Gegendiagnose II

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Gegendiagnose II
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Esto Mader, Cora Schmechel, Kim Kawalska, Alex Steinweg (Hg.)

Gegendiagnose II


Die Reihe Get well soon. Psycho_Gesundheitspolitik im Kapitalismus entstand aus dem Bedauern über den Platz, den eine radikale Kritik an den Institutionen und Disziplinen Psychiatrie und Psychologie aktuell einnimmt. Das Thema Antipsychiatrie wird wieder zurück in den Kanon emanzipativer Politik gebracht und inhaltlich aktualisiert. Es ist notwendig, sich mit der Reformierung des psychiatrischen Systems auseinanderzusetzen und die Kritik dem aktuellen Zustand anzupassen, entsprechend auch auf die Kategorien von mentaler Gesundheit_Krankheit schon außerhalb der Anstalt auszuweiten. Zudem wird ein Raum geschaffen, um in Abgrenzung zum verkürzten Mainstream-Diskurs, welcher vorrangig eine skrupellose Pharma-Industrie am Werke sieht, radikal die gesellschaftliche Funktion des psychiatrisch-psychologischen Systems zu beleuchten und dabei auch die Leerstellen der bisherigen Antipsychiatrie zu füllen. Daher beschäftigt sich diese Reihe vor allem mit Fragen des Zusammenwirkens psychiatrisch_psychologischer Konzepte mit rassistischen, sexistischen und ökonomischen Unterdrückungsverhältnissen und ihren Wirkungsweisen im neoliberalen Gesundheitssystem.

Esto Mader, Cora Schmechel, Kim Kawalska, Alex Steinweg (Hg.)

Gegendiagnose II

Beiträge zur radikalen Kritik an Psychologie und Psychiatrie

Get well soon. Psycho_Gesundheitspolitik im Kapitalismus. Band 2

© 2019 by edition assemblage

Postfach 27 46

D-48014 Münster

info@edition-assemblage.de | www.edition-assemblage.de

Umschlag: Henna Räsänen

Digitalsatz: Zeilenwert GmbH | zeilenwert.de

Digitalvertrieb: Libreka GmbH | info.libreka.de

ISBN ePub: 978-3-96042-813-8

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort der Herausgeber_Innen

Alex Steinweg: ›Irre‹, ›Krank‹ und ›Wahn‹ – eine (zu) kurze Einführung in die Psychiatriekritik

Perspektiven und Erfahrungsreflexionen

Da: Give me a word

Kalle H. und Blu D.: Nicht-binär_trans* in Therapie? Eine (Selbst-)Reflexion aus zwei Perspektiven

Nello Fragner: Zwischen den Knallen wachsen zarte Pflänzchen Zu Depression und (den Versuchen von) Positionierung

Nadire Biskin: Wie meine Mutter mich mit Victoria Beckham verwechselte

Caroline von Taysen: Mein Ausstieg aus der »professionellen Neutralität« Vom Umgang mit Machtverhältnissen in der psychosozialen Arbeit

Robin Iltzsche: Mit dem Rücken zur Wand – Eine Autoethnographie zum Unbehagen … in meiner professionellen, psychiatrischen Identität

Kritik an konkreten Praktiken

Peet Thesing: »Dafür sind Sie nicht stabil genug« Mechanismen der Unterwerfung und des Widerstands in der Psychiatrie

Psychiatrie-kritische Gruppe Bremen: Zur Lage der forensischen Psychiatrie

Jay: Maulkorb Diagnostik – wenn aus Gewalterfahrungen Symptome werden

Anne Roth und Clara Kern: Antifeminismus vor Gericht – Über die Macht psychologischer Sachverständiger in Sexualstrafprozessen

Anne Allex: Keine Fiktion: Erst psychiatrisch begutachtet, dann wohnungslos

Theoriegenese

Franziska Hille: Auf dass Selbstfürsorge möglich(er) wird – und zugleich auch weniger nötig.

Selbstfürsorge, ver_Rückte Zustände und Psychiatriebetroffenheit im Kontext gegenwärtiger neoliberaler gesellschaftlicher Verhältnisse

Eva Georg: Selbstsorge. Distanzierung. Professionalität. Eine problematische Trias in Beratung und Psychotherapie

Robin K. Saalfeld: Von ›Zwischengeschlechtlichkeit‹, Störungen der Geschlechtsidentität und Geschlechtsdysphorie.

