Czytaj książkę: «Friedlaender / Mynona und die Gestalttherapie»

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EHP – Edition Humanistische Psychologie

Hg. Anna und Milan Sreckovic

Die Herausgeber

Ludwig Frambach, Dr. theol., ev. Pfarrer, Ausbildung am Symbolon-Institut und am FPI, Gestalttherapeut (DVG), Lehrtherapeut (DGIK), Pastoralpsychologe/Supervisor (DGfP), Religionspädagoge, langjährige Praxis von Zen und Kontemplation, Veröffentlichungen zu Psychotherapie, Spiritualität, Mystik, Dialog der Religionen, Philosophie, Ökologie; lebt in Lauf bei Nürnberg.

Detlef Thiel, Dr. phil., freier Philosoph; mit Hartmut Geerken Herausgeber der »Gesammelten Schriften« von Friedlaender/Mynona (17 Bände bisher). Bücher über Derrida und Platon, zuletzt: Maßnahmen des Erscheinens. Friedlaender/Mynona im Gespräch mit Schelling, Husserl, Benjamin und Derrida (Nordhausen 2012). Aufsätze zur Zeichen-, Sprach- und Gedächtnistheorie, zu Literalität und Medialität der Philosophie etc.


© 2015 EHP – Verlag Andreas Kohlhage, Bergisch Gladbach

www.ehp-koeln.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagentwurf: Gerd Struwe, Uwe Giese

Satz: MarktTransparenz Uwe Giese, Berlin

Gedruckt in der EU

Alle Rechte vorbehalten

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print-ISBN 978-3-89797-083-9

epub-ISBN 978-3-89797-578-1

pdf-ISBN 978-3-89797-579-8

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

Vorwort (Ludwig Frambach & Detlef Thiel)

Expressionistische Generation und krisenhafte Selbst- und Welterfahrung (Bernd Bocian)

Philosophie, Mystik, Psychotherapie Die Bedeutung Salomo Friedlaenders für die Gestalttherapie (Ludwig Frambach)

Die Idee von Polarität im Integralen Gestalt-Ansatz (INTEGA) (Martina Gremmler-Fuhr)

Friedlaenders Erkenntnis-Gestalt als dynamische Verlaufsgestalt der allgemeinen Wirklichkeit (Lotte Hartmann-Kottek)

Einfach beim Wort nehmen (Stephanie Hartung)

Friedlaenders Philosophie – Magie als Ermächtigung des Ich Beitrag zu einer Wieder-Vertiefung der Gestalttherapie (Kathleen Höll)

Die Technik des Äquilibrierens (Hans-Josef Hohmann)

By looking from nothingness. Ein Gespräch (Claudio Naranjo)

Fritz Perls, seine Gestalttherapie, Salomo Friedlaender Einige therapiegeschichtliche Überlegungen zu Quellen, Bezügen, Legendenbildungen und Weiterführungen (Hilarion Petzold, Johanna Sieper, Ilse Orth)

Psychologie, Psychoanalyse, Psychotherapie bei Friedlaender/Mynona (Detlef Thiel)

Die Autoren

Vorwort

Welche Bedeutung hat Salomo Friedlaenders Philosophie der schöpferischen Indifferenz für die Gestalttherapie?

Diese Frage betrifft nicht nur praktische Gesichtspunkte, sondern berührt auch systematische, theoretische und historische Aspekte. Umso erstaunlicher sind die bisherigen Antworten.

