Czytaj książkę: «GegenStandpunkt 1-17», strona 3

Czcionka:

3. Deutscher Erfolg in der Standortkonkurrenz als Bedingung für eine noch sozialere Republik

So viel ist nämlich klar: Um die ‚Arbeit der Zukunft‘ gestalten zu können, muss sie zunächst einmal in Deutschland stattfinden und nicht anderswo. Und für diese genuin soziale Zwecksetzung sind in Zeiten der Globalisierung passgenaue Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen zwar nötig, aber keineswegs hinreichend. Dass zur Erhaltung und Steigerung der ‚gesamtgesellschaftlichen‘ Beschäftigung ein hinreichendes Wachstum von zusammengezählten Kapitalerträgen auf deutschem Boden unbedingt her muss, entnehmen deutsche Gewerkschaften der unbestreitbaren Tatsache, dass das ohne Wachstum jedenfalls nicht gelingt. Und damit die Sozialpartner ihrer Aufgabe nachkommen und es in gehöriger Rate und Masse erarbeiten bzw. erarbeiten lassen können, müssen die ‚Rahmenbedingungen‘ stimmen. Auch für diese Aufgabe ist selbstverständlich ‚die Politik‘ zuständig, mit der sich der DGB im Prinzip einig weiß. In der Praxis aber versagen irregeleitete Politiker dann doch ein ums andere Mal an den gewerkschaftlichen Maßstäben guten Regierens, wenn sie in ihrem steten Bemühen um einen möglichst großen Anteil am weltweiten Geschäft immer wieder in die „Mottenkiste neoliberaler Rezepte“ greifen, einsinnig sozialstaatliche Leistungen kürzen, Unternehmer und Geldbesitzer der Welt im Gegenzug mit Befreiung von Sozial-, Umwelt-, und sonstigen Auflagen sowie Steuern ködern etc. Zu solchen kurzsichtigen und vor allem kontraproduktiven Ansätzen kennen Gewerkschaften erfolgversprechendere Alternativen arbeitnehmerfreundlicher Politik.

Deshalb bemühen sich die Gemeinwohlexperten von der Gewerkschaft um den Beweis, dass soziale Rücksicht deutsches Wachstum und deutsche Wettbewerbsfähigkeit stärkt: Mehr Geld in den Taschen von Beschäftigten, Arbeitslosen und Rentnern schafft ‚Binnennachfrage‘, die die deutsche Wirtschaft gut gebrauchen kann, um über ihre exportweltmeisterliche Exportabhängigkeit hinauszuwachsen. Und die Zufriedenheit, die das stiftet, ist selbst eine Produktivkraft der nationalen Gesamtbelegschaft: Der vorbildliche soziale Frieden ist ein Standortfaktor, den es unbedingt zu pflegen gilt. Außerdem wären die Kosten einer nachfrageorientierten Politik nach Keynes durchaus finanzierbar: durch das Wachstum, das sie auslöst, und mit Hilfe einer gerechteren Steuerpolitik, die die zur Kasse bittet, bei denen sich dieses Wachstum am ehesten als Bereicherung niederschlägt. Überhaupt müssen soziale Kosten kein Nachteil sein – wenn es nämlich dem deutschen Staat gelänge, den Nachteil, den diese Kosten dann doch darstellen, auch dem Rest der Welt in Gestalt von verbindlichen vorbildlichen Standards aufzudrücken: „Für einen gerechten Welthandel“ lässt der DGB seine Basis gegen das TTIP-Abkommen aufmarschieren, mit dem sich die deutsche Politik ihre Handlungsfreiheit beschneiden, also die Möglichkeit einer besseren Politik verbauen würde. Von dieser Handlungsfreiheit kann der deutsche Staat überhaupt nicht genug haben, muss seine soziale Wirtschaftspolitik doch die Konkurrenzfähigkeit des Wirtschaftsstandorts gegen die Konkurrenten sichern – z.B. die Wirksamkeit der sinnreichen Vorkehrungen, mit denen die deutschen Stahlkocher die von ihnen angewandte Arbeit rentabel machen: Denn das Wohl deutscher Stahlarbeiter gebietet, dass der deutsche Staat dem chinesischen gleichgerichtete Anstrengungen als ‚Lohndumping‘ verbietet und seinerseits wettbewerbsschädliche Klima- und Umweltgesichtspunkte fahren lässt. So viel ‚Herz aus Stahl‘ bringen DGB, Gesamtmetall und Wirtschaftsminister Gabriel glatt gemeinsam auf. Weil deutsche Arbeitsplätze immer dann bedroht sind, wenn deutsche Unternehmen und der Standort als Ganzes im harten internationalen Wettbewerb zu unterliegen drohen, geraten überhaupt alle Momente nationaler Politik in den gewerkschaftlichen Blick: eine zukunftsfähige Infrastruktur, eine Bildungspolitik, die den nötigen Wissensvorsprung deutschen Kapitals genauso sichert wie das Recht – lebenslänglich! – auf Weiterbildung für die fortschrittlichen Arbeitsplätze, die daraus entstehen sollen, usf. Unter dem Strich sorgen die schwierigen Bedingungen einer realistischen, auf Umsetzung zielenden, sozialeren Politik wie von selbst dafür, dass der DGB seinem guten Anliegen den nachgeordneten Stellenwert einräumt, den es braucht, um es voranzubringen.