Beschreibung einer Genealogie der Transsexualität als Emanzipationsversuch

Sabrina Saase: Augen auf! – Zur historischen Ver(antw)ortung intersektional zu denken

Eliah Lüthi: PsychGewalt_ig: Psych(iatrische) Gewalt als Diskriminierungsstruktur verstehen

Kritik der Kritik

Michael Zander: Trauma, Trigger, Trivialisierung.

Zur Diskussion über »Trigger-Warnungen« an Hochschulen und in der politischen Linken

Judith (ohne Nachnamen): Würdest du freiwillig in eine Psychiatrie gehen?

– Eine Erlebnisreflexion

resist_pathologization: ›Un-/Fähig, sich selbst zu regieren‹

Vom Ausschlusscharakter einer neoliberalen Norm

Bonnie Burstow (Übersetzung: Clara Funk): Die Psychiatrie klein kriegen: Das Zermürbungsmodell

Autor_Innen und Mitwirkende

Endnoten

Weitere Bücher

Vorwort der Herausgeber_Innen 1

Bald vier Jahre ist es her, dass der erste Gegendiagnose- Band der Reihe Get well soon! zur kritischen Analyse von Psycho- und Gesundheitspolitik erschien. Der Band war motiviert durch den Eindruck, dass eine Kritik an der Institution und wissenschaftlichen Disziplin der Psychiatrie, wie auch ihrer ›Schwester‹ der Psychologie, in der aktuellen linken Gesellschaftsanalyse kaum noch eine Rolle spielte. Psychische Krisen sowie Verhaltens- und Wahrnehmungskonflikte schienen vielfach unhinterfragt ein je individueller Fall für ›professionelle Hilfe‹. Die Geschichte der alten wie neuen Antipsychiatrie2 schien weitestgehend vergessen, während gleichzeitig in allen gesellschaftlichen und politischen Lagern eine Zunahme an psychiatrischen Diagnosen und psychischen Krisen festgestellt wurde.

Dies wurde vor sechs Jahren anlässlich des DSM-V (der fünften Auflage des internationalen Klassifikationskatalogs der psychischen Erkrankungen) maßgeblich auch vom US-amerikanischen Psychiater Allen Frances getan. Er kritisierte eine maßlose Gier und den Bedeutungsdrang von Psychiater_Innen und Pharmaindustrie, die Diagnosekriterien herunterstufen und neue Diagnosen ›erfinden‹ würden. Solche Ansätze beklagen zwar ein ›Zuviel‹ oder ›Zu weit gehen‹ einzelner Institutionen, aber nicht die grundlegende gesellschaftliche Funktion, die eine Unterscheidung von gesundem und krankem Denken und Empfinden bedeutet.

 

Das Anliegen der Gegendiagnose war und ist dagegen, eine Alternative zu allzu vereinfachten oder reformistischen Kritiken zu bieten und auch die antipsychiatrische und psychiatriekritische Bewegung selbst kritisch zu betrachten. Wichtig ist uns die Institution Psychiatrie und ihre Konzepte und Glaubenssätze in das Netz gesamtgesellschaftlicher Machtverhältnisse einzuordnen und sie gerade auch als Institution der Reproduktion und Stabilisierung gesellschaftlicher Unterdrückungsverhältnisse zu betrachten.

Anlässe einer linken Auseinandersetzung mit Konzepten und Erlebenswelten von Krise, Verrücktheit und sogenannten psychischen Störungen und vor allem mit der Frage, wie ein entstigmatisierender und emanzipativer Umgang damit aussehen kann, gab es auch in den letzten vier Jahren: die Debatte um das letztlich entschärfte Psychiatrie-Gesetz in Bayern, welches eine standardisierte polizeiliche Meldung von Psychiatriebetroffenheit zum ›Schutz‹ von Individuum und Gesellschaft vorsah; die permanente Prekarität von und bürokratische Hürden für alternative Institutionen wie dem Berliner Weglaufhaus und eine sich ausweitende Kultur des eigenverantwortlichen Selbstmanagements von Gefühlen, Stimmungen und Einstellungen in der individualisierenden und entpolitisierenden Rhetorik der Psy-Disziplinen, vom Mood Tracking bis zu Abgrenzungs- und Distanzierungstechniken als Self-Care.

