Geist & Leben 4/2017

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Geist & Leben 4/2017
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Inhalt

Heft 4 | Oktober–Dezember 2017

Jahrgang 90 | Nr. 485

Notiz

Die fremde Reformation

Andrea Richter

Nachfolge

„Ich spreche nie von Gott“.

Annäherung an Maurice Zundel

Alois Odermatt

Nachfolge | Kirche

Wer hört, der rufe: Komm!

Die O-Antiphonen als Israel-Gebet der Kirche

Egbert Ballhorn

Zwischen Krise und Neuaufbruch.

Das Bußsakrament und eine Spiritualität der Umkehr

Stefan Kopp

Evangelische Kommunitäten.

Monastische Spiritualität im Protestantismus

Peter Zimmerling

Nachfolge | Junge Theologie

Wort und Wirklichkeit. Wie Verkündigung auch heute gelingt

Isabelle Senn

Reflexion

Erinnerung und Horizont. Die Leistung des Juan Alfonso Polanco

José García de Castro

Offenbarung in Tat und Wort

Regina Radlbeck-Ossmann

Was ist die Bibel, und wie legt man sie aus? Gegenwärtige Wege der Inspirationstheologie

Helmut Gabel

Liturgie und Gebet.

Bericht über die diesjährige Trierer Sommerakademie des DLI

Manuel Uder

Lektüre

Luthers „Letzte Ölung“

Alex Stock

C.S. Lewis’s „Mere Christianity“

Annegret Lingenberg

„Das Heilige“ wird 100 Jahre alt

Stefan Walser OFMCap

Wie ein Dieb (Teil I)

Michel de Certeau SJ

Buchbesprechungen; Jahresinhaltsverzeichnis

Impressum

GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik

Erscheinungsweise: vierteljährlich

ISSN 0016–5921

Herausgeber:

Deutsche Provinz der Jesuiten

Redaktion:

Christoph Benke (Chefredakteur)

Anna Albinus (Lektorats-/Redaktionsassistenz)

Redaktionsbeirat:

Bernhard Bürgler SJ / Wien

Margareta Gruber OSF / Vallendar

Stefan Kiechle SJ / Frankfurt

Bernhard Körner / Graz

Simon Peng-Keller / Zürich

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Klaus Vechtel SJ / Frankfurt

Redaktionsanschrift:

Pramergasse 9, A–1090 Wien

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Diesem Heft liegen folgende Prospekte bei: topos taschenbücher Verzeichnis 2017/18, Verlagsgemeinschaft Topos plus; Gottes Wort im Kirchenjahr, Echter Verlag Wir bitten um Beachtung.