Mit solchen wohlmeinenden Alternativen löst der DGB seine Eintrittskarte in den Wettstreit um die richtige Wachstumspolitik. Die politische Stimme der Gewerkschaft hat ihren festen Platz, wann und wo immer die Frage gewälzt wird, wie die Nation ihre Drangsale am besten bewältigt. Neben ihrem geballten Sachverstand in allen gewichtigen Fragen werfen die Gewerkschaften noch ihre gesellschaftliche Bedeutung in den Ring und lassen sie bei geeigneten Anlässen, vorzugsweise am 1. Mai, von möglichst viel Fußvolk bezeugen. Diesen allesamt ungemein konstruktiven Anstrengungen trägt die deutsche Politik Rechnung und weist dem DGB die Rolle zu, als „manchmal auch unbequemer“ Dialogpartner überall den Gesichtspunkt der Arbeitnehmerfreundlichkeit einzubringen – so geht die endgültige Lösung der ‚sozialen Frage‘ vom Standpunkt des sozialen Staates. Das Angebot nehmen deutsche Gewerkschafter gerne an und führen den praktischen Beweis, dass die sozial Schwachen, die „den Staat am dringendsten brauchen“, an Deutschland genau das haben, was sie brauchen: ein Erfolgsmodell von Staat, der mit Wachstum für Beschäftigung, mit internationaler Durchsetzung für deren Sicherung und als soziale Gewalt für deren Aushaltbarkeit sorgt. Grund genug für die deutsche Gewerkschaft, auf ihren Beitrag dazu stolz zu sein:

„Ohne Sozialstaat wäre das politische und ökonomische ‚Erfolgsmodell‘ Bundesrepublik nicht möglich gewesen! Und dieser Sozialstaat wiederum wäre ohne das Engagement von Millionen von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern nicht möglich gewesen!“

