Geist und Leben 1/2015

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Geist und Leben 1/2015
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Inhalt

Heft 1 | Januar–März 2015

Jahrgang 88 | Nr. 474

Notiz

Spiritualität oder Glaubensverkündigung? Bewährte Zeitschrift in neuem Gewand

Stefan Kiechle SJ

Nachfolge | Kirche

„Geist und Leben“ – Perspektiven auf Joh 6,63

Gregor Etzelmüller, Eva-Maria Faber, Ioan Moga

„Diesen großen Gott können wir überall lieben“. Teresa von Ávila an die Gottsucher und Gottsucherinnen von heute

Elisabeth Peeters OCD

Wege zum Stundengebet. Liturgisch fundierte Spiritualität im persönlichen Beten und gemeinsamen Feiern

Johannes Uphus

Nachfolge | Junge Theologie

Wir ziehen vor die Tore der Stadt. Sakraltopographien im 21. Jahrhundert

Joachim Werz

Reflexion

Jesuiten und Kirchlichkeit

Klaus Mertes SJ

Spiritualität und Recht. Was hat mein Glaube mit den Gesetzen der Kirche zu tun?

Sabine Demel

Die Zukunft der Ordensausbildung

Bernhard Eckerstorfer OSB

Eucharistie als Pfingstfest. Frühsyrische Epiklesen

Gerard Rouwhorst

Lektüre

Von der Gabe und vom Kreuz. Das Zeugnis von Christophe Lebreton, Tibhirine

Marie-Dominique Minassian

Buchbesprechungen

Impressum

GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik.

Erscheinungsweise: vierteljährlich

ISSN 0016-5921

Herausgeber:

Deutsche Provinz der Jesuiten

Redaktion:

Chefredakteur: Christoph Benke

Lektorats-/Redaktionsassistenz: Anna Albinus

Pramergasse 9, A-1090 Wien

Tel. +43–(0)1–310 38 43–111/112

redaktion@geistundleben.de

Redaktionsbeirat:

Bernhard Bürgler SJ|Wien; Margareta Gruber OSF|Vallendar; Stefan Kiechle SJ|München; Bernhard Körner|Graz; Simon Peng-Keller|Zürich; Klaus Vechtel SJ|Frankfurt; Saskia Wendel|Köln

Artikelangebote an die Redaktion sind willkommen. Informationen zur Abfassung von Beiträgen unter www.geistundleben.de. Alles Übrige, inkl. Bestellungen, geht an den Verlag. Nachdruck nur mit besonderer Erlaubnis. Werden Texte zugesandt, die bereits andernorts, insbesondere im Internet, veröffentlicht wurden, ist dies unaufgefordert mitzuteilen. Redaktionelle Kürzungen und Änderungen vorbehalten. Der Inhalt der Beiträge stimmt nicht in jedem Fall mit der Meinung der Schriftleitung überein.

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Verlag: Echter Verlag GmbH,

Dominikanerplatz 8, D-97070 Würzburg

Tel +49 (0)931–66068–0, Fax +49 (0)931–66068–23

info@echter.de, www.echter-verlag.de

Visuelle Konzeption: Atelier Renate Stockreiter, Wien

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

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Jahresabonnement € 39,00 (D) / € 40,10 (A)

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Notiz
N

Stefan Kiechle SJ | München

geb. 1960, Dr. theol., Exerzitienleiter, Autor, Provinzial der Deutschen Provinz der Jesuiten