Andrea Richter | Berlin

geb. 1959, Evangelische Pfarrerin,

Beauftragte für Spiritualität der EKBO,

Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN

a.richter@akd-ekbo.de

Die fremde Reformation

Als der Augustinermönch im Jahr 1511 nach Rom reist, wohnt er dort im Kloster der Augustinereremiten. Quasi im Nachbarzimmer erhält in diesen Tagen die Sixtinische Kapelle eine neue Wandausmalung. Augustinereremiten organisieren und überwachen die Bemalung durch Michelangelo Buonarotti, den berühmten Bildhauer und begnadeten Maler. Es ist spektakulär: Anstatt einer malerischen Verherrlichung der mächtigen Kirche steht die Geschichte von der Erschaffung des Menschen im Zentrum. Gott und Adam nur durch einen Fingerspalt voneinander getrennt. Ein einzelner, nackter Mensch im direkten Kontakt zu Gott. Luther hat das Schöpfungsbild Michelangelos wohl nicht wahrgenommen. Überhaupt kümmert er sich nicht darum, wie sehr sich die Welt um ihn verändert: 1492 hatte Christoph Columbus Amerika entdeckt. In den Kellern des florentinischen Krankenhauses Santa Maria Nuova erforscht Leonardo da Vinci, verborgen vor den Augen von Kirche und Öffentlichkeit, die Anatomie des menschlichen Körpers. Der junge Mönch Luther interessiert sich wenig für die Wahrheitssuche des Künstlers, auch nicht für die Eroberung neuer Kontinente oder das Wunder des menschlichen Körpers. Luthers „Forschungsgebiet“ ist das Innere des Menschen, die Seele und die Frage, wie der Mensch vor Gott bestehen könne angesichts seiner Unfähigkeit zum Guten und der Unmöglichkeit, sein veräußerlichtes Leben vor Gott zu rechtfertigen. Hier forscht und fragt er mit ganzer Leidenschaft – und voller Angst: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ Allein die Wortwahl lässt die Verzweiflung erahnen, die ihn immer wieder umtreibt. Gottlob hat er einen weisen und erfahrenen Beichtvater und Geistlichen Begleiter: Johann von Staupitz, Professor und erster Dekan der theologischen Fakultät an der neuen Universität in Wittenberg. Staupitz habe „die doctrinam angefangen“, meint Luther später einmal. Durch ihn lernen Luther und die anderen Studierenden des Wittenberger Zirkels die Gedankenwelt der deutschen Mystiker kennen. Mit dem Werk Augustinus hatte sich Luther schon in seinen Erfurter Studienjahren intensiv beschäftigt und sich auch mit dem Zisterziensermönch Bernhard von Clairvaux befasst. Nun, in Wittenberg, erlangt mit der Lektüre Johannes Taulers auch die Gedankenwelt Meister Eckharts Einfluss auf die Gottsuchenden. Eines der zentralen Motive der deutschen Mystik ist die „Geburt Gottes im Menschen“. In einer Predigt zum Christfest schreibt Johannes Tauler: „In der Heiligen Schrift lesen wir: ‚Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt‘; das will sagen: er ist unser, und unser Eigen zumal, mehr denn alles, was eigen heißt, er wird zu aller Zeit, ohne Unterlass in uns geboren.“1 Tauler vertieft diesen Gedanken noch und schreibt weiter: „Dass wir nun alle dieser edlen Geburt eine Stätte in uns bereiten, so dass wir wahre geistliche Mütter werden, dazu verhelfe uns Gott. Amen.“2 Mit ganz ähnlichen Worten ermahnt Martin Luther in einer Weihnachtspredigt seine Zuhörer und Hörerinnen: „Glaube du, dass Christus empfangen ist vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, aber siehe zu, dass du aus der Geschichte dir eine Gabe machest, dass Christus dir empfangen und geboren (…) sei. Da übe deinen Glauben, dass er täglich fester werde und Lust und Freude dran bekomme (…) Christus ist die Quelle, in ihm ist alle Weisheit und Wahrheit.“3 Allein in diesen wenigen Worten erahnt man die Unabhängigkeit des glaubenden Subjekts gegenüber Institutionen und Lehrmeinungen. Auch, wenn Luther das Schöpfungsbild Michelangelos nicht gesehen hat, bringt er doch eine ganz ähnliche, innigliche Beziehung und Verbundenheit von Mensch und Gott zum Ausdruck. Was der Maler in Farben kleidet, formt Luther in Worte seiner eigenen, inneren Wirklichkeit: das Bild eines nackten Gottes, der uns Menschen näher ist als die eigene Halsschlagader. Martin Luther, der Weihnachtschrist! Das Kind im Schoß Mariens ist für ihn zugleich der, „den aller Welt Kreis nie beschloss“ und welcher „alle Ding erhält allein.“4

Über die kirchenpolitischen Wirren der Reformationszeit geriet das Wissen um den Einfluss der Gedankenwelt deutscher Mystiker auf den Reformator vielfach in Vergessenheit. Anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 haben sich die Bemühungen um die spirituellen Grundlagen der Reformation intensiviert. So hat beispielsweise der Tübinger Kirchenhistoriker Volker Leppin in seinem neuen Buch Die fremde Reformation nachgewiesen, wie intensiv sich Luther mit den Gedanken der Deutschen Mystik beschäftigt hat und wie sehr diese ihn nachhaltig inspiriert haben.5 Vielen Menschen öffnet sich dadurch ein neuer Blick in die spirituelle Relevanz der geistlichen Tradition. Auch für die Ökumene birgt die Wiederentdeckung der mystischen Wurzeln der Reformation die Chance, sich in einer Ökumene der Spiritualität das gemeinsamen spirituellen Erbe von 1300 Jahren durch Reflexion, Aneignung und Einübung vertraut zu machen und es zu beleben.