*

Ein Kollateralschaden ihres eigenen Erfolgs bleibt der deutschen Gewerkschaft 2017 allerdings nicht erspart: Als Gewerkschaft macht sie sich tendenziell überflüssig. Mit ihrem unermüdlichen Einsatz für die wohlverdienten Rechte, die der demokratische Staat den ‚Bürgern am Arbeitsplatz‘ angedeihen lassen soll, hat sie die Lohnabhängigen erfolgreich zu Bürgern erzogen. So erfolgreich, dass die meinen, mit eben diesen Rechten alles Nötige für ihren alltäglichen Überlebenskampf beisammen zu haben. Sie schließen folglich von allen erfahrenen Härten der Konkurrenz umstandslos darauf, dass die Politik die zuständige Instanz ist, Gerechtigkeit herzustellen. So landet jede Unzufriedenheit bei einem Auftrag an den Staat, entsprechend für Ordnung zu sorgen. Nur eine Minderheit lässt sich überhaupt noch mobilisieren und für den Standpunkt gewinnen, als Mitgliederbasis ihrer gewerkschaftlichen Vertretung zu fungieren, also ihre Konkurrenz um eine von oben angeleitete Praxis der Solidarität zu ergänzen. Die große Mehrheit setzt von vornherein darauf, dass sie mit ihren Interessen bei denen, die die Verhältnisse machen, bei Politik und Unternehmen also, an der richtigen Adresse ist. Die Gewerkschaften im Lande ergänzen, benützen und befördern diese Politisierung der Unzufriedenheit, indem sie jeden Ruf nach dem Staat als Auftrag an sich aufgreifen, als Lobby für die Belange der deutschen Lohnarbeiterschaft beim Staat und als für die soziale Ordnung im Lande mitverantwortliche politische Kraft tätig zu werden. Der DGB ist schließlich das „mit mehr als sechs Millionen Mitgliedern ... größte politische Netzwerk dieser Republik“, als das er sich – zumal im Wahljahr 2017 – berechtigt sieht und sich darum bemüht, Einfluss auf die Politik zu nehmen und seine Basis als Wähler zu mobilisieren. Mit ihrem Einsatz für eine Politik im Namen der deutschen Arbeitnehmerschaft leistet die Arbeitervertretung in Merkels Land damit ihren nicht geringen Beitrag dazu, die Arbeitnehmerschaft für deutsche Politik einzunehmen. Dumm nur, dass die erfolgreiche Politisierung ihrer Klientel auch einer Zweitkarriere des DGB als vorwiegend sozialdemokratische Lobbytruppe eher entgegensteht. Nicht eben wenige der ‚hart arbeitenden Menschen‘ haben ja so gründlich verstanden, dass sie vor allem anderen einen starken Staat brauchen, dass sie die Frage nach den sozialen Leistungen, die er ihnen schuldet, mit mehr staatlichem Durchgreifen und mehr nationaler Durchsetzung beantwortet wissen wollen – gegen In- und vor allem gegen Ausländer, die, anders als sie, nicht das Privileg verdienen, zum deutschen Volk zu gehören, dem die staatliche Fürsorge zu gelten hat. Der deutschen Gewerkschaftsbewegung wiederum beweist der Rechtsruck im einfachen Volk, wie wichtig sie als Wahrer und Verteidiger der deutschen Demokratie ist. Die Arbeitervertretung in Merkels Land deutet den gehässigen Nationalismus unverdrossen als Ausdruck einer – fehlgeleiteten – sozialen Unzufriedenheit und als Auftrag an sich, diese Unzufriedenheit wieder in Zustimmung zu ‚unserer‘ Republik und zu den regierenden Parteien zu überführen: Mehr Soziales zur Abwehr von Faschismus – leicht haben es deutsche Gewerkschaften mit ihrer nationalen Aufgabe noch nie gehabt.

© 2017 GegenStandpunkt Verlag

V. Die politische Kultur

„Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“

„Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!“

Das war im Sommer 2015. Die „Notsituation“ war die der in Ungarn festsitzenden Flüchtlingsmassen vor allem aus Syrien. „Diese Dinge“ waren die Folgen des Beschlusses der Regierung, etliche dieser Massen – fast eine Million waren es am Ende – nach Deutschland hereinzulassen: Die mussten nun nach den Regeln des Asylrechts sortiert und sicher und billig aufbewahrt werden. Die Aussage: „Wir schaffen das!“ war allerdings schon mehr als „diese Dinge“ – und betraf auch etwas anderes als die Flüchtlingspolitik, mit der Deutschland seither seine Zuständigkeit für „die Globalisierung“, zu deren recht einseitigem Nutzen für die eigene Nation die Kanzlerin sich bei Gelegenheit nachdrücklich bekennt, sowie für die weltordnungspolitischen Konsequenzen der traurigen Art, vor denen eine ambitionierte Weltordnungsmacht sich „nicht wegducken“ darf, demonstrativ wahrnimmt, und zwar für die ganze EU und mit großen Ansprüchen an deren Mitglieder. Es war eine bleibende Ansage nach innen, ans nationale „Wir“. Und zwar mit einem ausdrücklichen und einem impliziten Inhalt.