stefan.kiechle@jesuiten.org

Spiritualität oder Glaubensverkündigung?
Bewährte Zeitschrift in neuem Gewand

„Spiritualität“ – im Deutschen kein altes Wort – wurde zum Modewort. Der Sprachgebrauch meint, in Absetzung von allem rein Materiellen, Naturalistischen oder Körperlichen, eine Erhebung des menschlichen „Geistes“: Man gibt den geistigen Kräften Priorität vor anderen Energien, lässt sich bevorzugt von ihnen bestimmen, erklärt sie zu den Leitsternen des Lebens, erhofft sich aus ihnen Heilung, Ganzheit, Friede, Ruhe, Freude; all das unabhängig davon, ob man mit „Geist“ eher den Geist des Menschen meint, der aus dem Subjekt selbst entsteht, oder einen von außerhalb des Ichs auf dieses Ich hin oder in es hinein wirkenden Weltgeist, göttlichen Geist oder Heiligen Geist – oder wiederum beides in eins, in einer genauer zu bestimmenden Verschränkung. Im Begriff „Spiritualität“ kanalisiert sich eine weite Suche vieler Menschen, eine Sehnsucht nach geistig-religiöser Erfüllung, oft in Absetzung von Materialismus, Hektik, Desorientierung und Sinnleere unserer Zeit. Der Begriff bleibt allerdings oft unscharf, inhaltsleer, apersonal, nicht eingebunden in konkrete soziale Gefüge und Vollzüge – was in gewisser Weise dem Bedürfnis unserer Zeit, sich nicht festzulegen und unverbindlich zu bleiben, entgegenkommt. Dennoch ist er unverzichtbar, weil das Leben aus dem Geist unverzichtbar ist – und dringlich.

„Glaubensverkündigung“ – ein älteres Wort – wird im Gegensatz zu „Spiritualität“ inhaltlicher verwendet: Man meint Gott, den personalen Gott, und Jesus Christus, das konkrete Gesicht Gottes in der Welt, dazu die Bibel als Heilige Schrift aller Christ(inn)en und die Kirche als die verfasste Gemeinschaft der Glaubenden, schließlich eine christliche, wertgebundene Lebensform und Ethik. In ihrer Verkündigung will die Kirche den Glauben vertieft vermitteln, in Glaubenskursen, Katechesen, mit religiösen Vollzügen wie Gebet und Liturgie und mit christlichem Engagement. „Glaube“ kann dogmatisch verengt und auf Formeln reduziert werden; diese Gefahr ist größer, wenn man sich – etwa gegenüber der Moderne und ihrer Komplexität oder gegenüber dem Säkularismus – in der Defensive sieht und dann die einfachen Antworten sucht. So würde die Glaubensverkündigung allerdings aus der Zeit fallen und ihre Sprache sich von heutigem Sprechen abkoppeln, mit der Folge, dass der Glaube allzu schlicht wird, rational nicht verantwortet, irrelevant, museal. Ein weiter und offener Glaube hingegen will in heutigem Kontext die Größe und Güte Gottes aufleuchten lassen, er will trösten und befreien, heilen und aussenden, deuten und wegweisen; er will in Gemeinschaft führen und vor dem Untergang retten.

„Geist und Leben“ – zum Titel aus Joh 6,63 finden sich in den ersten drei Artikeln dieses Heftes Deutungsversuche aus unterschiedlichen Konfessionen – ist „Zeitschrift für christliche Spiritualität“. Dieser Untertitel bringt wohl gut die Vermittlung der beiden Pole „Spiritualität“ und „Glaubensverkündigung“ auf den Punkt: Spirituelle Weite und Offenheit ist rückgebunden und konkretisiert sich im christlich-biblisch-kirchlichen Glauben. Diese Bindung engt die Spiritualität nicht ein, sondern im Gegenteil, sie erdet, „nährt“, ja weitet sie: Bibel, Liturgie, kirchliches Leben tragen selbst – gegen alle Versuchung enger Auslegung – die spirituelle Vielfalt, Weite und Offenheit in sich, weil wiederum Gott selbst und ebenso Jesus Christus, seine Inkarnation, sie in sich tragen und leben.

Seit eineinhalb Jahren unter neuer Schriftleitung und mit neuem Beirat, gibt sich die Zeitschrift mit dieser Ausgabe ein neues Gewand. Neben dem erneuerten Layout wollen ein regelmäßiges Editorial („Notiz“) und die veränderten Rubriken die Zeitschrift behutsam modernisieren; sie soll leichter lesbar werden und deutlicher auf heutige spirituelle Fragen und Bedürfnisse antworten.