 

1 Johannes Tauler, Predigten, Bd. 1. Einsiedeln 42007, 14 f.

2 Ebd., 19 f.

3 Martin Luther, Predigt zum Christfest, WA 46, 226.

4 Ders., Gelobet seist du Jesu Christ, in: Evangelisches Gesangbuch, Lied Nr. 23, Strophe 3.

5 V. Leppin, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln. München 2016.



Alois Odermatt | Zug (CH)

geb. 1936, Dr. phil.,

Historiker und Diplomtheologe

mit Schwerpunkt Liturgiegeschichte

al.odermatt@bluewin.ch

„Ich spreche nie von Gott“

Annäherung an Maurice Zundel (1897-1975)

Der Philosoph und Theologe, Dichter und Mystiker Maurice Zundel hielt regelmäßig Vorträge im Bildungshaus Cénacle der Jesuiten in Paris. Am 22. Januar 1966 ging er dabei auf das Zweite Vatikanische Konzil ein, das wenige Wochen vorher, im Dezember 1965, abgeschlossen worden war.1 Inmitten der nachkonziliaren Euphorie übte er Kritik. Beim Lesen der Konzilsberichte habe er sich oft gefragt, von welchem Gott und von welchem Menschen da gesprochen werde. Das Konzil sei nicht darauf eingegangen. „Im Grund hat es die wesentliche Botschaft nicht angeboten.“ Die Konzilstexte kreisten um einen „Gott der Vergangenheit“. Vielleicht werde sich das nächste Konzil der entscheidenden Frage stellen: Wie wird der Mensch zur Person? Von welchem Menschen reden wir, und von welchem Gott?

Maurice Zundel betrachtete die Klärung der Gottesfrage als derart zentral, dass er dafür gleichsam an ein nächstes Konzil appellierte. Der Theismus mit dem Denkbild eines allmächtigen Schöpfergottes sei dem modernen Denken nicht mehr zumutbar. „Der herkömmliche Gott wird gebraucht, um das Universum zu erklären, seine Entstehung, seine Evolution.“ Aber Schöpfung sei anders zu denken: als Universum, das auf zunehmende Vergeistigung angelegt ist – und wir mit ihm. Wir können dem Göttlichen „nur in jener Welt begegnen, die noch nicht besteht und die wir selber von Augenblick zu Augenblick zu erschaffen haben“.

Die Frage nach Zundels Denken taucht vermehrt auch im deutschen Sprachraum auf. Die folgende Annäherung orientiert sich am Stil Zundels: ein Anliegen essayhaft umkreisen und dabei überraschende Einsichten aufblitzen lassen. In diesem Sinn folgt ein Blick auf den Kern seines Denkens – und auf sein Leben. Innere spirituelle Erfahrungen und äußere Umstände waren bei ihm eng verknüpft. Rückblickend erkannte er: Das Leben selbst ist spirituelle Quelle, auch die Nacht des Lebens.

Prägende Erfahrungen in der Jugend

Maurice Zundel wurde stark durch seine Jugend im westschweizerischen Neuenburg geprägt, wo er am 21. Januar 1897 zur Welt gekommen war.2 Die Mutter stammte aus dem französischsprachigen Teil des Kantons Freiburg und oblag einem rituellen Katholizismus. Der Vater stammte aus dem deutschsprachigen Aargau, war leitender Postbeamter und bescherte der Familie mit vier Kindern einen bescheidenen Wohlstand. „Vater war aktiv freisinnig.“ Das war jener liberale katholische Freisinn, der in den 1840er Jahren die Aufhebung von Klöstern betrieb, nach dem I. Vaticanum (1869/70) die neuen Papstdogmen ablehnte und die Gründung altkatholischer Gemeinden begrüßte. – Wenn Zundel später auf das Papsttum zu sprechen kam, spielte er mit dem Begriffspaar missiondémission (Aufgabe – Aufgeben): Jegliches geistliche Machtgehabe sei „aufzugeben“.

Die protestantische Großmutter mütterlicherseits war antikatholisch eingestellt. „Von ihr kam der stärkste Einfluss auf mein Leben.“ Warum? „Sie trat für die Würde der Armen ein und lebte ständig im Bewusstsein, Gott sei anwesend. Sie war die christlichste Person in meiner Familie.“ Nur mit Widerwillen hatte sie ihre Kinder, als Frau eines Katholiken, „katholisch“ erzogen. Ein Cousin großmütterlicherseits wurde orthodoxer Mönch in Russland.