Explizit wird damit eine ziemlich historische, ebenso große wie moralisch großartige Aufgabe für die Nation beschworen; eine Herausforderung, die so ziemlich alles andere in den Schatten stellt, was die Deutschen sonst so bewegt. Und das ist unausdrücklich, aber unmissverständlich eine kühne Aussage über das eigene Land, nämlich dass das so prächtig dasteht, dass es im Grunde keine hauseigenen Probleme hat, sondern stattdessen die Macht und die Freiheit, sich um auswärts generierte Weltprobleme zu kümmern; damit indirekt, aber erst recht unmissverständlich, ein Kompliment an die eigene Regierungskunst, die die Nation – mit ihren Wachstumserfolgen nach überstandener Krise, mit ihrer Schwarzen Null, mit ihren vielen, vielen Arbeitsplätzen, mit ihrer Stärke im Vergleich zu allen Nachbarn – so prächtig dastehen lässt. Darin enthalten ist die Aufforderung, ja die moralische Verpflichtung des angesprochenen „Wir“ zu ganz grundsätzlicher Zufriedenheit – mit sich, seiner Lage, seiner Regierung, der ganzen heimatlichen Welt. Kritik jeglicher Art, die Erinnerung an irgendwelche sozialen Nöte oder auch nur „Fragen“, so etwas ist als kleinlicher Vorbehalt gegen das eigentlich selbstverständliche, abrufbare Einverständnis des zu imperialer Größe berufenen Volkes mit seiner Regierung, die die damit verbundenen Aufgaben ungescheut in Angriff nimmt, voll ins Abseits gestellt.

Aber natürlich geht es keineswegs um einen Aufruf zu allgemeiner Zufriedenheit. Verlangt ist eine Sonderleistung der angesprochenen Volksmassen. Nicht eine von der Gattung „Blut, Schweiß & Tränen“; noch nicht einmal eine des Verzichts; überhaupt keine von richtig materieller Art. Was das „Wir“ „schaffen“ soll, ist eigentlich nur, dass es sich den Zuzug von Flüchtlingen gefallen lässt; und das nicht aus politischen Gründen – auch wenn die Kanzlerin mit ihren Hinweisen auf den Segen der „Globalisierung“ und auf Deutschlands enorme weltordnungspolitische Wichtigkeit deutlich genug darauf anspielt –, sondern aus moralischen: aus Großzügigkeit gegenüber fremdem Elend, in einem Akt vorgestellter Selbstlosigkeit, einzig für den ideellen Lohn, von der eigenen Großartigkeit als Nation mal so richtig begeistert sein zu dürfen und voll eines Sinnes mit der Regierung, die ihre Macht an den Flüchtlingen als pure Verantwortlichkeit vorbuchstabiert.

Dass ein gutes Volk wie das deutsche seine Regierenden nicht am Inhalt ihrer Herrschaft misst, sondern als moralische Veranstaltung, nach den Maßstäben der amtlichen Heuchelei beurteilt, davon durfte Merkel getrost ausgehen. Dass dieses Volk aber ausgerechnet wegen eines humanitären Gesinnungseinsatzes für das Elend ungebeten zugewanderter Ausländer ohne jeden erkennbar gemachten Nutzen für die Wohlfahrt der Nation von sich und seiner Regierung begeistert sein würde: diese Rechnung ist noch nicht einmal zur Hälfte aufgegangen. Das ist als moralische Zumutung aufgenommen worden und hat Merkels Land zu Bekenntnissen und Offenbarungen seiner politischen Gesinnung und geistigen Verfassung veranlasst, die die Nation seither ziemlich gründlich spalten.

Aufruhr der Patrioten: Von „Rechtsbruch!“ bis „Widerstand!!“

Mit ihrem „freundlichen Gesicht“ hat die Kanzlerin sich einen anschwellenden Protest eingefangen, der das wirkliche Gesicht der Republik zur Hälfte prägt: Protest gegen den bitterernst genommenen Moralismus, die behauptete Großzügigkeit ihrer Flüchtlingspolitik sowie gegen die „ungebetenen Gäste“, die hereinströmenden „Fremden“.