Getragen vom Jesuitenorden, ist und bleibt „Geist und Leben“ ignatianisch, weniger im Sinn einer „spirituellen Richtung“, also bestimmter Inhalte, sondern im Sinn einer „Weise des Vorangehens“ – das Ignatianische ist ja mehr ein Stil als ein Inhalt. Die ignatianische Weise inspiriert sich aus der großen biblischen und kirchlichen Tradition und Weisheit, dabei ist sie im Denken frei und immer wieder offen für Neues, das Gespräch mit den Wissenschaften suchend, interkulturell und interreligiös dialogisch, kritisch unterscheidend, eher nüchtern und behutsam urteilend, vermittelnd mit dem konkreten Leben; sie ist eben – das ist unser Vorhaben – Geist und Leben.

 

N Nachfolge

Kirche
K

Gregor Etzelmüller | Heidelberg

geb. 1971, verheiratet, 2 Kinder, apl. Professor für Systematische Theologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

gregor.etzelmueller@wts.uni-heidelberg.de

„Die Worte, die ich zu euch geredet habe, sind Geist und sind Leben“
Evangelische Spiritualität heute*

„Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch vermag nichts. Die Worte, die ich zu euch geredet habe, sind Geist und sind Leben“ (Joh 6,63). Dieser Vers führt ins Zentrum evangelischer Spiritualität. Deutlich klingt im zweiten Satz die von allen Reformatoren vollzogene Konzentration des öffentlichen gottesdienstlichen Lebens, aber auch der Frömmigkeit auf das Wort an. Dabei wird deutlich: Das Wort ereignet sich in mündlicher Verkündigung, es ist gepredigtes, nicht geschriebenes Wort. Weil evangelische Frömmigkeit das gepredigte Wort sucht, hält sie sich zur Gemeinde. Bedenkt man den Kontext der Stelle, die Brotrede Jesu in Joh 6, wird auch der Inhalt des Wortes deutlich: die Hingabe Jesu zugunsten der Welt. Evangelische Frömmigkeit lebt davon, dass Christus sich den Seinen als Brot des Lebens schenkt.

Exegetische Beobachtungen

Exegetisch stellt sich im Blick auf Joh 6,63 die Frage, warum es von dem Fleisch, von dem zuvor in Joh 6 als dem für die Welt dahingegebenen Fleisch Jesu gesprochen war (vgl. 1,14), nun heißen kann, dass dieses nichts nütze. Hält man an der Kohärenz des Textes fest, wird man sagen müssen: Fleisch und Leben Jesu bleiben nutzlos, sofern der Heilige Geist nicht Menschen in die Wahrheit führt und so dazu bewegt, sich das Fleisch und Blut Christi geistlich einzuverleiben: „Wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohnes verzehrt und mein Blut trinkt, habt ihr kein Leben in euch.“ (6,53) Das Fleisch Jesu, sein Leben, wirkt Leben nur dort, wo es durch den Geist Gottes erschlossen und aufgenommen wird.

Mit dieser Interpretation erübrigt es sich, die Brotrede Jesu auf die Feier des Abendmahls zu beziehen. Essen und Trinken des Fleisches und Blutes Christi sind „metaphorisch als glaubendes Sich-Einverleiben“ des Lebens Jesu zu verstehen.1 „Wie die meisten der älteren griechischen und lateinischen Väter (…) so haben mit Luther und Calvin auch die meisten Reformatoren Joh 6 ohne jegliche Beziehung auf die Eucharistie als christologische Rede und das ‚Essen des Fleisches‘ und ‚Trinken des Blutes‘ dementsprechend als Metaphern für die Aneignung des gekreuzigten Jesus durch den Glauben verstanden“.2