Sein Onkel Auguste war Mitglied des Ordens der christlichen Schulbrüder und Lehrer an der katholischen Diaspora-Schule Neuenburgs. Aber der Vater ließ Maurice nur zur täglichen Schulmesse und zum Frühstück dieser Schule gehen. Den Unterricht hatte er an der öffentlichen Schule bei protestantischen Lehrern zu besuchen. Einer seiner Klassenkameraden war Jean Piaget, der spätere berühmte Genfer Psychologe (1896–1980). Mit ihm gründete er einen Club der Naturfreunde: Das Interesse an der Naturwissenschaft trieb ihn zeitlebens um.

Mit vierzehn Jahren machte er zwei spirituelle Erfahrungen, die ihn im Innersten bewegten. In der Liebfrauenkirche von Neuenburg, in die er sich öfters zurückzog, überkam ihn am 8. Dezember 1911, dem Fest der Gnadenwahl Mariens, eine jähe Ahnung des „schöpferisch Jungfräulichen“: „Ich empfand einen betörenden Ruf, der mein Leben umstülpte.“ Die zweite Erfahrung schenkte ihm die Begegnung mit einem protestantischen Schulkameraden, der in ärmlichen Verhältnissen lebte, eifrig die Bibel las, sein Zimmer mit Zitaten aus dem Johannes-Evangelium schmückte, aber aus wirtschaftlichen Gründen nicht studierendurfte. Gemeinsam diskutierten sie über die Lebensbedingungen der Armen, über die Bergpredigt und die Seligpreisungen. Erschüttert musste Maurice dann erfahren, dass der Freund sich in seiner Ausweglosigkeit das Leben genommen hatte.

Inmitten dieser protestantischen Umwelt entwickelte er die Absicht, katholischer Priester zu werden. Als Vorbereitung auf das Seminar verbrachte er zwei Jahre, 1913 bis 1915, an der Klosterschule Einsiedeln, wo er die Matura in deutscher Sprache bestand. Hier erlebte er, wie er oft betonte, „die glücklichste Zeit“ seines Lebens. „Einsiedeln wurde mir zur Seelenheimat.“ Er liebte die getragene Liturgie, das Schweigen der Mönche, das elegische Salve Regina vor der Schwarzen Madonna, die barocke Üppigkeit, die klare Landschaft im finsteren Wald. Unter dem Namen „Bruder Benedikt“ wurde er Benediktiner-Oblate.

Das Nein des Bischofs und zwanzig Jahre Pilgerschaft

Es folgten Studien am Priesterseminar. Nur mit Mühe ertrug er die Neuscholastik, die ihm das Göttliche in ein Verlies einzuriegeln schien. Bereits 1919, mit 22 Jahren, wurde er zum Priester geweiht und in eine Genfer Pfarrei geschickt. Der junge Vikar machte schon bald auf sich aufmerksam. Er kritisierte das herkömmliche Gottes- und Menschenbild, setzte im Religionsunterricht auf „profane Autoren“ statt auf den Katechismus, diskutierte mit Jugendlichen über gesellschaftliche Fragen, über die Ehe, über geschlechtliche Erziehung. 1921 veröffentlichte er einen Artikel über das Frauenstimmrecht, das in der Schweiz erst 1971 eingeführt wurde. So durchbrach er das erlernte „theologische System“ – bis ihn ein argwöhnischer Mitbruder bei Bischof Marius Besson (1876–1945) anschwärzte. Dieser verwehrte ihm ab 1925 jede Seelsorge im Bistum: Er sei ein Querdenker und Freibeuter, „und die Kirche liebt Freibeuter nun einmal nicht sonderlich“. Zundel schloss seinen Abschiedsgottesdienst mit Jugendlichen mit den Worten: „Betet, betet, dass ich den Glauben nie verliere.“ Und mit dem bitteren Zusatz: „Auf alle Fälle ist es besser, durch die Kirche selbst zermahlen zu werden, als außerhalb.“

