Czytaj książkę: «Digital Humanities»
Stefan Fischer / Thomas Wagner
Forum Exegese und Hochschuldidaktik – Verstehen von Anfang an
Jg.2 – 2017 | Heft 2
in Zusammenarbeit mit Melanie Köhlmoos
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-7720-0060-7
Inhalt
Editorial
Digital Humanities und die Fächer 1 Digital Humanities 2 Digital Humanities im Forschungsprozess 3 DH und die Fächer: Problemlagen 4 DH in den Fächern: Einbeziehung und Ausbildung Literatur
Digital Humanities und Exegese 1 Einleitung 2 Stilometrie 3 Linguistische Analyseverfahren 4 Text Re-Use/Rezeptionsgeschichte 5 Handschriften, Textkritik und Edition 6 Potentiale und Grenzen 7 Hochschuldidaktische Perspektiven Literatur
Faszination Digital Humanities1 Stand der Dinge und Zielsetzung2 Anregungen zur Einbindung der Digital Humanities in die bibelwissenschaftliche Hochschuldidaktik2.1 Sprachausbildung als Basis für exegetische Kompetenz2.2 Bibelkunde verstehen statt pauken2.3 Ad fontes: Handschriftenarbeit und Textkritik2.4 Exegese 2.0 – Die Bibel als Corpus3 Fazit und AusblickLiteratur
Lernen an Handschriften1 Forschendes Lernen – Schleiermachers Wunsch mit digitalen Medien nachgehen2 Lernen an Handschriften2.1 ad fontes als motivationsfördernder Weg2.2 Ausgehend von den Handschriften zum Verständnis des Nestle-Aland2.3 Über den Text hinausgehende Forschungspotentiale3 Studierende als Experten gewinnen – Forschendes Lernen4 Lernen an Handschriften – Kurzdarstellung eines Seminarbeispiels5 FazitLiteratur
Lehr-/Lernbeispiele 1 Didaktische Herausforderung und Ziele 2 Einbettung in die Lehrveranstaltung Literatur
Natural Language Processing (NLP) unterrichten 1 Zu Python als Basis der NLP-Vermittlung 2 Zum Aufbau einer didaktischen Struktur 3 Zum Selbstverständnis des Lehrenden
Rezensionen 1 CDLI (http://cdli.ucla.edu) 2 BODO. BIBEL+ORIENT Datenbank Online (http://www.bible-orient-museum.ch/bodo/) 3 The Digital Dead Sea Scrolls (http://dss.collections.imj.org.il) 4 The Leon Levy Dead Sea Scrolls Library (http://www.deadseascrolls.org.il) 5 Codex Sinaiticus (http://www.codex-sinaiticus.net/) 6 INTF: New Testament Virtual Manuscript Room (http://ntvmr.uni-muenster.de) 7 Fazit
Claire Clivaz/Paul Dilley/David Hamidović (Hg.) in Verbindung mit Apolline Thromas: Ancient Worlds in Digital Culture, Digital Biblical Studies 1, Leiden/Boston.
Interview mit … Heike Behlmer
Forum Exegese und Hochschuldidaktik Verstehen von Anfang an (VvAa)
Jahrgang 2 – 2017, Heft 2
Editorial
Die vierte Ausgabe dieser Zeitschrift befasst sich mit dem Thema Digital Humanities, mit dem neue Trends in Forschung und Lehre der Geistes- und Kulturwissenschaften verbunden werden. In der biblischen Exegese wird bereits seit längerer Zeit mit digitalisierten und ausgezeichneten Texten gearbeitet, so dass morphologische Analysen und Konkordanzsuchen in systembasierten Programmen (BibleWorks, Accordance, Logos etc.) bereits zu Standardverfahren gehören, die in Proseminaren vermittelt und von Studierenden mit Gewinn eingesetzt werden.
Die Beiträge dieser Zeitschrift gehen über diese ersten Ansätze einer Digitalisierung akademischer Lehre in den Bibelwissenschaften hinaus. Eingeleitet wird das Heft durch einen Beitrag von Patrick Sahle, in dem er aufzeigt, was in den Geistes- und Kulturwissenschaften als Digital Humanities verstanden wird und in welchem Verhältnis sie sich zu den klassischen Fachdisziplinen befindet. Deutlich zeigt er, dass es hier keine Trennung von herkömmlichen, ‚analogen‘ und digitalisierten Methoden geben kann. Er sieht die digitale Transformation nicht als einen einmaligen Prozess, sondern als einen dauerhaften Zustand an.
