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2.2 Die Kanonische Ausgabe und ihre Vorgeschichte

Die neuen Perspektiven, die sich aus einer Unterscheidung von zwei Ausgaben der nt.lichen Schriften ergeben, werden vor allem in zwei Bereichen sichtbar: Zum einen rückt mit der Differenzierung unterschiedlicher überlieferungsgeschichtlicher Stadien die Vorgeschichte des NT in den Fokus, zum anderen gewinnt gerade dadurch das letzte Überlieferungsstadium der Kanonischen Ausgabe ein neues Profil.

Wenn das historische Verstehen von Texten das Verstehen ihrer Genese impliziert, dann erlaubt die Identifizierung einzelner Überlieferungsstadien ein neues historisches Verständnis der neutestamentlichen Schriften. Für die Evangelien ist aufgrund der unbestreitbaren literarischen Beziehungen die Geschichtlichkeit der Überlieferung seit dem Anfang der historischen Kritik mitgesetzt. Es ist schon deutlich geworden, dass sich das Bild dieser Überlieferung grundlegend verändert, wenn man in der Marcionitischen Ausgabe eine Vorstufe der Kanonischen Ausgabe - und in dem für Marcion bezeugten Evangelium eine Vorstufe des kanonischen Lk – sieht. Dies bezieht sich vor allem auf die Theorien zum „Synoptischen Problem“, geht aber noch darüber hinaus, weil sich auch Joh in diesen Prozess der schriftlichen Evangelienüberlieferung einordnen lässt. Will man nicht davon ausgehen, dass die Kanonische Redaktion alle anderen Schriften des NT neu geschaffen hat (für den 2Tim und den 2Pe liegt diese Annahme jedoch in der Tat nahe), dann muss man davon ausgehen, dass auch diese anderen Schriften in älteren Vorstufen vorgelegen haben – und wahrscheinlich redaktionell bearbeitet wurden.

Dies gilt vor allem für die Paulusbriefe, weil für diese die längste Vorgeschichte anzunehmen ist. Nimmt man einmal die zehn Briefe der marcionitischen Apostolossammlung als Ausgangspunkt, dann liegen hier die sieben mutmaßlich authentischen Briefe neben drei pseudepigraphen Ergänzungen vor. Da Pseudepigraphen immer einen existierenden Kontext voraussetzen, in den sie sich einschreiben, liegt dieser Zehn-Briefesammlung mindestens (!) eine Sammlungsstufe voraus, die Sieben-Briefesammlung. Selbst wenn man (was eher unwahrscheinlich ist) einmal konzediert, dass Eph und Kol auf derselben Überlieferungsstufe wie 2Thess in diese Sammlung eingefügt wurden, ergeben sich mit der postulierten Sieben- und der bezeugten Zehn-Briefesammlung bereits zwei Sammlungs- bzw. Überlieferungsebenen vor der Kanonischen Ausgabe, für die redaktionelle Eingriffe sehr wahrscheinlich sind. Für die Zehn-Briefesammlung erlaubt die häresiologische Bezeugung eine ungefähre Abschätzung der Unterschiede zu den Fassungen in der Kanonischen Ausgabe; die redaktionellen Veränderungen bei der Erstellung der Zehn-Briefesammlung dagegen kann man noch nicht einmal ahnen und schon gar nicht konkretisieren. In jedem Fall sind wir von den dokumentarischen Fassungen der Paulusbriefe denkbar weit entfernt, ohne diese Entfernung auch nur halbwegs genau einschätzen zu können: Das hat einige Auswirkungen auf die Sicherheit, mit der das Bild des „historischen Paulus“ aus seinen Briefen erhoben werden kann.

Da sich der Umfang der Kanonischen Redaktion der Marcionitischen Apostolossammlung in etwa abschätzen lässt, lassen sich redaktionelle Überarbeitungen und Ergänzungen innerhalb der Paulusbriefe mit hinreichender Sicherheit identifizieren. Im Unterschied zu der seit vielen Jahrzehnten diskutierten Literarkritik der Paulusbriefe, für die in langen Forschungsperioden Pendelausschläge nach beiden Seiten ihre Konjunktur hatten, geht es dabei nicht um den Rückschluss von inhaltlichen „Spannungen“ oder „Brüchen“ auf die Verarbeitung von Quellen, sondern um den umgekehrten Weg: Die sekundären Bearbeitungen, die sich für die Kanonische Redaktion wahrscheinlich machen lassen, eröffnen die Möglichkeit, redaktionelle Spuren auch dort zu identifizieren, wo solche Spannungen bisher gar nicht aufgefallen waren, und sie für die Interpretation fruchtbar zu machen.