Schon vor dieser „Flüchtlingskrise“ hatte ein erheblicher Teil der politischen und politisierenden Elite der Nation an Merkels Politik der europäischen Krisenbewältigung in eindeutigem Sinn Anstoß genommen: Dass die Regierung sich bereitfand, Griechenland und andere Partnerstaaten trotz Überschuldung zu kreditieren – in oppositioneller Lesart: Europas Versagern mit viel Geld unter die Arme zu greifen, und das ausgerechnet, damit die „unseren“ Euro weiter mit benutzen können, den sie moralisch gesehen gar nicht verdienen! –, das hielten nicht bloß ein Hamburger Ökonomie-Professor, sondern eine komplette von ihm gegründete Partei sowie im Grunde das halbe Berliner Parlament für einen Ausverkauf wohlerworbener nationaler Besitzstände und äußerst berechtigter deutscher Interessen. Schon das war weit mehr als eine Meinungsverschiedenheit über eine währungspolitische Sachfrage – und sowieso ganz etwas anderes als eine Kritik an Deutschlands ökonomischem Europa-Imperialismus. Was da virulent wurde, war der Standpunkt einer politischen Moral, die felsenfest davon ausgeht, dass die Nation, also die durchorganisierte Vereinigung einer Landesbevölkerung zur Basis staatlicher Macht und zur Manövriermasse kapitalistischer Geschäftstätigkeit, ein unbezweifelbarer höchster Wert an sich sei – was erst einmal noch nichts Besonderes, sondern die allgemeingültige Lebenslüge dieses Zwangsverbands ist. Zur Absage an die Regierungslinie wurde und wird dieser Standpunkt, weil er die Politik des Hineinregierens in andere Länder als Dienst an den Konkurrenten deutet: eine Diagnose, die das Verhältnis von Aufwand und Ertrag für die eigene „nationale Sache“ in der internationalen Konkurrenz im Sinne eines brutal exklusiven vaterländischen Rechtsbewusstseins wahrnimmt, vom Standpunkt des „heiligen Egoismus“ der Nation, der von den – ohnehin und allemal nur sehr begrenzt strapazierbaren – frommen Tugenden der Konkurrenz: Rücksichtnahme und Solidarität, gar nichts wissen will, vielmehr Stärke und Durchsetzung gegen andere für die erste Staatspflicht hält, hinter der erst einmal ganz lange gar nichts kommt.