Diesem einleitenden Beitrag folgend, nehmen Juan Garcés und Jan Heilmann neuere Trends in der neutestamentlichen Exegese auf und zeigen an, welche Möglichkeiten die Digital Humanities für Forschung und Lehre in ihrem Fach besitzen. Wie Patrick Sahle fordern sie Strategien der interdisziplinären Kooperation ein.
Die von ihnen aufgezeigten Einsatzgebiete lassen sich auch auf die alttestamentliche Wissenschaft übertragen. Klaas Spronk: Web-based Ressources in the Field of Old Testament Studies, Bibliotheca Orientalis 71 (2014), 361-370, zeigt vergleichbare Einsatzgebiete für die alttestamentliche Forschung auf. Garcés/Heilmann gehen über diese Darstellung vor allem hinsichtlich des didaktischen Mehrwerts des Einsatzes digitaler Analysemethoden für den akademischen Unterricht hinaus.
Mit dem Beitrag von Kevin Künzl und Fridolin Wegscheider beschreiten wir Neuland, in dem die Hochschuldidaktik aus der Perspektive von Studierenden reflektiert wird. Die beiden am Ev.-Theol. Seminar der TU Dresden studierenden Kommilitonen beschreiben, welche Bildungsgehalte sie für nötig erachten, um in einer späteren akademischen und beruflichen Praxis gewinnbringend mit digitalen Analysemethoden arbeiten zu können. Hier sticht besonders ihre Forderung nach dem Erwerb basaler Programmierkenntnisse hervor. Wie selbstverständlich sehen sie die neuen Medien als Grundlage und nicht als Ergänzung exegetischer Ausbildung an.
Diese Form der Reflexion hochschuldidaktischer Anforderungen werden wir in den kommenden Jahren intensivieren und zu unterschiedlichen Themen Studierende zu ihren Erwartungen an einen akademischen Lehr-/Lernprozess befragen.
Der von Tobias Flemming verfasste Beitrag zum Einsatz des New Testament Virtual Manuscript Room des Textgeschichtlichen Instituts Münster ist ein Erfahrungsbericht, in dem die Chancen und Grenzen des Forschenden Lernens an den Grundlagen biblischer Exegese dargelegt werden. Sein Plädoyer für die unmittelbare Auseinandersetzung mit biblischen Handschriften und ihre motivationsfördernde Wirkung sollte nicht ungehört verhallen. Zugleich stellt dieser Beitrag den Übergang zu den Lehr-/Lernbeispielen her, die sich mit zwei unterschiedlichen Möglichkeiten des Einsatzes digitaler Medien im akademischen Unterricht zuwenden.
Anja Swidsinski beschreibt die Möglichkeit, Blogs als Publikationsform in Seminaren anzuwenden. Sie zeigt auf, wie diese zunehmend häufig verwendete Publikationsform einen eigenen Sprach- und Kommunkationsstil erfordert, der heutigen Studierenden vertraut ist. Mit ihm bietet sich die Möglichkeit, Studierende zu neuen Präsentationsformen zu führen, die ihnen einfach zugänglich sind, die aber voraussetzen, dass sie nicht nur Wissen reproduzieren, sondern eigene Forschungsergebnisse erzielen.
Matt Munson berichtet im zweiten Lehr-/Lernbeispiel von einem Entwicklungsprozess, der durch den Lehreinsatz erfolgt. In ihm zeigt er die Ambivalenz in der Vermittlung von Methoden der Digital Humanities auf, bei denen zwischen einem spezialisierten Umgang mit Computersprachen zur Erstellung eigener Research Tools und einer Erschließung von Textphänomenen abzuwägen ist. Das bereits von Patrick Sahle angezeigte Problem findet hier eine graduelle Lösung, die einen für die akademische Praxis gangbaren Weg darstellt.
Die Rezensionen tragen den sich mit der Digitalisierung verändernden Publikationsformen Rechnung. Während Johannes Diehl mit Claire Clivaz/Paul Dilley/David Hamidović (Hg.) in Verbindung mit Apolline Thromas: Ancient Worlds in Digital Culture, den ersten Band der seit 2016 von Brill herausgegebenen Reihe Digital Biblical Studies bespricht, wendet sich Helge Bezold in einer Sammelrezension den für die Bibelwissenschaften wichtigsten Onlineplattformen zu, die für den Einsatz in Veranstaltungen einsetzbar sind. Dabei nimmt er nicht nur auf deren Inhalte Bezug, sondern zeigt auch Vor- und Nachteile der jeweiligen Frontend-Gestaltungen auf. Diese Rezension bildet den Auftakt zu einer neuen Rubrik in VvAa. Von der kommenden Ausgabe an wird jeweils ein Online Portal mit Content und Frontend-Funktionen vorgestellt, so dass ein Einsatz im Unterricht einfach möglich sein wird.