Wie aber kommen Menschen dazu, sich auf das Leben Jesu einzulassen und es sich einzuverleiben? Joh 6,63 gibt darauf eine zweifache Antwort: zum einen durch den Geist, zum anderen durch das Wort. Dass der Geist zunächst als Subjekt, dann als Prädikatsnomen fungiert, verweist auf die wechselseitige Verwiesenheit von Wort und Geist, wie sie auch die erzählte Situation in Joh 6 verdeutlicht: Jesu Worte finden nicht bei allen Glauben. Das menschliche Wort der Verkündigung vermag nicht alle zu überzeugen. Nach seiner Rede ziehen sich viele der Jünger(innen) Jesu zurück (6,66). Um Glauben zu finden, muss der Geist Gottes der Schwachheit der mündlichen Verkündigung aufhelfen. Deshalb verweist Christus die Jünger(innen) nach seiner Rede auf seine Auffahrt (6,62), denn diese ist nach dem Johannesevangelium Voraussetzung des Kommens des Parakleten, des Heiligen Geistes (vgl. 7,39; 14,16; 16,7)3. Doch der verheißene Paraklet führt die Jünger(innen) gerade so in alle Wahrheit (16,13), dass er sie an alles erinnert, was Christus gesagt hat (14,26). Er redet „nicht aus sich selbst“, sondern verherrlicht allein Christus (16,13f.). Das Wort ist, um Glauben zu finden, auf die Kraft des Geistes angewiesen – der Geist aber ist ganz auf das Wort, auf Jesus Christus, konzentriert.

Wem im Heiligen Geist die Worte Jesu erschlossen werden, so dass er/sie in ihnen Christus als Brot des Lebens ergreift, der gewinnt Anteil am Leben Jesu und deshalb am ewigen Leben. Denn ewig ist dasjenige Leben, das sich nicht dem natürlichen Kreislauf von Fressen-und Gefressen-Werden einfügt, sondern diesen Kreislauf in der Hingabe des Lebens durchbricht (vgl. 12,25). Deshalb wächst aus der Hingabe des Lebens Jesu neues Leben (12,24) – und deshalb gibt der johanneische Christus den Seinen nur ein einziges Gebot, nämlich „dass ihr einander liebt. Wie ich euch geliebt habe, so sollt ihr auch einander lieben.“ (13,34)

Umstellung von Kult auf Kommunikation

Die sich in Joh 6,63 ausdrückende Hochschätzung des Wortes gewinnt durch die Reformation welt-, kirchen- und mentalitätsgeschichtliche Resonanz. Gegenüber den weitverbreiteten Stillmessen ihrer Zeit stellen die Reformatoren „von Kult auf Kommunikation“ um.4 Nicht durch kultisches Handeln, sondern durch die Verkündigung des Wortes soll die Gegenwart mit der Geschichte Jesu Christi verbunden werden.

Im Licht von Joh 6 wird man im Blick auf diese Konzentration des gottesdienstlichen Lebens auf das Wort dreierlei betonen müssen. Erstens: Es geht den Reformatoren um das mündliche Wort der Verkündigung. Ohne ihre Auslegung bleibt die Schrift als geschriebenes Wort toter Buchstabe. Denn nur in der Predigt erfährt der Glaube die alten Worte als ihm gegenwärtig zugesprochen. Deshalb gilt für die Reformatoren: Wenn die biblischen Lesungen nicht ausgelegt werden, dann bleibt „Gottis wort geschwygen“ (WA 12,35). Es ist die gegenwärtige Verkündigung, die „den garstigen Graben der Geschichte“ überbrückt, indem sie die Hörer(innen) in das Wort Gottes verstrickt – oder anders ausgedrückt: indem sie die Vergangenheit Jesu und die Gegenwart der Hörer(innen) so zusammenspricht, dass sie in die Gegenwart Christi versetzt werden.

Zweitens: Die Verkündigung zielt auf die Christusbegegnung. In, mit und unter den Worten des/der Predigenden, der/die jene Worte, die Christus einst zu seinen Jüngern sprach, auslegt, soll der/die Hörer(in) die Worte Christi selbst hören. Deshalb bittet und vertraut die evangelische Predigt darum und darauf, dass Christus selbst sich zu ihr bekennt: „Du hast recht geleret, denn ich hab durch dich geredt, und das wort ist mein.“ (WA 51,517)