Der Bischof schickte ihn zuerst an die thomistische Hochschule Angelicum in Rom, damit er dort seine Theologie „nachfasse“. Zundel wählte Philosophie und schrieb eine Doktorarbeit über den Einfluss des Nominalismus auf das christliche Denken. Von Rom aus veröffentlichte er 1926 unter dem Namen „Bruder Benedikt“ sein erstes Buch Le Poème de la sainte Liturgie. Nun hoffte er auf eine neue Aufgabe im Heimatbistum. Aber der Bischof hintertrieb ihm hier jede pastorale oder akademische Tätigkeit. Es ergab sich ein Exil – bis zum Tod des Bischofs. Freunde vermittelten dem Verbannten 1927 eine Anstellung in Paris, zuerst als dritter Vikar in der Pfarrei Charenton. Da meinte er, vor innerer Austrocknung sterben zu müssen. Später wird er diese Nacht als grausame Erfahrung preisen. „In dieser Zeit erfuhr ich, bis in die Höhle meines Fleisches hinein, das Schweigen, die Armut, das Kreuz. Ich erfuhr, dass ich selber meinen eigenen Weg im Denken und Handeln finden musste. Ohne diese Phase des Absterbens wäre ich nie so weit gegangen.“ Nach sechs Monaten wurde er Kaplan bei den Benediktinerinnen der Rue Monsieur. Hier begann er wieder zu atmen. Es ergaben sich Freundschaften, vorab mit dem Mailänder Giovanni Battista Montini, dem späteren Papst Paul VI. (1897–1978). Dieser erkannte in ihm „ein Genie als Dichter, als Mystiker, Schriftsteller und Theologe, und dies alles aus einem Guss, mit Geistesblitzen“.

In dieser Zeit machte Maurice Zundel die spirituelle Grundentdeckung seines Lebens. Anhand der Gestalt des Franz von Assisi erlebte er die „Armut“ als Lebensimpuls von allem: das Loslassen, das Leer-Werden, die Sehnsucht über sich selbst hinaus. Auch das Göttliche ist Leere. „Im Licht der Leere ist die Inkarnation, das Geheimnis Jesu und das Geheimnis der Kirche zu lesen.“ Zundel ermaß die Folgen. „Alles galt es zu ändern, alles in Frage zu stellen: die gesamte Bibel, die gesamte Überlieferung, die gesamte Liturgie, die gesamte christliche Moral, die gesamte Philosophie, das gesamte Verständnis von Erkenntnis und Wissenschaft, von Eigentum und Recht, auch das gesamte Verständnis von Hierarchie.“ Alles war umzudrehen, von außen nach innen.

Der Pilgerweg setzte sich fort. Zundel wurde Kaplan bei den Assumptionisten in London, wo er mit Sympathie den Anglikanismus studierte. Aber er wollte in die Schweiz zurück. Es gelang ihm, hier die Aufgabe eines Kaplans an einem Mädchenpensionat zu erhalten. Doch kaum da, winkte der Bischof ab. Eine Schule des gleichen Frauenordens bei Paris nahm ihn auf, ebenfalls als Kaplan. Hier entstanden drei Bücher: 1934 das vollständig überarbeitete Le Poème de la sainte Liturgie, 1935 Notre Dame de la Sagesse (Unsere Liebe Frau von der Weisheit) und 1935 L’Évangile intérieur (Das innerliche Evangelium). Das letztere waren 15 Betrachtungen, die er vom Juli bis Oktober 1935 im Radio Luxemburg gehalten hatte.

Von Paris aus fuhr Zundel 1937 für ein Studienjahr an die Bibelschule der Dominikaner in Jerusalem. Dort widmete er sich Hebräisch- und Griechischstudien sowie neueren Fragestellungen der Exegese. Wieder in Paris, veröffentlichte er 1938 ein neues Buch: Recherche de la personne (Suche nach der Person). Auf Geheiß des Heimatbischofs wurde es aus dem Handel gezogen. Es behandle Fragen um Ehe und Liebe auf zu realistische Art. Das schicke sich nicht für einen Priester.