Als Interviewpartner stand uns für die Ausgabe Heike Behlmer von der Universität Göttingen zur Verfügung. Sie ist als Ägyptologin und Koptologin eine der Vorreiterinnen in der Edition digitaler Fassungen antiker Corpora. Sie ist als Projektleiterin maßgeblich für die Digitalisierung, Übersetzung und digitale Edition der koptisch-sahidischen Übersetzung des Alten Testaments, einer der ersten Übersetzungen der Septuaginta verantwortlich. Im Interview gibt sie Einblick in ihren Lebensweg, der sie von einer Altertumswissenschaft bis hin zu einem breiten Einsatz in den DH führte.
Schließlich wenden wir uns in eigener Sache an Sie: Die Zeitschrift ‚Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an‘ sucht stets nach neuen Wegen, hochschuldidaktische Problemstellungen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten sowie Informationen zusammenzustellen, um einen möglichst schnellen und einfachen Zugang zu den die Bibelwissenschaft betreffenden Medien zu schaffen. Wenn Sie Anregungen, Wünsche und Kritik haben, die Sie uns mitteilen möchten, nehmen wir diese gerne auf. Dazu wenden Sie sich bitte an uns unter info@forumexegese.de.
Wien | Wuppertal Stefan Fischer und Thomas Wagner
Forum Exegese und Hochschuldidaktik Verstehen von Anfang an (VvAa)
Jahrgang 2 – 2017, Heft 2
Digital Humanities und die Fächer
Eine schwierige Beziehung?
Patrick Sahle
Abstract | Although Digital Humanities (DH) has been around for decades now – albeit under the name Humanities Computing for most of those years –, they are still considered a young discipline undergoing a process of formation. Consequently, their status and character are under fierce debate: Are they a discipline, a field of research, or just a set of methods and tools? And what are they about? DH research is triggered by questions from the established disciplines. But it aims at generic solutions and attempts to reflect the transition that humanistic research is subject to under the conditions of the digital. DH is gaining a lot of attention (and funding) these days, leading to a rapidly accelerated development. But what effect does that have on traditional fields of research such as the field of Biblical studies? Are they to be left behind, decoupled and alienated from an increasingly autocentric community of DH? How can we integrate both sides of D and H, reinforce the dialogue and ensure that innovation from DH is fruitful for the evolution of a range of fields from the humanities?
Patrick Sahle, *1968, ist nach dem Studium der Geschichte, Philosophie und Politik (Köln/Rom) und der Promotion in Historisch-Kulturwissenschaftlicher Informationsverarbeitung derzeit Apl. Professor für Digital Humanities an der Universität zu Köln. Er betreut u.a. am Cologne Center for eHumanities (CCeH) zahlreiche Forschungsprojekte und an der dort angesiedelten "Koordinierungsstelle DH" digitale Aspekte der Langzeitvorhaben der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Daneben ist er Gründungsmitglied im Institut für Dokumentologie und Editorik (IDE).
Alle reden über Digital Humanities (DH).1 Digitalisierung und die digitale Transformation auch der Geisteswissenschaften wird allerorten propagiert. Die Fachforschung sieht sich nicht nur mit der methodischen Herausforderung konfrontiert, neue technische Möglichkeiten und analytische Verfahren in die eigenen Ansätze zu integrieren. Inzwischen besteht dazu auch ein gewisser unterschwelliger politischer Druck und manchmal sogar die explizite Vorgabe der Forschungsförderung, dass es eigentlich keine geisteswissenschaftliche Forschung mehr geben könne, die nicht über eine ‚digitale Komponente‘ verfüge. Die digitale Dimension wird zwar durch den Begriff Digital Humanities grundsätzlich abgedeckt, es gibt aber immer noch eine heftige Diskussion darüber, was dieses DH eigentlich genau sein soll, was sein Inhalt, sein Status, seine Grenzen und seine Zukunft sind. Vor allem stellt sich die Frage, ob sich hier ein neues Feld entwickelt, das den bestehenden geisteswissenschaftlichen Fächern zuarbeitet oder sich von ihnen abkoppelt. Wie also das Verhältnis von DH zu H ist und wie DH in die Geisteswissenschaften in Forschung und Lehre integriert werden kann.