Drittens: Indem das Johannesevangelium am Ende der Brotrede festhält: „Das sagte Jesus in der Synagoge, als er in Kafarnaum lehrte“ (6,59), wird deutlich, wo die Verkündigung ihren Sitz im Leben hat: in der gottesdienstlichen Versammlung. Indem die Reformation den Glauben an die Predigt bindet, bindet sie ihn zugleich in den öffentlichen Leib der Gemeinde ein. In diesem Sinne ist die Rede von der Verinnerlichung der Frömmigkeit durch die Reformation nicht zutreffend. Die Gemeinde stützt und stärkt den Glauben. Der Glaube wird im Gottesdienst nicht nur unmittelbar durch die Verkündigung gestärkt, sondern auch mittelbar durch die auf das Wort hörende Gemeinde. Indem Menschen zum Gottesdienst kommen, bekunden sie einander wechselseitig, dass sie Gottes Wort suchen, weil sie von ihm her leben, und stärken damit wechselseitig ihren Glauben.

Reformatorische Spiritualität ist keineswegs die verinnerlichte Frömmigkeit eines isolierten Individuums. Zwar gibt es im Protestantismus auch Formen intimer Frömmigkeit, v.a. das private Studium der Schrift, aber evangelische Frömmigkeit sucht vor allem die Christusbegegnung in der Verkündigung und d.h. in der Gemeinde.

Wort und Abendmahl

Die Konzentration des liturgischen Lebens auf das Wort wirkt sich auch auf das Verständnis und die Feier des Abendmahls aus. Während Martin Luther ausgehend von den Spendeworten Jesu das Primat des Wortes gegenüber dem Sakrament herausstellt,5 verdeutlicht für Huldrych Zwingli insbesondere Joh 6,63 die Präferenz des Wortes gegenüber dem äußerlichen Ritus und seinen Elementen. Deshalb ordnet Zwingli in Zürich an, dass bei jeder Abendmahlsfeier als Evangelium Joh 6,47–63 gelesen werden soll.

Wenn man bedenkt, dass das Abendmahl in Joh 6 gar nicht im Blick ist, dann verliert eine abendmahlskritische Deutung von Joh 6,63 ihre Basis. Wohl aber lässt sich mit Zwingli im Anschluss an diesen Vers die Gleichwertigkeit von Abendmahls- und Predigtgottesdienst begründen. Weil „die menschlich sel von dem wort, das us dem mund gottes kumt, aller meist gespyst und läbendig wirt“ (CR 90,129), stellt der Predigtgottesdienst gegenüber dem Abendmahlsgottesdienst kein defizitäres Geschehen dar. Denn in jenem kann sich ereignen, was auch der Sinn von diesem ist, nämlich das geistliche Essen des Leibes Christi.

Während sich dieses geistliche Essen sowohl im Predigt- als auch im Abendmahlsgottesdienst ereignen kann, ist der Abendmahlsgottesdienst dadurch ausgezeichnet, das in ihm das geistliche Geschehen durch das sakramentale Essen bezeugt wird und so sämtliche Sinne des Menschen angesprochen werden. Deshalb hat Zwingli dem Gebot Jesu entsprechend an der Feier des Abendmahls nicht nur festgehalten, sondern mit der Einführung von vier Gemeindekommunionen im Jahr die Kommunionhäufigkeit sogar erhöht. Aber gerade weil im Abendmahl Sichtbares dargereicht wird, kann es den Menschen verführen, sein Vertrauen auf Kreatürliches zu setzen und so seinen Glauben zu verlieren. Deshalb wollte Zwingli bei jeder Abendmahlsfeier Joh 6 als Evangelium vorgetragen wissen. Die Lesung hat bei ihm die Funktion, die in anderen Liturgien das Sursum corda hat: Wir sollen unsere Herzen zum Himmel erheben und auf Christus ausrichten, der das Brot des Lebens ist, das vom Himmel kommt.