Dieser Standpunkt, wenn er erst einmal erregt ist und durch vernehmlichen Beifall „von oben“ Recht bekommt, regt sich nicht etwa wieder ab, wenn es, statt um fremde Staatsschulden, um leibhaftige Fremde in Existenznot geht; und auch nicht, wenn gemäß kanzleramtlicher Ansage eine Moral der allgemeinmenschlichen Mildtätigkeit zu der Obermoral der Volkseinheit, des quasi naturwüchsigen Zusammenhaltens des Staatsbürgerkollektivs gegen den Rest der Welt, hinzutreten soll. Ein derart angespitzter Nationalismus sieht in so einer Aufforderung die Zumutung, sein Höchstes zu relativieren; in den menschlichen Opfern aus fremden Ländern erkennt er die Personifizierung eines Willens, dem das eigene nationale Wertesystem nicht angeboren, also wesensfremd und folglich mit tiefem Misstrauen zu begegnen ist. Und dieser Patriotismus reagiert so gehässig und so militant, wie das nur eine gediegene Moral hinkriegt; das demonstrieren Pegida, AfD, CSU und Merkel-kritische Teile der Kanzlerpartei je auf ihre Weise, seit die Chefin in jenem Sommer 2015 gemeint hat, sie könnte mit der empfehlenden Deutung ihres weltordnungspolitischen Engagements als Politik des „freundlichen Gesichts“ für ihre und mit ihrer Nation Ehre einlegen. In unterschiedlichen Tonlagen, angesiedelt zwischen Galgen für Merkel und ihren Vize auf Demo-Plakaten und dem in staatsmännischem Bairisch vorgetragenen Vorwurf fortdauernder Rechtsverletzung durch die eigene Berliner Regierung, machen Merkels Kritiker die Kanzlerin zur Problem- bis Hassfigur ihres Patriotismus. Der findet sich durch die offizielle Flüchtlingsnotstandsbewältigungspolitik zutiefst beleidigt; nicht wegen irgendeiner real fassbaren Schädigung von Recht und Ordnung, sondern weil er in seiner Grundüberzeugung beleidigt ist, wonach dem national Eigenen absoluter Vorrang vor allem Fremden gebührt; Vorrang nicht nur im Sinne einer klaren Reihenfolge, sondern im Sinne eines ausschließenden Gegensatzes. Versuche der CSU, diesem Gegensatz und dem unrelativierbaren Vorrecht des Kollektivs der Eingeborenen mit der Konstruktion einer „Leitkultur“ einen greifbaren Inhalt zu geben, also eine positive Fassung der Ausgrenzung alles Außernationalen und seiner menschlichen Repräsentanten vorzulegen, fallen naturgemäß albern aus, sind aber vor allem völlig überflüssig: Die Empörung über eine Politik, die dem heimatlichen Menschenschlag die Anwesenheit von Fremden ohne angeborenes Daseinsrecht zumutet, reicht völlig aus, um eine starke patriotische Minderheit davon zu überzeugen, dass ihre angestammte Heimat von ein paar hunderttausend syrischen und anderen Kriegs- und Elendsflüchtlingen bis zur Unkenntlichkeit überfremdet zu werden droht; welche Vorstellungen einer mit seiner „Heimat“ verbindet, ist dafür egal – die Wirklichkeit der heimischen Verhältnisse, das wüste Ambiente des deutschen Kapitalismus, ist es ohnehin mit Sicherheit nicht! So kommt es zu einer gewissen Sensation: Aufgestachelt durch Pegida-Umzüge, zur wählbaren Alternative verarbeitet durch die AfD, von sehr weit oben ins Recht gesetzt durch die rechte Hälfte der christlichen Regierungspartei in Berlin und die bayerische Staatsregierung, traut sich der nationale Bürgersinn in beträchtlicher Masse und Deutlichkeit, der amtierenden Chefin ihr über mehr als ein Jahrzehnt bewährtes und wiederholt bestätigtes Abonnement auf seine volle Zustimmung zu kündigen.

Mit dem Wegfall dieser Hemmschwelle bricht sich sogar im extrem sozialfriedlichen Deutschland allerhand soziale Unzufriedenheit Bahn. Enttäuschter bürgerlich-proletarischer Materialismus, bis dato stets mit dem schlagenden Verweis auf den gesamtnationalen Erfolg in Sachen Geschäft und Macht ins Abseits bugsiert, findet sich durch den anerkannten Vorwurf der nationalen Pflichtvergessenheit an die Regierenden nationalmoralisch ins Recht und dadurch freigesetzt. Gründe für solche Unzufriedenheit gibt es ohnehin reichlich; und die kommen mit einem Mal zur Sprache, vorwurfsvoll wie lange nicht. Auf ihren Inhalt kommt es dafür allerdings gar nicht weiter an. Den erregten Patrioten, auch aus der wohlsituierten „Mitte der Gesellschaft“, taugt das massenhafte soziale Elend im Land vor allem eben als Beleg für regierungsamtlichen Verrat am Volk und zur Bebilderung seiner nationalistischen Empörung. Die bemisst sich deswegen auch gar nicht an der Realität dieses Elends, geschweige denn an seinen Gründen. Und sie braucht auch nicht den sonst geforderten Übergang zu Rezepten zu machen, wie die inkriminierte Armut zu beheben wäre: Sie ist im Recht, weil sie auf ungebeten anwesende Ausländer verweisen kann, die die Regierung trotzdem nicht verrecken lässt. Dafür sind die Zitate aus der Welt der niederen Etagen der deutschen Klassengesellschaft gut.