Im vorliegenden zweiten Band liegt der Fokus nun auch verstärkt auf den Momenten der Selbstregierung unter Begriffen und Konzepten von psychischer Gesundheit und Krankheit, Normalität und Eigenverantwortung. Vor allem zeichnet sich die ›zweite Gegendiagnose‹ durch eine große Vielfalt an expliziter und reflektierter Diversität der Perspektiven aus, ebenso durch eine Varianz der Beitragsformen: von wissenschaftlicher abstrakter Theoriearbeit und Analyse über autoethnografische Zugänge, bis hin zu sehr persönlichen Erfahrungsberichten und Prosa, von der Betroffenen- über die Angehörigen-Perspektive bis zu der Perspektive der ›Professionellen‹. Dieses Nebeneinander der Perspektiven ist hierbei kein Zufall, sondern als Kritik an der vorherrschenden Definitionsgewalt der medizinisch-psychiatrischen Wissenschaft zu verstehen.

Und wie schon im ersten Band verfolgen wir keine einheitliche inhaltliche Stoßrichtung, weder innerhalb der Herausgebendengruppe noch in der Autor_Innenschaft. Vielmehr soll der Band Raum für unterschiedliche Sichtweisen bieten und die Vielseitigkeit aktueller kritischer Perspektiven auf Psychiatrie und Psychologie deutlich machen. Exemplarisch zeigt sich dies am Begriff der Selbstbestimmung, der in verschiedenen Beiträgen sowohl als Forderungsinhalt und Ziel wie auch als zu kritisierende Norm und voreingenommenes Ideal betrachtet wird.

Nicht zuletzt war und ist es Anliegen der Gegendiagnose, eine solidarische, aber durchaus kontroverse Debatte zu fördern.

Aufbau des Bandes

Den Auftakt macht Alex Steinweg mit einem Überblick zur Geschichte der Psychiatrie und ihrer Kritik sowie Anregungen für aktuelle praktische Psychiatriekritik und Betroffenensolidarität. Anschließend eröffnet ein Gedicht von Da das Kapitel »Perspektiven und Erfahrungsreflektionen«, in welchem Beiträge versammelt sind, die explizit oder implizit Fragen zu diversen Formen von Betroffenheit und verschiedenen Machtpositionen im psychiatrisch_psychologischen System aufwerfen. Kalle H. und Blu D. betrachten aus verschiedenen nicht-binären Trans*Perspektiven die konkreten subjektiven Auswirkungen der binär-logischen Zwangs-Pathologisierung und von Trans*geschlechtlichkeit im Gesundheitsversorgungsystem. Nello Fragner nimmt uns im folgenden Beitrag mit auf eine persönliche Retrospektive zur sanktionierenden Funktion einer immanenten Bedrohung von Psychiatrisierung. Nadire Biskins öffentlicher Brief »Wie meine Mutter mich mit Victoria Beckham verwechselte« macht im Anschluss deutlich, dass es neben ›betroffen‹ und ›nicht betroffen‹ von Psychiatrisierung durchaus noch weitere Formen der Involviertheit und Betroffenheit gibt. Die beiden anschließenden Beiträge von Caro von Taysen und von Robin Iltzsche berichten aus der Perspektive von ›kritischen Professionellen‹ von ihren Erfahrungen und Einsichten in die eigenen Verstrickungen und beschränkten Kritikpotentiale als Psycholog_In und Psychiatrie-Personal. Caro von Taysens Beitrag hinterfragt dabei die hierarchisierenden Grenzen zwischen ›denen‹ und ›uns‹, welche in der professionellen Ausbildung und Praxis sehr zentral und bedeutsam sind und Robin Iltzsche macht anhand persönlicher Erfahrungen eindrücklich deutlich, wie schwierig und ambivalent eine kritische Haltung in und zu der Institution Psychiatrie in der Praxis sein kann.