Grenzen und Aufbrüche evangelischer Spiritualität

Im Licht von Joh 6,63 lassen sich auch Grenzen und nötige Neuaufbrüche evangelischer Spiritualität erkennen. Die Konzentration der christlichen Spiritualität auf das Wort droht die sinnliche Wahrnehmung des Menschen auf den Hörsinn zu reduzieren. Im Vergleich mit anderen Konfessionen fällt auf, wie wenig es im evangelischen – im reformierten noch stärker als im lutherischen – Gottesdienst zu sehen, zu spüren und zu schmecken gibt. Der Protestantismus hat im 20. Jh. dieser Reduktion des liturgischen Lebens entgegenzuwirken versucht und dabei auch von anderen Konfessionen gelernt: Das Abendmahl wird wieder häufiger gefeiert, der Friedensgruß nicht nur verkündet, sondern auch ausgetauscht, auch Salbungsgottesdienste gehören heute zum liturgischen Repertoire evangelischer Kirchen. Im sechsten Gottesdienstkriterium des Evangelischen Gottesdienstbuches heißt es: „Die Hochschätzung der Predigt ist ein besonderes Merkmal der evangelischen Kirchen; sie darf jedoch nicht dazu führen, dass der Gottesdienst einseitig intellektuell bestimmt wird“, denn liturgisches „Handeln und Verhalten bezieht den ganzen Menschen ein“.6

Im Anschluss an Joh 6 hat der Protestantismus zudem eine Hierarchisierung der biblischen Schriften vorgenommen und sich in Theologie und Frömmigkeit vor allem am Johannesevangelium und den Briefen des Paulus orientiert. Luther zog das Johannesevangelium als „das eynige zartte recht hewbt Euangelion“ den Synoptikern vor, weil es „gar wenig werck von Christo, aber gar viel seyner predigt“ beschreibt. Ausdrücklich bezog er sich dabei auf den Vers Joh 6,63: „Denn die werck hulffen myr nichts, aber seyne wort die geben das leben, wie er selbs sagt.“ (WA.DB 6,10)

Als Folge dieser Ausblendung des Lebens Jesu hat man in evangelischer Theologie und Frömmigkeit oftmals das Kreuz vom Leben Jesu gelöst – und damit dazu beigetragen, dass heute die Kreuzestheologie vielen Menschen kaum mehr etwas sagt. Um das Kreuz zu begreifen, muss man es als Konsequenz des Lebens Jesu verstehen. Weil Jesus sich den gesellschaftlich Ausgegrenzten (den Zöllnern und Prostituierten gleichermaßen) zuwendet, erfährt er die Feindschaft derer, die die Macht im Lande haben. Indem der Sohn Gottes Gemeinschaft mit den Menschen sucht und diese dort aufsucht, wo sie ihr Leben unter der Macht der Sünde führen, nimmt er das Risiko auf sich, von diesen Menschen verstoßen und gekreuzigt zu werden. Jesus Christus aber bleibt seiner Sendung zu den Menschen bis zum äußersten, bis zum Tod am Kreuz, treu. Um dem menschgewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Christus zu begegnen und ihn zu verstehen, brauchen wir neben den neutestamentlichen Briefen auch die Evangelien – und neben Johannes auch die Synoptiker und selbstverständlich auch das Alte Testament. Mit ihrer Konzentration auf Johannes und Paulus, aber auch das Wort vom Kreuz, steht evangelische Frömmigkeit in der Gefahr, der Fülle des Lebens Christi nicht gewahr zu werden.

 

Man wird diese Einsicht auch in der Auslegung von Joh 6 geltend machen müssen: Wir sollten, anders als protestantische Ausleger(innen) dies gewohnt sind, „das Fleisch des Menschensohnes und sein Blut“ (6,53) nicht vorschnell auf „die realen und gewaltsam voneinander getrennten ‚Elemente‘ des Leibes des getöteten Jesus“ beziehen,7 sondern im Sinne von Joh 1,14 auf das gesamte Leben Jesu. In der geistlichen Einverleibung des Leibes Christi geht es darum, dass Menschen Anteil bekommen an der Fülle des Lebens Jesu (seinem Fleisch) in seiner Lebendigkeit (seinem Blut8). Im Licht von Joh 6 wäre evangelische Frömmigkeit dann als ein Hineinwachsen in die lebendige Fülle des Lebens Jesu zu verstehen, das dadurch möglich wird, dass sich dieses Leben in Wort und Geist Menschen erschließt und diese für sich gewinnt.