Datiert man die Endredaktion des Neuen Testaments auf die Mitte des 2. Jh., dann liegen ihr rund 100 Jahre Überlieferungsgeschichte von den frühesten Anfängen der dokumentarischen Paulusbriefe (bei der üblichen Datierung in die 50er Jahre des 1. Jh.) voraus. 100 Jahre Überlieferungsgeschichte heißt auch: 100 Jahre theologische Entwicklung, die sich in den Überlieferungsstufen einzelner Teilsammlungen und ihrer Redaktion niedergeschlagen hat. Ob es gelingt, die „dunklen Jahrzehnte“ der frühesten Geschichte des Christentums aufzuhellen, bleibt abzuwarten. Immerhin wird deutlich, dass diese 100 Jahre theologischer Entwicklung durch die Produktion, Rezeption und Redaktion von Texten gekennzeichnet sind.

In dem Maß, in dem Umfang und Gestalt der Marcionitischen Ausgabe deutlich werden, gewinnt schließlich auch die Kanonische Ausgabe Profil und wird das theologische Konzept der Kanonischen Redaktion sichtbar. Dieses redaktionelle Konzept könnte der Schlüssel zu einer historisch fundierten Theologie des Neuen Testaments sein. Der theologische Gestaltungswillen dieser Ausgabe lässt sich zwar nicht einfach auf die redaktionellen Veränderungen reduzieren, wird hier aber in besonderer Weise erkennbar, weil auch die aus der Vorstufe der Marcionitischen Sammlung rezipierte „Tradition“ erst im Licht der „Redaktion“ ihr Eigengewicht erhält: Diese Redaktion gibt zu erkennen, in welcher Hinsicht der Vielfalt der übernommenen Traditionen eine Einheit zukommt: Das redaktionelle Konzept der Kanonischen Ausgabe kommt dem am nächsten, was man als Theologie des Neuen Testaments bezeichnen könnte.

3 Beiträge

Diese Überlegungen deuten die möglichen Konsequenzen an, die sich aus der These der Endredaktion mit ihren Erweiterungen und Differenzierungen ergeben könnten. Aber wie lässt sich die Ausgangsthese über die von Trobisch genannten Argumente hinaus validieren? Wie der Eindruck vermeiden, dass in einem geschlossenen System nur jeweils die eigenen Voraussetzungen bestätigt werden? Da sich die Richtigkeit historischer Urteile nicht beweisen, sondern nur plausibilisieren lässt, liegt die wichtigste Begründung für die Tragfähigkeit der Ausgangsthese in dem Nachweis, dass sie viele – und zwar: viele verschiedene – Fragen in einem einheitlichen Modell zu beantworten in der Lage ist. Das bedeutet aber im Umkehrschluss auch, dass man sich zunächst auf die These der Kanonischen Ausgabe und ihre Weiterungen einlassen muss, um sie auf ihre Tragfähigkeit hin zu befragen. Die folgenden Beiträge machen dazu einen Anfang.

Am Anfang steht verständlicherweise Trobischs These von der Endredaktion des Neuen Testaments. 20 Jahre nach ihrer ersten Formulierung ist es notwendig, sie kritisch zu evaluieren und sie auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen. Dazu gibt zunächst Jan Heilmann einen auswertenden und systematisierenden Überblick über die bisherige Rezeption der These in der Forschung. Dabei stellt er auf der Grundlage einer Auswertung der relevanten patristischen Quellen, die traditionell zur Frage der Kanonentstehung herangezogen werden, außerdem die These auf, dass sich die von Trobisch in den Handschriften identifizierten Teilsammlungen auch in diesen metatextuellen Zeugnissen widerspiegeln und zieht daraus die Schlussfolgerung, dass die patristischen Zeugnisse nicht einen dynamischen Wachstumsprozess der Integration und Ausscheidung reflektieren, sondern die Diskussion über eine bereits bestehende Zusammenstellung in vier Teilsammlungen.

Wolfgang Grünstäudl diskutiert die These einer Kanonischen Ausgabe anhand der Rolle, die Trobisch dem Zweiten Petrusbrief zuweist: Er hält die Ausgangsthese in der von Trobisch vorgetragenen Form für nicht haltbar. Mit seinem Widerspruch hat Grünstäudl deutlich gemacht, an welchen Stellen und mit welchen Fragen die weitere Diskussion einsetzen müsste. Denn ähnlich wie Heilmann kann er bei seiner kritischen Würdigung entlang von Trobischs Begründungsstruktur zeigen, dass die These häufig aus unzutreffenden Gründen zurückgewiesen worden sei.