Einige erklären, Friedlaender sei für diesen psychotherapeutischen Ansatz grundlegend: »Der vielleicht wichtigste Einfluss auf die Entwicklung der Gestalttherapie ist nebst Freud das Konzept der ›Schöpferischen Indifferenz‹, das philosophische Hauptwerk von Salomo Friedlaender.« (Bongers/Schulthess 2005, 14; s. u. S. 72) Andere bestätigen: »Fritz Perls hat sich zu keinem Autor so vorbehaltlos bekannt wie zu Friedlaender.« (Blankertz u.a. 2005, 76; s. u. S. 72) Wieder andere Autoren sehen in Friedlaender eine »obskure Quelle« der Gestalttherapie, also etwas Fragwürdiges und Zwielichtiges, das man besser links liegen lässt (Gordon Wheeler 1993, 60; s. u. S. 75). Und noch andere Autoren halten Friedlaenders Einfluss auf die Gestalttherapie für derart irrelevant, dass sie ihn in ihren Darstellungen gar nicht erwähnen (Bick 2011, s. u. S. 294; Boeckh 2006, s. u. S. 196; Staemmler 2009, s. u. S. 309).

Diesen Antworten lassen sich noch weitere anfügen. Das Spektrum ist kurios, widersprüchlich und irritierend. Um Klarheit zu schaffen, haben die Herausgeber acht kundige Autorinnen und Autoren zu diesem Thema eingeladen.

Als wichtigster Referenzphilosoph der Gestalttherapie wird heute meist Martin Buber angesehen. Mit seiner »Ich-und-Du«-Philosophie thematisiert er einen für die Psychotherapie insgesamt zentralen Gesichtspunkt: Beziehung und Begegnung. Aber die Begründer der Gestalttherapie haben nur vage auf Buber verwiesen; gerade Lore Perls hat sich schriftlich kaum zu ihm geäußert. Anders sieht dies aus im Fall Friedlaender, der übrigens mit dem sieben Jahre jüngeren Buber seit 1907 befreundet und trotz aller sachlichen Differenzen lebenslang in Kontakt war. Fritz Perls hat sich mehrfach klar und prägnant zu seinem »ersten Guru« Salomo Friedlaender bekannt, den er als das »westliche Äquivalent zu Laotse« verstand. In seinem ersten Buch »Ego, Hunger, and Aggression« (1942/44; s. u. S. 72) sieht er Freud und Friedlaender als seine wichtigsten geistigen Impulsgeber, und die polarisierende Philosophie der schöpferischen Indifferenz ist der zentrale Ausgangspunkt seines Revisionsprogramms der Psychoanalyse. Daran hat Perls zeitlebens festgehalten; in späten autobiografischen Notizen bekräftigt er: »Die Orientierung an der schöpferischen Indifferenz ist einleuchtend für mich. Ich habe dem ersten Kapitel von ›Das Ich, der Hunger und die Aggression‹ nichts hinzuzufügen.« (1981, 80; s. u. S. 36, 74)

Aber leider hat Perls diese Orientierung an Friedlaender nicht in gründlicher und detaillierter Weise ausgearbeitet. Das hat er auch bei seinen anderen Quellen nicht getan. Er war ein charismatischer Praktiker mit breitem geistigen Horizont, aber kein systematisch arbeitender Wissenschaftler. Wenn trotz Perls’ enthusiastischer Wertschätzung Friedlaenders Denken in der späteren Entwicklung der Gestalttherapie theoretisch und praktisch wenig Beachtung gefunden hat, so liegt das auch daran, dass seine Schriften, insbesondere Schöpferische Indifferenz (1918/26; s. u. S. 73), nur schwer greifbar waren.

Das hat sich nun geändert. Die »Gesammelten Schriften« von Salomo Friedlaender/Mynona, herausgegeben von Hartmut Geerken und Detlef Thiel, konzipiert auf über 35 Bände, machen das außerordentlich vielseitige Werk dieses allzu lange fast vergessenen Philosophen und Kulturkritikers wieder zugänglich, auch für Gestalttherapeuten. Neben den unter dem Pseudonym Mynona veröffentlichten Grotesken und Satiren ist als Band 10 auch Friedlaenders Hauptwerk der Berliner Zeit wieder erschienen, mit Kommentar und Dokumenten.