1 Digital Humanities
Jede Beschreibung von DH fängt mit dem Hinweis an, dass das Feld zwar in den letzten Jahren einen enormen Aufschwung erlebte, deshalb aber nicht ‚neu‘ ist. Computer und später digitale Kommunikations- und Publikationsnetzwerke (das WWW) wurden von Anfang an auch in den Geisteswissenschaften adaptiert und eingesetzt. Von der Sache her besteht DH unter anderen Namen mindestens seit den späten 1940er Jahren. Früher nannte man es Humanities Computing oder hierzulande manchmal auch ‚geisteswissenschaftliche Fachinformatik‘. In den verschiedenen Jahrzehnten hat es verschiedene Wellen und Paradigmen der Nutzung neuer Technologien gegeben, die in den frühen 2000er Jahren zu einer gewissen Konsolidierung führten, die in eine Vereinigung aller Strömungen unter dem weiten Begriff der Digital Humanities mündete. Seit ungefähr 15 Jahren versteht sich das Feld unter diesem Etikett als integrative, globale, alle geisteswissenschaftlichen und weitere umliegende Disziplinen einschließende Gemeinschaft von Forschenden. Die sich bis dahin oft eigenständig entwickelnden Teile Computerlinguistik, Archäoinformatik, Computerphilologie oder historische Fachinformatik haben sich in den letzten Jahren unter dem gemeinsamen Dach angenähert. Eine einfache, konsensuale Definition von DH ist damit allerdings nicht verbunden. Vielmehr ist die anhaltende Formierungsperiode auch von einer breiten Diskussion um Definitionen geprägt, an der sich manche leidenschaftlich beteiligen und von der sich andere bereits genervt abwendeten.2
Im Kern lässt sich aber wohl ohne großen Widerspruch sagen, dass es bei DH um die Entwicklung, den Einsatz und die kritische Reflexion von digitalen Verfahren im Bereich der Geisteswissenschaften geht. Die DH nehmen die Fragestellungen der Geisteswissenschaften auf und verbinden sie mit Lösungsangeboten aus der Informatik und teilweise auch anderen Fächern – wenn man an fortgeschrittene Bildgebungsverfahren aus dem Ingenieurswesen, an Geoinformationssysteme aus der Geografie, an empirische Verfahren aus den Sozialwissenschaften oder an informationstheoretische Ansätze aus den Library and Information Science denkt. DH ist in doppelter Weise durch Interdisziplinarität gekennzeichnet: Es umfasst vom Anspruch her nicht nur alle geisteswissenschaftlichen Fächer, sondern schlägt auch die Brücke zu anderen Wissenschaftsbereichen.
Digital Humanities wird deshalb oft als Brückenfach beschrieben oder als etwas, das durch seine Schnittmengen und eigenständige Aspekte gekennzeichnet ist. Es nimmt die Fragestellungen der Geisteswissenschaften auf, berücksichtigt deren theoretische Grundlagen und ihr methodisches Rüstzeug, ist dann aber an Lösungen interessiert, die auf der inter- oder transdisziplinären Ebene jenseits der konkreten Forschungsfrage verallgemeinert werden können. Aus der Informatik (I) deckt sich DH mit Teilen der angewandten Informatik, wird deshalb manchmal auch als Fachinformatik verstanden und wendet diese auf geisteswissenschaftliche Problemstellungen an.