Noch besser, noch drastischer und deswegen allseits noch beliebter ist die Anklage gegen die Regierung und ihre Flüchtlingspolitik per Zusammenschluss mit dem „Thema“ Sicherheit. Wo es um Sex & Crime, Mord und Totschlag geht, da wird der bürgerliche Glaube an die Staatsgewalt als Fürsorgeanstalt fürs Volk fundamental; von allen Rechtfertigungen herrschaftlicher Gewalt ist ihre Herleitung aus dem Schutzbedürfnis der beherrschten Untertanen noch immer die schlagendste. Um den Nachweis einer wirklichen Gefahrenlage braucht die sich nicht zu bemühen. Die Übersetzung von Unterwerfung in den Anspruch, behütet zu werden, von Gewaltmonopol in Schirmherrschaft steht ganz grundsätzlich mit all den Gegensätzen fest, die der bürgerliche Staat in seiner Gesellschaft verrechtet, im Umgang mit seinesgleichen stiftet und denen er seine Angehörigen aussetzt. Wenn er dabei mit seiner Rechtsgewalt die große Grenzlinie zieht zwischen den eigenen Bürgern, deren Rechte er garantiert, und den anderen, die eigentlich auswärtigen Hoheiten angehören und verpflichtet sind, dann gelten automatisch ein paar fundamentale Gleichungen: Wer nicht „von Haus aus“ Untertan der gleichen Herrschaft, also fremd ist, dem ist nicht zu trauen; wenn solche Fremden uneingeladen da sind, sind sie im Prinzip ein Risiko; wenn der Staat sie hereinlässt und duldet, dann geht das nur mit permanenter Kontrolle. Und wenn daran Zweifel bestehen, dann hat erstens die Herrschaft ganz elementar versagt. Und dann geht zweitens die Kette der Gleichungen weiter. Da braucht es nur ein bisschen Nachhilfe der Volksfreunde von Pegida bis Seehofer, und ihren Schützlingen ist klar: Nicht alle Flüchtlinge sind Terroristen, aber alle Terroristen, vor denen ein Deutscher sich fürchten muss, sind Migranten; da muss nichts ermittelt werden, da herrscht eine gewissermaßen begriffliche Übereinstimmung. Auch harmlose Missetaten von Asylbewerbern bestätigen das Urteil, das aus der rechten patriotischen Gesinnung folgt und das sich in der Empörung über Merkels „Willkommenskultur“ laut zu Wort meldet; „Köln“ und Attentate ausländischer Terroristen sind dann die hochwillkommene glanzvolle Bestätigung. Dass solchen Untaten ein Vielfaches an auch tödlichen Übergriffen empörter Patrioten auf Asylbewerber und deren Unterkünfte gegenübersteht, rechtfertigt in der richtigen patriotischen Wahrnehmung solche Übergriffe, macht sie zumindest verständlich im Sinne von gut nachvollziehbar. Was nottut, damit dergleichen unterbleibt und das aufgehetzte Volk sich eventuell wieder abregt, ist staatliches Durchgreifen im Namen der Sicherheit bei Abwehr und Kontrolle der Fremden; und zwar mit demonstrativer Rücksichtslosigkeit, die dem patriotischen Gemüt hinreichend bestätigt, wie sehr es im Recht ist mit seiner Ausländer-„Angst“.