In der psychiatrischen Anstalt geht es sodann auch im zweiten Kapitel »Kritik an konkreten Praktiken« weiter. Peet Thesing beschreibt an einem Fallbeispiel die Unterwerfungs- aber auch Widerstandsmomente eines Psychiatrieaufenthaltes. Auch die Psychiatrie-kritische Gruppe Bremen beschäftigt sich mit der Institution Psychiatrie, speziell jedoch mit der forensischen, also kriminalistischen, welcher die Legitimation zukommt, Menschen auch nach Vollzug einer Haftstrafe weiterhin ›im Dienste der Sicherheit‹ gefangen zu halten. Die Praktik der Sicherheitsverwahrung wird in diesem Beitrag gesellschaftlich eingeordnet und als Menschenrechtsverletzung kritisiert. Massiv ist auch die Kritik von Jay an der Pathologisierung von Folgeerscheinungen gravierender und systematischer Gewalt. Statt gesellschaftliche Strukturen für krank zu erklären, die solche Gewalt ermöglichen, werden die Opfer pathologisiert und auf dieser Basis bevormundet und somit erneut zu Opfern gemacht. Auch Anne Roth und Clara Kern kritisieren den psychiatrisch_psychologischen Umgang mit sexualisierter Gewalt, hier konkret in Form der »aussagepsychologischen Glaubhaftigkeitsgutachten«, welche den Anspruch erheben zwischen ›falscher/eingebildeter‹ und ›richtiger/wahrer‹ Vergewaltigungs- und Missbrauchserinnerung unterscheiden zu können. Die Autor_Innen weisen nach, wie diese Praktik zu einer Täter-Opfer-Umkehr beiträgt und gesellschaftliche Machtverhältnisse stabilisiert. Den Abschluss dieses Kapitels bildet ein Beitrag von Anne Allex, welcher die immensen Folgen von psychologischen Gutachten durch den Ärztlichen Dienst der Arbeitsagentur für Betroffene darlegt.

Im anschließenden Kapitel » Theoriegenese« beschäftigen sich zunächst Franziska Hille und Eva Georg kritisch mit dem ambivalenten Konzept der Selbstsorge für Menschen in ver_Rückten Zuständen und für psychotherapeutisch oder beraterisch arbeitende Personen. Anschließend formuliert der Beitrag von Robin Saalfeld eine Genealogie des Konzeptes der Transsexualität sowie eine, auch aus persönlichen Erfahrungen speisende, aktuelle Situationsbeschreibung und Kritik. Sabrina Saase plädiert anschließend für die drängende Notwendigkeit der Einbeziehung intersektionaler Perspektiven in die wissenschaftliche Disziplin der Psychologie, gefolgt vom Beitrag Eliah Lüthis, in welchem das Konzept der »PsychGewalt« und ihre verwobenen Wirkungsformen anschaulich erklärt werden, um sie so an_greifbarer zu machen.

Ein letztes Kapitel bildet auch diesmal wieder die »Kritik der Kritik« in welchem aktuelle linke und psych_kritische bis antipsychiatrische Diskurse und Praktiken zum Gegenstand gemacht werden. Das Kapitel beginnt mit einem Beitrag von Michael Zander, der die Psychologisierung (linker) Politik kritisiert. Es folgt ein Artikel von Judith zu ihrem Erleben von allzu theoriegeleiteter linker Psychiatriekritik, die nicht an die realen Erfahrungen und Empfindungen Psychiatriebetroffener anschließen kann. resist_pathologization leistet im darauf folgenden Beitrag eine umfassende und fundierte Kritik am Konzept der Selbstbestimmung als Ziel emanzipatorischer Politik in Theorie und Praxis. Sehr freuen wir uns, als abschließenden und abrundenden Beitrag die erstmalige Übersetzung eines Textes der kanadischen antipsychiatrischen Wissenschaftlerin Bonnie Burstow präsentieren zu können. Mit dem von Clara Funk übersetzten Artikel zum »Zermürbungsmodell« endet der Band so mit einem selbstkritischen aber positiven Ausblick auf die Zukunft der emanzipativen, kritischen Umgangsweisen mit Psychologie und Psychiatrie.

Danksagungen

Zunächst einmal möchten wir uns bei all unseren Autor_Innen bedanken für die produktive und vertrauensvolle Zusammenarbeit! Auch allen Leser_Innen des ersten Bandes, die für die Notwendigkeit einer zweiten Auflage gesorgt haben, danken wir hiermit – nicht zuletzt der große Erfolg des ersten Bandes hat zur Motivation für einen zweiten Band beigetragen. Auch die vielen Einladungen für Lesungen des Bandes, von Bremen bis Wien, und die hierbei geführten Diskussionen haben uns angetrieben, das Projekt weiter zu verfolgen. Trotz aller Kontroversen und letztlich getrennter Wege gilt der Dank auch Fabian Dion für die Initiierung der Gegendiagnose ›damals‹ 2014. Vor allem danken wir Willi Bischof und der edition assemblage für die Ermöglichung und Unterstützung des Projektes!