Abb. 1:
Digital Humanities als Brückenfach mit Schnittmengen
Sie kann damit aber auch Anstöße für neue Entwicklungen in der Informatik geben. Schließlich sind die oft komplexen, von unscharfen Datenstrukturen gekennzeichneten Probleme der Geisteswissenschaften nicht von Natur aus im Fokus einer abstrakten, nicht an Einzelfragen aus den Fachwissenschaften ausgerichteten Informatik. Diese Distanz ist eine der Existenzgründe für Fachinformatiken im Allgemeinen und der Digital Humanities im Besonderen. Eine direkte Zusammenarbeit zwischen H und I scheitert häufig am Fehlen einer gemeinsamen Sprache, dem gegenseitigen Unverständnis für Problemstellungen und Lösungsansätze und den divergierenden Interessen. Überspitzt formuliert sind für die Informatik weder die Beantwortung der Fachforschungsfragen, noch unmittelbar einsatzfähige Werkzeuge oder nachhaltig zu betreibende Informationssysteme von Interesse, sondern allein neue informatische Herausforderungen und deren prinzipielle Lösung auf der Ebene von ‚proof of concept‘.3 Die DH fungieren deshalb als Übersetzungs- und Vermittlungsinstanz, verfügen und pflegen über ihre kontinuierliche Beschäftigung mit den spezifisch geisteswissenschaftlichen Wissensdomänen und Problemlagen aber auch ein eigenes Portfolio an Ansätzen und Lösungskompetenzen. Dies macht nämlich ihren dritten Bereich und ihren Kern aus: Themen, Technologien, Verfahren oder auch Standards, die so weder in den Geisteswissenschaften noch in der Informatik anzutreffen wären. Aus Sicht der Informatik sind sie zu fach(bereichs)spezifisch. Aus Sicht der einzelnen geisteswissenschaftlichen Disziplinen sind sie als technische Problemlösung zu speziell für das Fach und ein Luxus, den man sich kaum leisten kann. Zugleich geht es hier um Ansätze, die nicht nur ein einzelnes Fach betreffen und deshalb auch auf einer Ebene außerhalb der Einzeldisziplin besser aufgehoben sind.
Was DH beinhaltet und wie es positioniert ist, beantwortet noch nicht die Frage, was es ist. Ist DH nun ein Set an Methoden und Tools? Ein Forschungsbereich und ein loses Feld? Eine Metadisziplin? Eine Interdisziplin? Ein Dach? Ein ‚Fach‘? Oder vielleicht alles zugleich? Wie so oft werden Begriffe in der realen Welt durchaus sinnvoll in einem engeren und in einem weiteren Sinne verwendet. Ausgehend von der Frage, ‚wo findet DH statt?‘, lässt sich in Bezug auf die Positionierung, die Spezialisierung und die Disziplinierung der Digital Humanities ein 3-Sphären-Modell aufzeichnen.
Abb. 2:
3-Sphären-Modell der Digital Humanities
Nach diesem Modell findet DH zunächst in jenem Kernbereich statt, in dem es eine eigene Disziplin ist, die zwischen den Fächern steht, zu allen aber die gleiche Distanz besitzt.4 DH ist dabei genauso ein eigenständiges Fach wie alle anderen auch und verfolgt ganz eigene Fragestellungen. Aus Sicht der DH findet sie in einem äußeren Orbit aber auch in den traditionellen Fächern statt. Schließlich sind es initial die Fachfragen der Disziplinen, die sie antreiben. Und es geht um den Aufbau von methodischen und technischen Lösungen (Werkzeugen), die in den Fächern eingesetzt werden sollen. Hier lebt die Idee von DH als einer vorübergehenden Entwicklung, die in die Fächer zu integrieren ist. Als drittes ist davon ein mittlerer Bereich zu unterscheiden, in dem sich die traditionellen Fächer als ‚transformative‘ oder ‚transformierte‘ Disziplinen zeigen. Bereits seit Jahrzehnten, teilweise also schon mit längerer Tradition als DH selbst, hat sich so z. B. die Computerlinguistik etabliert, die einerseits immer noch linguistische – also fachbezogene – Fragestellungen verfolgt, sich aber andererseits von der allgemeinen oder traditionellen Linguistik abkoppelte und an eigenen Lehrstühlen und Instituten und in eigenen Studiengängen Forschende ausbildet. Diese würden von sich selbst sagen, dass sie zwar Linguisten und damit Geisteswissenschaftler in einem allgemeinen Sinne, aber eigentlich doch Computerlinguisten und damit Fachinformatikerinnen seien. In dieser Weise sind in den letzten Jahren auch für andere Fächer neue Spezialdisziplinen entstanden, die eine ähnliche Stellung zu ihren Ausgangsfächern auf der einen Seite und zu Informatik und DH auf der anderen Seite einnehmen.
Ein Ansatz zur Veranschaulichung der drei Sphären kann auch darin liegen, dass man nach der Art von Fragen fragt, mit denen sie sich beschäftigen. Hier könnte zugespitzt gesagt werden:
DH im engeren Sinne beschäftigt sich nicht mit Fachfragen aus den einzelnen Disziplinen, sondern mit Fragen, welche die Geisteswissenschaften (oder wenigstens deren konkrete Forschungsfragen) übergreifen oder die Grundbedingungen, die Praxis und die Reflexion geisteswissenschaftlicher Forschung unter digitalen Bedingungen betreffen. Diese übergreifenden Probleme sind die eigentlichen und eigenen Fachfragen der DH.