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wollte er erneut in der Schweiz Fuß fassen. Er fand Unterkunft im Glockenturm von Bex im Kanton Waadt. Aber da ihn der Bischof in der Arbeitslosigkeit beließ, hörte er auf den Ratschlag von Freunden und zog nach Kairo, wo ihm der Karmel Matarieh Herberge bot und mannigfache pastorale Dienste in Ägypten ermöglichte. Hier begegnete er auch dem Islam, las den Koran, lernte Arabisch. Er verkostete islamische Mystiker, insbesondere Al-Hallädsch (857–922), der von sich gesagt hatte: „Ich selbst bin die Wahrheit“ und deswegen als Irrlehrer hingerichtet und gekreuzigt wurde.

Das Ja des Papstes und internationale Anerkennung

Bischof Marius Besson verstarb 1945. Maurice Zundel konnte endlich heimkehren, wurde „Hilfspriester“ in Lausanne und wirkte von hier aus bis zu seinem Tod als Prediger, Vortragsredner, Schriftsteller und spiritueller Meister im In- und Ausland. Hoch geschätzt waren seine „schweigende Seelsorge“ und sein brillantes Wissen in Philosophie, Literatur und Naturwissenschaft. Freilich, er blieb umstritten. Noch in den 1960er Jahren wurde uns in der Westschweiz nahegelegt, seine Vorträge und Schriften zu meiden.

 

Da trat Giovanni Battista Montini auf den Plan. Er war, wie erwähnt, Zundel Ende der 1920er Jahre in Paris begegnet. Er las seine Schriften und trug sich nun als Papst mit dem Gedanken, ihm die Kardinalswürde zu verleihen, „zum Dank für die neuen Wege, die er dem christlichen Denken eröffnet hat“. Dies verbürgt Ambroise-Marie Carré (1908–2004), Theologe und Schriftsteller aus dem Dominikanerorden, Mitglied der Gelehrtengesellschaft Académie française.3 Er hielt im Februar 1965, gegen Ende des Konzils, im Vatikan die Vorträge für die Fastenexerzitien. Dabei teilte ihm der Papst seine Absicht mit. Aber Carré meinte, Zundel würde die Verpflichtungen, die mit diesem Titel verbunden sind, eher peinlich und lästig finden. Mit Genugtuung hingegen würde er wohl, wie er selbst jetzt, hier die Fastenexerzitien predigen. Der Papst behielt Zundel im Auge. Er ließ ihn im Februar 1967 bitten, „ein Buch über die religiöse Problematik unserer Zeit“ zu schreiben. Er wies in der Enzyklika Populorum progressio über den Fortschritt der Völker vom 26. März 1967 und in seiner Ansprache am Internationalen Thomisten-Kongress 1970 in Rom ausdrücklich auf ihn hin – und lud ihn 1972 tatsächlich als Exerzitienmeister ein. Diese Vorträge erschienen ein Jahr nach seinem Tod unter dem Titel Welcher Mensch und welcher Gott? Es war sein 21. Buch.

Zur internationalen Anerkennung zählt auch die Rezeption im deutschen Sprachraum. Das betrifft vorab das Liturgiebuch, in den 30er Jahren das bekannteste Buch Zundels. Kein Wunder, dass die Liturgische Bewegung es auch auf Deutsch haben wollte. Übersetzerin war Paula von Preradović (1887–1951), Wiener Lyrikerin und Schriftstellerin kroatischer Herkunft, die später als Verfasserin des Textes der österreichischen Bundeshymne bekannt wurde.4 Zu ihrem Wiener Freundeskreis gehörten Kardinal Innitzer, Domkapitular Karl Rudolf sowie Chorherr Pius Parsch, der vom Stift Klosterneuburg aus die Liturgische Bewegung antrieb. Die religiöse Lyrik der Dichterin bezog sich mehr und mehr auf liturgische Texte und kirchliche Festzeiten. Für eine liturgische Handreichung übersetzte sie die Hymnen der monastischen Laudes aus dem Lateinischen.5

So lag es nahe, dass sie mit der Aufgabe betraut wurde, Zundels Liturgie-Buch zu übersetzen. Es erschien 1937 im Tyrolia-Verlag unter dem Titel Das Hohelied der Heiligen Messe. Das Erzbischöfliche Ordinariat Wien erteilte am 1. Juni 1937 die Druckerlaubnis. Mit Datum vom 14. Juni schrieb Zundel, zusätzlich zum bereits bestehenden Geleitwort der französischen Ausgabe, ein kurzes Vorwort. Darin betonte er sein Anliegen: Das Buch „soll dem Leser, so ungläubig er auch sein möge, diese Überzeugung nahebringen, dass Religion das Leben schlechthin ist, das Leben in all seinen natürlichen und übernatürlichen Entfaltungen. Deswegen wird so oft in diesen Seiten auf Kunst und Wissenschaft, auf Politik und Geschichte, auf Gewissen und Gefühl hingedeutet.“ [Herv. MZ]

