgeblich für die Aufrechterhaltung einer einmal entstandenen Angststörung ist aber sicherlich das zum Teil ausgeprägte Vermeidungsverhalten, das sich dadurch zeigt, dass Angstbetroffene sich im Laufe ihres Lebens immer mehr angstauslösenden und irgendwann vielleicht auch nur potenziell angstauslösenden Situationen fernhalten und sich so die Angst in immer mehr Lebensbereiche ausdehnt. Das Vermeidungsverhalten führt letztendlich dazu, dass Patienten überhaupt keine positiven Erfahrungen mehr machen oder sich mit ihren Angstgedanken konfrontativ auseinandersetzen, sodass die Angst quasi als nicht mehr zu hinterfragendes Symptom resignativ hingenommen wird. So bildet sich über die Jahre ein umfassendes Schon- und Vermeidungsverhalten heraus, das die Alltagstauglichkeit deutlich einschränkt und irgendwann nicht mehr nur auf die eigentlichen Angstsituationen beschränkt ist, sondern sich auch fortsetzt in der Vermeidung etwa von beruflichen oder privaten Konfliktsituationen, in der mangelnden Bewältigung von schwierigen Lebensumständen, bis hin zum Auftreten einer depressiven Begleiterkrankung, weil Alltagsaktivitäten komplett eingestellt werden.

Hinter Menschen, die sich immer mehr zurückziehen, die sich nichts mehr zutrauen, die Angst haben etwa berufliche Konflikte mit Kollegen oder Vorgesetzten auszudiskutieren, kann sich also auch immer eine Angsterkrankung verbergen.

Gesundheitliche Komplikationen durch Angsterkrankungen

Unabhängig von der Ausprägung der einzelnen Angsterkrankung und der tatsächlich gestellten Diagnose sind zwei Komplikationen bei Angsterkrankungen erwähnenswert, die beim Umgang mit Menschen mit Ängsten zumindest im Hinterkopf als Option berücksichtigt werden sollten.

Zum einen neigen Angstpatienten insbesondere aufgrund der starken psychophysiologischen Begleitsymptomatik von Ängsten und einem damit ständig erhöhten Erregungsniveau (umgangssprachlich: „immer unter Strom stehen“) zu Suchtverhalten. Kritischer Alkoholkonsum zur präventiven Beruhigung, zur Regulation von erhöhten Erregungszuständen oder als Einschlafhilfe ist häufig und kann in der klinischen Bandbreite von einem sogenannten inadäquaten Selbstheilungsversuch bis hin zu manifesten Suchterkrankungen führen. Insbesondere sind hier Phänomene des Erleichterungstrinkens, aber auch des Mutantrinkens zu nennen.

Gleiches gilt für die Einnahme von Benzodiazepinen, also Beruhigungsmitteln, deren Gebrauch in kurzzeitigen vorübergehenden Belastungssituationen sicherlich indiziert ist, die aber häufig nach regelmäßiger längerer Einnahme (im Einzelfall durchaus auch schon nach 2 - 3 Wochen) zur Abhängigkeit führen können. Benzodiazepine gelten als stark angstreduzierend und schnell wirksam, brauchen aber im Laufe der Zeit eine ständige Dosiserhöhung. Im Falle des Absetzens kann es zu sehr heftigen Entzugserscheinungen kommen.

Sollte sich infolge einer Angsterkrankung eine oben beschriebene Suchtsymptomatik entwickelt haben, ist bei einer späteren Therapie eine Suchttherapie vorzuschalten; hier sei auf das entsprechende Kapitel in diesem Buch hingewiesen.

„Angstbeißer“

Während Menschen mit Angsterkrankungen in aller Regel und gemäß den diagnostischen Kriterien zu Rückzug und Vermeidungsverhalten neigen, angstbesetzte Situationen vermeiden und sich mit diesen gar nicht mehr auseinandersetzen, zeigt sich in der klinischen Praxis im Einzelfall allerdings auch manchmal ein komplett entgegengesetztes Verhalten. Angstbesetzte Situationen werden nicht vermieden, sondern in einem weitaus übertriebenen Ausmaß aufgesucht. Dies kann bei normalen angstauslösenden Situationen, wie z. B. im Fall einer Höhenphobie, bis dahin führen, dass besonders gefährliche Bergwanderungen oder Klettertouren unternommen oder besonders hohe Türme aufgesucht werden. In Einzelfällen kann dieses sogenannte kontraphobische Verhalten durchaus ein gewisses gesundheitliches, Leib und Leben gefährdendes Risikoverhalten annehmen, sowohl für sich als auch andere (z. B. riskantes, aggressives Autofahren).