DH als Spezialdisziplinen beschäftigen sich zwar mit Fragen aus einem disziplinären Kontext; es sind dann aber Fragen, die man sich traditionell so nicht gestellt hätte. Es sind neue Fragen, die durch die veränderten Informationsbedingungen, Bearbeitungsoptionen und Publikationsmöglichkeiten provoziert werden.
DH als Teil der bestehenden Fächer beschäftigen sich damit, wie man bestehende Fragestellungen mit neuen Werkzeugen und vielleicht auch neuen Methoden effizienter und besser bearbeiten kann.5
Digital Humanities als eigenständiges Feld ist in jedem Fall auch für die anderen Sphären eine Leitdisziplin. Seine Formierung lässt sich jenseits aller theoretischen Definitionsversuche schon rein wissenschaftssoziologisch beschreiben. Dabei geht es dann z. B. um eigene Kommunikationsinfrastrukturen (Mailing-Listen, Zeitschriften, Konferenzreihen), verbandsmäßige Organisationsstrukturen, eigene Studiengänge, Institute oder explizite Lehrstühle für Digital Humanities. Institutionalisierung, Professionalisierung und Professoralisierung sind Verfestigungstendenzen, die den DH in ihrem Kern eine Stabilität verleihen, von dem aus sie auf die anderen Bereiche ausstrahlen und ihre Ergebnisse zur Diskussion und zur Nachnutzung stellen.6 Die doppelte Ausrichtung an den eigenen Fragen (auf der Metaebene) und der Orientierung an den Fragestellungen der Geisteswissenschaften ist in der Praxis kein Widerspruch. Beides fließt zusammen, wenn man nach dem wesentlichen Kern der DH fragt, wie dies z. B. in Arbeitsgruppen zu curricularen Konvergenzen in der DH-Ausbildung erfolgt. Dabei lautet die Antwort dann, dass es bei DH immer wieder um zwei wesentliche Aktivitäten und Kompetenzen geht: ‚Modellierung‘ und ‚Formalisierung‘. Dabei bezeichnet Modellierung das Verstehen von Fragestellungen, die Durchdringung von Wissensdomänen und die Abstraktion beider hinsichtlich ihrer Operationalisierbarkeit für rechnergestützte Ansätze. Formalisierung steht für die Entwicklung, die Anpassung und den Einsatz von Informations- und Softwaresystemen für die Bearbeitung der Fragestellungen auf der Grundlage der Modellierung. Dies ist eine stark kondensierende, abstrakte Formulierung. Das Feld der DH lässt sich aber auch sehr einfach beschreiben: Wer wissen will, um was es bei DH geht, der möge sich die Konferenzen zu DH und die dort präsentierten Beiträge anschauen. Dies kulminiert vor allem in der jährlichen Weltkonferenz Digital Humanities. Hier werden regelmäßig hunderte von Beiträgen eingereicht und einem strikten peer-review-Auswahlprozess unterzogen. Die Summe der Beiträge, die von den Kolleginnen und Kollegen der Fachgemeinschaft anerkannt werden, bildet Jahr für Jahr ein gutes Panorama, was als DH verstanden und dabei als ‚state of the art‘ anerkannt wird. Dadurch, dass alle Beiträge mit Schlagwörtern belegt werden, lassen sich zugleich auch das innere Themenspektrum und seine Veränderungstendenzen ablesen.7 Dabei weist das Schlagwortsystem selbst wieder mehrere Dimensionen auf: Zum einen gibt es fachübergreifende ‚topics‘ wie ‚text analysis‘ oder ‚visualisation‘; zum anderen werden Beiträge sehr wohl aber auch ‚disciplines‘ zugeordnet, deren Fragestellungen sie verfolgen, wie z. B. ‚historical studies‘, ‚computer science‘ oder ‚literary studies‘. Jedenfalls dürften die ‚volumes of abstracts‘ einen der besten und umfassendsten Einstiegsmöglichkeiten bieten, wenn man verstehen will, worum es in den Digital Humanities eigentlich geht und was die aktuellen Themen, Tendenzen und Diskussionen sind.