Die SA verbot 1938 die Produktion aller Tyrolia-Zeitungen und schränkte die Buchproduktion der Tyrolia ein.6 In der Folge wurden auch die Druckplatten des Zundel-Buches zerstört. Darum brachte der Rex-Verlag Luzern 1948 eine neugesetzte „autorisierte Lizenzausgabe“ heraus, mit anderer Paginierung. Beide Ausgaben sind längst vergriffen.

Der Pattloch-Verlag publizierte 1995 Zundels Buch L’Évangile intérieur unter dem Titel Die Innenseite des Evangeliums auf Deutsch.7 Der Verlag stellte Zundel im Nachwort vor. Er sei „im deutschen Sprachraum bis heute weitgehend unbekannt geblieben“. Das Buch sei „die erste Schrift Zundels, die in deutscher Sprache vorliegt“8 (sic!). Er zeige „das zutiefst Menschengemäße der Botschaft Christi auf. Darum ist er nicht weniger Philosoph, als er Theologe ist. Entweder das Evangelium ist auch innerlich, seelisch wahr, oder es ist nicht wahr. Entweder ist es die spirituelle Selbstentfaltung des Menschen, oder es ist gar keine Entfaltung.“9 Grundlegend sei „die Begegnung der inneren mit der äußeren Offenbarung“.

Das vierte Kapitel des Buches geht auf „Die Frage des Bösen“ ein.10 Zundel fragt nach der Gerechtigkeit und Güte Gottes angesichts des Übels in der Welt und vertritt dabei sein zentrales Anliegen: Gott trägt nicht die Verantwortung für das Übel. Er will nicht das Böse. Ce n’est pas Dieu qui a pu vouloir cet abîme. Gott hat gar nicht vermocht, diesen Abgrund zu wollen. Er ist gar nicht als Instanz denkbar, die das Böse will, ja auch nur zulässt. Die Übersetzung ändert diese Aussage: Gott hätte es schon vermocht, aber hat es sicher nicht gewollt. Für Zundel ist Gott geheimnishaft das erste Opfer des Bösen. Die Übersetzung gibt mystérieux mit „unerklärlicherweise“ wieder.11

Nietzsche-Tänzer auf hohem Seil

Seit Zundels Tod 1975 reißt der Strom an Publikationen nicht ab: Tagungsberichte, Neuauflagen einzelner Bücher, posthume Veröffentlichungen von Vorträgen und Predigten, Studien und Dissertationen, Blütenlesen sowie biographische Werke. Die Universitätsbibliothek seiner Geburtsstadt Neuenburg betreut die Privatbibliothek, die er ihr vermacht hat. Vier Zundel-Gesellschaften verbreiten sein Denken im Rahmen von Tagungen und Gesprächsgruppen: in Frankreich, Belgien, Kanada und in der Schweiz. Die internationale Maurice Zundel-Stiftung verwaltet die Urheberrechte und bereitet eine kritische Gesamtausgabe der Schriften vor.

In der Rezeption tritt zunehmend klar der Anspruch zutage, der mit Zundels Denken verbunden ist: Atheismus und Theodizee entschlüsseln und das theistische Gottesverständnis entlarven, das seit je ein Grundmuster religiösen und gesellschaftlich-kulturellen Lebens war. Fragte ihn jemand: „Glaubst du an Gott?“, gab er zur Antwort: „Glaubst du an den Menschen?“ Oder: „Ich glaube nicht an Gott, ich durchlebe ihn. Wir entdecken ihn, wenn wir selber Mensch werden.“ Er hinterließ ein handschriftliches Credo. Die zitternde Hand weist es als einen seiner letzten Texte aus. Der erste Glaubenssatz lautet: „Ich glaube an den Menschen, Schöpfer des Menschseins.“ Zundel betonte in Vorträgen und Predigten immer wieder, Nietzsche habe zu Recht auf dem Markt der Menschheit den Tod dieses Gottes ausgerufen. In Kairo schmunzelte ihm ein Gymnasiallehrer freundschaftlich zu: „Sie erinnern mich an den Nietzsche-Tänzer auf hohem Seil.“12