Die Beiträge dieses Bandes zeigen, wie anregend und grundsätzlich Friedlaender/Mynonas Denken ist und in welchen bunten Perspektiven und Anknüpfungspunkten sein Einfluss auf die Gestalttherapie sich interpretieren lässt. Eben die Frage, inwieweit Fritz Perls Friedlaenders philosophischen Ansatz verstanden habe, führt, wie abzusehen war, zu kontroverser Diskussion. Die Gedankenfigur von Polarität und Indifferenz wird in ihrer Relevanz für gestalttherapeutische Praxis und Theorie in verschiedener Weise herausgearbeitet. Das zeitgenössische Klima und personale Umfeld rückt in den Blick; gelegentlich wird das Terrain von Philosophie und Psychotherapie auch überschritten in Richtung Mystik und Weltreligionen sowie Sozial- und Naturwissenschaften.

Wir danken unseren Autorinnen und Autoren für ihre interessanten Beiträge, in denen viel Mühe und Hirnschmalz steckt, und unserem Verleger Andreas Kohlhage für sein spontanes Engagement. Und wir hoffen, dass dieser Band gestalt- und psychotherapeutische Kreise zu einer Auseinandersetzung mit Friedlaender/Mynonas Werk anregt.

Ludwig Frambach

Detlef Thiel

Bernd Bocian
Expressionistische Generation und krisenhafte Selbst- und Welterfahrung

Zentrale Haltungen, Theorien und Methoden der Gestalttherapie stehen für mich in der Tradition der durch die Nationalsozialisten vertriebenen Berliner Kulturavantgarde der Jahre der Weimarer Republik. Was mit Fritz Perls 1933 aus Deutschland geflohen ist, sind im Kern die Erfahrungen der sogenannten expressionistischen Generation. Salomo Friedlaender war in den Kreisen der Berliner Avantgarde bis Anfang der Zwanziger-Jahre »eine herausragende und einflussreiche Persönlichkeit« (Bergius 1993, 233) und für Perls ein enorm wichtiger Einfluss in diesen Jahren.

Perls hat Friedlaender immer namentlich in seinen Büchern erwähnt, anstatt sich direkt auf die durch ihn hindurch wirkenden großen und anerkannten Namen wie Goethe oder Nietzsche zu beziehen. Ich halte das für eine Art persönlicher Treue zu einem wichtigen Mentor. Wenn Gordon Wheeler in Bezug auf Friedlaender von einer »obskuren Quelle« (Wheeler 1993, 60) spricht und ihn für intellektuell bedeutungslos hält, so scheint er sich nicht mit der damaligen Berliner Atmosphäre beschäftigt zu haben. Das von mir bereits vorgelegte Material nutzend, das ich zu den ersten vierzig Lebensjahren, die Fritz Perls in Berlin verbracht hat, erstellt habe (Bocian 2007), will ich hier zum Verständnis der Selbst- und Welterfahrung der Berliner Kulturavantgarde beitragen, in deren Kreisen sich Perls bewegte und durch die er »sozialisiert« wurde. Das Verhältnis Perls – Friedlaender wird so ein wenig kontextualisiert und in seine Zeit gestellt, was die große Bedeutung, die Friedlaender für Perls hatte, verständlicher macht.

Die Avantgarde-Kultur der Weimarer Republik, diese Bewegung von Neuerern, schuf am Rande der etablierten Einrichtungen Werke von bleibender Wirkung und war »Ort eines echten Bündnisses zwischen Juden und Deutschen, die sich auf dem Terrain einer gemeinsamen Revolte begegneten« (Traverso 1993, 53). Der schon im Kaiserreich wirkende grundlegende Einfluss war der Expressionismus, der als ein Epochenbegriff die Zeit von 1910 bis maximal 1925 umschließt (vgl. Vietta 1994). Die sogenannte expressionistische Generation war »unter dem Erlebnis zerstörter Tradition und verlorener Identität chaotisch zerrissen« (Glaser 1976, 200). Nach dem Ersten Weltkrieg fand sich dieser Teil der wohl ausnahmslos traumatisierten Frontgeneration1 in der Revolte wieder, suchte den »neuen Menschen« in einer sozialistischen »Brüdergesellschaft«, jenseits der patriarchalischen Gesellschaftsordnung und des bekämpften patriarchalischen Vaters, jenseits der Selbstzwangmechanismen des Über-Ich und der gesellschaftlichen Untertanenmentalität.