Wir freuen uns über Kritik, Anregungen und Vorschläge für den dritten Band an

getwellsoon@riseup.net

›Irre‹, ›Krank‹ und ›Wahn‹ – eine (zu) kurze Einführung in die Psychiatriekritik 3

Alex Steinweg

Einleitung

Innerhalb einer links-aktivistischen Szene scheint es in diskriminierenden Situationen einen Konsens über angemessene Handlungsweisen zu geben. Das Spektrum reicht davon eine von Abschiebung bedrohte Person zu verstecken, sexistischen und rassistischen Sprachgebrauch zu problematisieren und geht bis dahin Diskussionen über mögliche diskriminierende Lesarten einzelner Wörter, Kleidungsstile und Frisuren zu führen (vgl. u.a. Latton 2016: o.S.; Yaghoobifarah 2016a: o.S.; 2016b: o.S.).

Aber wie sieht es mit einem Konsens darüber aus, eine Person zu verstecken und zu unterstützen, die zwangsbehandelt werden soll? Schnell heißt es, dass von außen nicht nachvollziehbares Verhalten ›krank‹ sei und die Betroffenen ›professionelle Hilfe‹ bräuchten. Aber wodurch legitimiert sich ›professionelle Hilfe‹ eigentlich? Und was bedeutet eigentlich ›krank(haft)‹? Schon die ›Alte Psychiatriekritik‹, eine Bewegung vor allem kritischer Wissenschaftler_Innen und vereinzelt auch praktizierender Psychiater_Innen in den 1960er Jahren, hat sich mit diesen Fragen beschäftigt und es ist ihnen gelungen, eine emanzipative Kritik an vorherrschenden medizinisch geprägten Erklärungsmodellen zu formulieren (vgl. u.a. Basaglia: 1980; Chesler: 1977; Cooper: 1972; Dörner: 2001; Foucault: 1973; Laing: 1994; Schaps: 1982; Szasz: 1972) und ›psychische Krankheiten‹ als maßgeblich gesellschaftlich bedingt zu theoretisieren und damit zu entmystifizieren (vgl. Trotha, 2001 o.S.). Im Zuge dieser Bewegung begannen verschiedene Betroffenengruppen sich in Verbänden und Initiativen zu organisieren, eigene Kritiken zu formulieren und selbstbestimmte Unterstützungsstrukturen aufzubauen (die sogenannte »Neue Antipschiatrie« der 1980er Jahre) (vgl. ebd.).

Ziel dieses Artikels ist es, eine kleine Einführung in die formulierten Kritiken dieser Bewegung zu geben. Dabei sollen weniger die einzelnen Akteur_Innen im Vordergrund stehen, sondern der Fokus auf einer Zusammenfassung der Theorien liegen. Diese Theorien – so sehr auch diese bei weitem nicht frei von Kritik sind (vgl. Dudek 2015: 313 ff.) – können helfen, menschliches Verhalten zu entmystifizieren, die Bedeutung subjektiven Empfindens und Deutens hervorzuheben und Lebenssituationen in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge zu setzen. Dies stellt eine notwendige Grundlage eines emanzipatorischen Diskurses zur Unterstützung von Menschen dar.

Abschließend leite ich aus den theoretischen Vorarbeiten Reflexionsmaßstäbe her, welche bei der Selbstreflexion helfen sollen, um bei sich selbst sowohl diskriminierende Denk- und Verhaltensmuster zu entdecken und zu verändern, als auch es einem_R zu erleichtern, sich für und in der Unterstützungsarbeit zu sensibilisieren.

 

Ausgesuchte Aspekte der diskursiven Entwicklung des ›Wahnsinns‹4

Eine der Grundfragen dieser Thematik ist, wie es im Laufe der Geschichte geschehen konnte, dass einige Verhaltensweisen überhaupt als ›krankhaft‹, ›wahnsinnig‹, ›irre‹ oder generell als ›abnormal‹ beschrieben wurden und werden. Wird die Geschichte des ›Wahnsinn‹ betrachtet, wird in erster Linie deutlich, dass je nach zeithistorischem Kontext unterschiedliches Verhalten als ›abnormal‹ angesehen worden ist. Dies verdeutlicht, dass es sich bei diesen Zuschreibungen um gesellschaftliche Konstruktionen handelt. Im Folgenden werde ich einzelne Aspekte der geschichtlichen Entwicklung beschreiben, die ich als diskursive Einflussfaktoren für das heutige Verständnis von ›Verrücktheit‹ hervorheben möchte.5