Der Nietzsche-Tänzer erntete widersprüchlichen Beifall. Georges Marie Cottier (1922–2016), Schweizer Kardinal und päpstlicher Haustheologe unter Johannes Paul II., verurteilte Zundels Gottesrede als unvereinbar mit der kirchlichen Glaubenslehre.13 Bernard de Boissière (1921–2016) verstand seine Biographie als Beitrag zur Seligsprechung, nach der „viele rufen, die bereits zu ihm beten“14. In Brasilien verschreit ihn die Kulturvereinigung Montfort als „empörenden und unverschämten Ketzer“15. Der italienische Essayist Claudio Dalla Costa preist ihn als „einen der ungewöhnlichsten Mystiker des 20. Jahrhunderts“16. Der libanesische Philosoph und Dichter René Habachi fragt, ob sein Gottdenken nicht zu den wichtigsten Einsichten des 20. Jhs. zähle: „Sein Denken hat heute am ehesten Geltung für alle Weltkulturen“17.

Erfahrung und Denkbild „Gott“ jenseits des Theismus

Der Theologe Marc Donzé erarbeitete Ende der 1970er Jahre eine Studie über das „theologische Denken von Maurice Zundel“, die von der Päpstlichen Universität Gregoriana als Doktorarbeit angenommen wurde, 1980/81 als Buch erschien und die Auseinandersetzung mit dem „Meister aus Lausanne“ eröffnete. Sein Fazit: Zundels denkerischer Beitrag lässt sich bestimmen „als Neudeutung der gesamten christlichen Dogmenlehre in einer Mystik der Liebe“, die eine Mystik des Loslassens und der schöpferischen Leere sei.18

Das erste wissenschaftliche Zundel-Kolloquium 1986 in Paris umschrieb das Denken Zundels als „mystischen Realismus“. Die Akten erschienen 1987. Sie fanden Echo im deutschen Sprachraum durch die Rezension, die ihnen Klaus Müller widmete, der spätere Münsteraner Professor für Fundamentaltheologie und Religionsphilosophie. Es sei ein erster Versuch gewesen, dieses Denken „in seinen Herkunftskontexten zu situieren und in seiner möglichen Relevanz für gegenwärtige Fragestellungen zu bestimmen“. Zumindest für den deutschsprachigen Raum falle „dieser Publikation zunächst die noch bescheidenere Rolle zu, mit einem nahezu vollständig unbekannt Gebliebenen ersten Kontakt zu stiften“. Müller schloss mit der Vermutung: „Im Rahmen der Bemühung, die Leistungen ‚Christlicher Philosophie‘ von katholisch geprägten Denkern des 19. und 20. Jhs. zu erhellen und (wieder) zu erschließen, dürfte auch Maurice Zundel in absehbarer Zeit der ihm gebührende Platz zuerkannt werden.“19

Es wird sich zeigen, was aus dieser „absehbaren Zeit“ auf wissenschaftlicher Ebene wird. Tatsache ist, dass Zundels Denken auf spiritueller Ebene um sich greift. Aber dies darzustellen ist nicht leicht, weil Maurice Zundel eine säkulare Sprache forderte. So sagte er 1959, als gerade die Vorarbeiten für das Konzil anliefen, in einer Ansprache an Sozialarbeiter(innen): „Wir tragen in uns ein heimliches Geschehen, unendlich geheim, und jede lebendige Religion muss darin wurzeln. Ich spreche nie von Gott, nie von Gott, niemals, niemals, außer zu jenen, die das verstehen können. Denn es ist hochheilig, und wir zerschleißen das Wort ‚Gott‘, wenn wir es vor den Ohren jener aussprechen, die nicht im Vertrauen sind, die das Heimliche nicht verstehen können. Tragt Gott in euch, in eurer Nächstenliebe, in eurer Ehrfurcht, in eurem Dienen. Aber sprecht nicht darüber. Ihr würdet ihn zerschleißen.“20