Wichtig ist mir an dieser Stelle der Interpretationsansatz von Vietta (1994), der die vielfältigen künstlerischen Stile und Erscheinungsformen dieser Zeit durch das Herausfiltern eines inneren Zusammenhangs zu fassen versucht. Das Kennzeichen der expressionistischen Epoche ist für Vietta die »Dialektik von persönlich erlebter Ich-Dissoziation und der Sehnsucht nach Menschheitserneuerung« bzw. von Entfremdungserfahrung und messianischem Aufruf zur Wandlung des Menschen (vgl. ebd., 22). So gesehen meint Expressionismus im Kern nicht den eigentlichen künstlerischen Akt, sondern eine spezifische Ich- und Welterfahrung.2 Diese Erfahrung ist auch bei Perls zu finden, der sich in den betreffenden Jahren in den hier gemeinten Künstler- und Bohèmekreisen bewegt hat.

In diesen Kreisen wurde Philosophie und Erkenntniskritik oftmals nicht im eigentlichen Sinne studiert, sondern weitgehend durch »Osmose« aufgenommen und »existentiell antizipiert« (ebd., 151). Die philosophische Grundlage der expressionistischen Gruppierungen (eigentlich aller oppositionellen Kreise von links bis rechts) war die Lebensphilosophie, 3 die speziell in der Gestalt Nietzsches ein Synonym für eine antibürgerliche Haltung und die Kritik am wilhelminischen Wertesystem war. An dieser Stelle werde ich auf den prägnantesten Ausdruck der sich antibürgerlich verstehenden Avantgarde-Bewegung, soweit sie sich im Bereich der gelebten Kunst bzw. philosophischen Aktion abgespielt hat, eingehen. Gemeint ist hier der Berliner Dadaismus, mit dem Perls durch Salomo Friedlaender/Mynona in Verbindung stand (vgl. Erlhoff in Hausmann, 228; Exner 1996, 264 f.). Als einer der ganz wenigen hat Perls, der im Sinne von Sloterdijk (1983b, 711 f.) durchaus ein Nachfolger des Diogenes, ein Neo-Kyniker, war, die dadaistische Haltung bis an sein Lebensende beibehalten. Dada war für den in unserem Zusammenhang wichtigsten Vertreter der Dadagruppe, Raoul Hausmann, ein »Lebenszustand, mehr eine Form der inneren Beweglichkeit als eine Kunstrichtung« (Hausmann 1982b, 229). Auf Hausmann, der aus meiner Sicht als ein Vermittler der kulturkritischen Psychoanalyse von Otto Gross im Mynonakreis angesehen werden kann, werde ich noch zurückkommen.

1. Berliner Kunstavantgarde und expressionistische Weltanschauung

»Nicht wahr, das Bauhaus, der ›Blaue Reiter‹, die ›Brücke‹ und der Dadaismus. Alles hatte dort seinen Ursprung, und ich verkehrte in diesen Kreisen.«

(Perls 1980, 21)

Berlin, die jüngste Weltstadt Europas, gehörte in den Jahren zwischen 1910 und 1930 zu den Metropolen der Avantgarde der europäischen Kunst und Kultur. Der Expressionismus hatte sich bereits im wilhelminischen Deutschland entwickelt, und die Kriegserfahrung hatte die Haltung der einzelnen Künstler radikalisiert, die sich im »Totalaufstand gegen die bestehende wilhelminische Ordnung mit all ihren militärischen, kapitalistischen und imperialistischen Begleiterscheinungen« (Hermand et al. 1989, 115) empfanden. Die Weimarer Republik gab ihnen nun die Möglichkeit, an die Öffentlichkeit zu gelangen.