Der Übergang zur auf Facebook mitgeteilten und geteilten Freude über ertrunkene Migranten ist diesem Standpunkt nicht fremd. In Merkels Republik weiter verbreitet ist die höfliche Fassung, wonach Todesfälle auf dem Weg der Kriegs- und Elendsflüchtlinge nach Europa oder auch zurück nach allfälliger Abschiebung zwar unschön, tunlichst auch zu vermeiden sind, das aber bestimmt nicht dadurch, dass man legale Zuwanderungswege eröffnet oder Geflüchtete einfach bleiben lässt: Leichen sind kein Argument gegen die nötige Strenge bei der Vollstreckung der Rechtslage, die zwar gerade in diesem Bereich dauernd geändert wird, aber völlig unveränderlich feststeht und auch nicht locker gehandhabt werden darf, wenn ein Ausländer davon einen Vorteil hätte. Das ist die zivile Variante, die für „bürgerliche Wähler“ akzeptable, in der ein heimatliebendes Volk von seiner Obrigkeit erwarten darf, dass die für die Sicherheit der Ihren, nämlich für deren gefühltes Recht auf Fernhaltung von Fremden, über Leichen geht – wirklich, nicht bloß rhetorisch. Dabei gilt für ganz viele deutsche Christen und bayrische Katholiken noch nicht einmal mehr die Klausel, dass man für Menschlichkeit und fromme Nachrufe auf – womöglich ja doch – „unschuldige Opfer“ den lieben Gott und dessen christlich-abendländische Kirchen hat: Wenn Papst und Pfarrer ihrem gemäßigt bis hasserfüllt fremdenfeindlichen Volk allzu energisch ins Gewissen reden, verzeiht man ihnen das nicht mehr als berufsbedingt mangelnden Realismus, sondern muss sich über das Fehlen einer leitkulturgemäßen Gesinnung und eines zeitgemäßen Problembewusstseins wundern.

In diesem Geist macht sich eine neue rechtsradikale Intellektuellenszene auch an ein paar heiligen Kühen der etablierten demokratischen Politkultur zu schaffen. Die Tugend der Toleranz, die ihnen, schon ziemlich defensiv, als allgemeingültige Norm entgegengehalten wird, wenn sie gegen fremde Religionen, Sitten und Leute hetzen, lassen die sprachbegabten alternativen Patrioten für die Anwesenheit Andersartiger in ihrer Heimat nicht gelten und machen mit der Parole: „Heute tolerant, morgen fremd im eigenen Land!“ schon sehr eindeutig klar, dass sie Toleranz insgesamt nicht für eine gute Sache halten, die bloß den Zugereisten nicht zusteht, sondern für eine Schwäche; für den Beginn der Selbstaufgabe des Volkes, das als Kollektiv doch von einer Identität lebt, deren Inhalt auf alle Fälle darin besteht, dass er vor jeder vernünftigen Überlegung und Entscheidung feststeht, quasi von Natur; und für eine Todsünde der dafür zuständigen Staatsgewalt. Das hindert diese „Identitären“ und ihren Anhang natürlich überhaupt nicht daran, ihren eigenen Standpunkt, gerade in seinen gemeinsten Fassungen, mit dem Plädoyer: „Man wird doch wohl noch sagen dürfen ...“ methodisch gegen jede Zurückweisung oder auch nur Infragestellung zu immunisieren. Tatsächlich meinen sie damit ja auch nicht bloß die demokratische Lizenz, folgenlos Blödsinn äußern zu dürfen, sondern bestehen darauf, öffentlich Recht zu bekommen. Dass das für ihren Geschmack viel zu wenig der Fall ist, drücken die Wortführer rechtsradikaler Empörung mit dem Vorwurf „Lügenpresse!“ aus, der auf alles andere als die Entlarvung von Falschmeldungen zielt, geschweige denn angewiesen ist. Dass die gemeinte demokratische Öffentlichkeit ihnen tatsächlich enorm viel Aufmerksamkeit widmet, nutzen sie für „gezielte Provokationen“, mit denen sie gerne den traditionellen bundesdeutschen Antifaschismus mit seinen Sprachverboten und Sprachdenkmälern aufweichen würden. Dem mangelnden Erfolg in diesem Punkt steht immerhin der Effekt gegenüber, dass die sonstige Stimmungsmache gegen die Sichtbarkeit von Migranten im deutschen Städtebild, die unzweideutig auf deren Entfernung aus dem deutschen Heimatland zielt, Einfälle wie die Forderung nach einem „Burka-Verbot!“ oder die triumphierende Todesmeldung über „Multikulti“ als gemäßigt gelten.

An der Art Heimatgefühl wärmt sich in Merkels Land die halbe Nation.

43,15 zł