Berlin wurde in den Jahren ab 1918 zu einem kulturellen Experimentierfeld und bot sich »den Geistern, die Neues wollten, den Experimentierern, den Bastlern, den Reformern und Revolutionären, als ideales Versuchsfeld an« (Roters 1989, 21). Der Magnet Berlin zog kreative Talente aus der deutschen Provinz, aus ganz Europa, Russland und Amerika an. Es gab einen internationalen Gedankenaustausch und es entstand eine Art kulturelles Weltbürgertum. Bezogen auf die Kunst formulierte Roters dieses Phänomen folgendermaßen: »Die Kunst des Industriezeitalters ist Zivilisationskunst – Zivilisationskunst ist Weltstadtkunst – Weltstadtkunst ist Weltkunst.« (ebd.)

Was in diesen Jahren im Bereich Malerei, Literatur, Theater, Kino, Architektur, Musik, Tanz, Kabarett, als Sexualreform, Reformpädagogik und als Psychoanalyse oder Individualpsychologie in Erscheinung trat, Entwicklungsraum und Publikum fand, ist zur Legende der Kultur von Weimar geworden. Perls sprach in diesem Zusammenhang rückblickend von einer interessanten und wunderbaren Atmosphäre in Berlin (vgl. Perls 1980, 20 f.). Franz Werfel hat in seinem Gedicht »Spiegelmensch« von 1920 das Kaleidoskop der philosophischen wie künstlerischen Orientierungsangebote dieser Zeit ironisch eingefangen:

»Eucharistisch und thomistisch,

Doch daneben auch marxistisch,

Theosophisch, kommunistisch,

Gotisch kleinstadt-dombau-mystisch,

Aktivistisch, erzbuddhistisch,

Überöstlich taoistisch,

Rettung aus der Zeit-Schlamastik

Suchend in der Negerplastik,

Wort und Barrikaden wälzend,

Gott und Foxtrott fesch verschmelzend.« (In: Werner 1962, 25)

Grundlage all der unterschiedlichen und oft widerstreitenden intellektuellen und künstlerischen Richtungen zwischen 1890 und 1920 war die auf Nietzsche, Bergson und Simmel basierende Lebensphilosophie. Hannah Höch berichtete, dass auf den Jour-fixe-Abenden im Künstleratelier von Arthur Segal die Lebensphilosophie intensiv diskutiert wurde (vgl. Dech et al. 1991, 49). Besonders die philosophischen Auseinandersetzungen zwischen Salomo Friedlaender und den beiden späteren Dadaisten Raoul Hausmann und Johannes Baader, bei denen »das Gehirn knackte« (Bergius 1993, 133), empfand sie als anregend.

Im Rahmen der Lebensphilosophie entwickelte sich eine Lebensutopie, die von einer vitalistischen Begeisterung getragen war und sich gegen eine als lebensfeindlich, erstarrt, entfremdet und rein materiell ausgerichtet empfundene Welt und die verlogene Sexualmoral der Spießer richtete. Fritz Brubacher, der Schweizer Arzt und Sozialist, schrieb in diesem Zusammenhang über die Bedeutung Friedrich Nietzsches:

»Für die meisten von uns in jener Generation war Nietzsche einfach die Revolte gegen die Bourgeoisie. Was er gegen die Arbeiterschaft geschrieben haben soll, das interessierte uns einfach nicht, weil die überhaupt in unserem Denken kaum existierte. Für uns war er der Zerbrecher der Tafeln der Bürgermoral, der Befreier des Individuums. Er gab einem einen ungeheuren Mut, ein ungeheures Selbstvertrauen. Er sagte einem, man habe recht gehabt, wenn man vor dem Bürger Ekel empfand. Er gestattete, befahl einem fast, zu sich selbst, zu seiner Individualität zu stehen. Das war der Grund der ungeheuren Wirkung Nietzsches auf unsere Generation.« (Brubacher 1973, 38)

Entsprechend wurde der Mensch beispielsweise in den Portraitarbeiten der expressionistischen Maler als »er selbst, das heißt, als ein Jemand, der seine Empfindungen nicht länger hinter Konventionen verbirgt« (Hülsewig-Johnen 1994, 20) vorgestellt. Es ging nicht um die perfekte Nachahmung des Aussehens, sondern Malerei wurde zum »Ausdrucksträger von Empfindungen seelischer Gestimmtheit, von Euphorie und Empathie, Pathos und Existenzangst« (ebd.). Ein expressionistisches Portrait »öffnet eher Gefühlsräume, als dass es Menschen abbildet« (ebd., 60). Das von den Konventionen befreite Ideal-Ich des neuen Menschen, das sein Inneres quasi ohne störendes Über-Ich ausdrückt, ist das befreite und eigentliche Selbst, das sich selbst verwirklicht, in dem es sich »unabhängig und unmittelbar in der Präsens, […] seiner Welt wieder sicher ist« (ebd.). Die Malerin Paula Modersohn-Becker schrieb im Jahre 1906 an Rilke: »Ich bin Ich und hoffe, es immer mehr zu werden.« (ebd.) Das war noch das Ich-Ideal des alten Perls, der dies dann, der Zeit entsprechend, in einen existenzialphilosophischen Kontext stellte. Er riet seinen Zuhörern:

»Natürlich werden, lernen, sich auf sich selbst zu stellen, seinen Kern entfalten und die Grundlage des Existenzialismus verstehen: Eine Rose ist eine Rose.« (Perls 1986, 12)

Für die Berliner Kunst, vor allem für den Großstadtexpressionismus, war die Konfrontation mit dem Widersprüchlichen in diesen Jahren ein entscheidender Entwicklungsimpuls. Der Widerspruch gegen die wirtschaftliche und politische Entwicklung sowie die erlebte Widersprüchlichkeit der modernen Industriemetropole, die sich im Stadtbild wie im extremen Aufeinanderprallen der unterschiedlichen sozialen Klassen zeigte, machten die Berliner Kunst in diesen Jahren zu einer Kunst der gesellschaftlichen Widersprüche. Roters formuliert das so:

»Der Widerspruch wird zu einem Symptom, der Heterogenität, der Koinzidenz des nicht Zusammenpassenden, des Auseinandertretens von Unzusammengehörigem wahrgenommen und empfunden, erlebt, erlitten und genossen.« (Roters 1989, 22)

Am Beispiel der Künstlergruppe »Brücke«, die in idyllischen Naturlandschaften der Provinz ihren Ausgangspunkt genommen hatte, wird die Reaktion auf die Begegnung mit der Weltstadt Berlin deutlich. Deren Rhythmus, Motorik und Tempo beeinflussten den Stil und es trat als Formelement »die Brechung« (ebd.) in Erscheinung. Nach den traumatischen Kriegserfahrungen ging dieser Entwicklungsprozess weiter, und was in der Gebrochenheit der Form latent angelegt war, kam zum Ausdruck: der Bruch. Der Bruch erfuhr

»in der Berliner Nachkriegskunst noch eine weitere Steigerung, nämlich die zum vorsätzlich herbeigeführten glatten Bruch, zum Schnitt. Der Bruch und der Schnitt, die Wunde und die Narbe; dies sind die unverkennbaren ästhetischen Symptome der Berliner Kunst der zwanziger Jahre. Es ist eine Kunst der Verletztheit.« (ebd., 33)

Wie die klassische Malerei etwa das Idealbild einer heilen Welt als Orientierung hatte, so spiegelte das durch die Dadaisten entwickelte Prinzip der Montage die realen aktuellen Widersprüche des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens. Entsprechend war die Montage »der spezifische Beitrag Berlins zur Kunst unseres Jahrhunderts« (ebd., 22).

Die für die Gestalttherapie wichtige Arbeit mit innerpsychischen Widersprüchen und Polaritäten hat Wurzeln in dieser Atmosphäre, in der die mit den Widersprüchen positiv-kreativ jonglierende Polaritätsphilosophie von Salomo Friedlaender/Mynona für Perls eine zentrale Rolle gespielt hat.