Einwände gegen die These der Kanonischen Ausgabe des Neuen Testaments beruhen aber nicht nur auf der Interpretation der (handschriftlichen und patristischen) Zeugnisse, sondern auch auf alternativen Vorstellungen von der Entstehung des „Kanons“ als Resultat eines dynamischen Sammlungs- und Ausscheidungsprozesses. Am wichtigsten ist hier die von Theodor von Zahn breit begründete Theorie, die in der gottesdienstlichen Verlesung einzelner Schriften das entscheidende Movens für deren Sammlung und Kanonisierung sieht. In diesem Zusammenhang untersucht Clemens Leonhard in liturgiewissenschaftlicher Perspektive die Frage eines Zusammenhangs zwischen liturgischer Lesung und der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der Evangelien. Dabei zeigt er, dass standardisierte Formen liturgischer Lesungen sich erst im 4. Jh. entwickeln und die Quellenbelege aus dem 2. Jh. und aus der ersten Hälfte des 3. Jh. viel weniger standardisierte Formen der Rezeption von biblischen Texten zeigen, als gemeinhin angenommen wird. Dieses Ergebnis entzieht dem Zahn’schen Modell die Grundlage und stellt daher auch die damit verbundene Vorannahme zur Entstehung der Sammlung in Frage.

Willy Clarysse und Pasquale Orsini, die in einem wichtigen Aufsatz theologisch motivierte Frühdatierungen neutestamentlicher Handschriften problematisiert hatten,1 führen diese Arbeit hier fort und ergänzen ihre bisherige Arbeit um Handschriften mit alttestamentlichen und patristischen Texten. Ihre Arbeit zeigt, dass der handschriftliche Befund für das 2. Jh. sehr überschaubar ist. In Bezug auf die Frage einer Kanonischen Ausgabe im 2. Jh. bedeutet dies, dass der Befund sowohl wegen der geringen Stichproben (zeitlich und regional) als auch wegen des zumeist fragmentarischen Zustandes der Papyri, die sich möglicherweise in das 2. Jh. datieren lassen, keinen Aussagewert für die Frage der Entstehung des Neuen Testamentes in Form von 27 Schriften hat. Hinsichtlich der Ausgangsthese bleibt dieser Befund ambivalent: So wenig, wie er ein dynamisches Wachstumsmodell plausibilisieren kann, so wenig erhöht er die Wahrscheinlichkeit einer Erstausgabe. Umgekehrt kann der handschriftliche Befund diese These aber auch nicht widerlegen. Denn das Alter einer Hs. sagt noch nichts über das Alter des enthaltenen Textes aus.

Ein zentraler Aspekt der Annahme einer einheitlichen Kanonischen Redaktion liegt in den Konsequenzen für die Textkritik, weil die Entstehung von Varianten nicht auf sekundäre Veränderungen reduziert werden kann. Wenn ein Prätext des kanonischen Neuen Testaments im Marcionitischen Evangelium vorliegt, ist es von zentraler Bedeutung, wie sich der rekonstruierte Text digital erschließen lässt und welche Vorteile damit verbunden sind. Das ist eines der Ergebnisse des Beitrags von Juan Garcés. Er führt aus, dass die textkritische Forschung und damit auch die Forschungsbemühungen um die These einer Kanonischen Ausgabe und deren Vorgeschichte im Zeitalter des digitalen Medienwandels vor neuen Herausforderungen stehen; umgekehrt eröffnen sich aber auch ganz neue Möglichkeiten. Garcés analysiert, wie die bisherige textkritische Forschung trotz fortgeschrittener Implementierung digitaler Methoden medientechnisch noch immer durch das Druckzeitalter beeinflusst ist, und zeigt auf, wie sich sowohl die Forschungsmethodik als auch die Repräsentation von Texten im digitalen Zeitalter wandelt.

Der Beitrag von Jan Heilmann und Peter Wick fragt danach, wie mit redaktionellen Varianten umgegangen werden soll, bei denen einerseits aus der Sicht der traditionellen textkritischen Kriteriern nur schwer eine eindeutige Entscheidung getroffen werden kann und die andererseits große Auswirkungen auf das narrative Gefüge des Johannesevangeliums haben. Sie nehmen explizit das heuristische Modell der Unterscheidung eines vorkanonischen und eines kanonischen Johannesevangeliums auf und untersuchen anhand exemplarischer Textvarianten, ob in der handschriftlichen Textüberlieferung des Johannesevangeliums Spuren eines vorkanonischen Johannesevangeliums zu identifizieren sind. Sie zeigen, dass sich im Rahmen des Modells durchaus plausible Erklärungen für die Entstehung einzelner redaktioneller Varianten finden lassen.

Wenn die These von der Kanonischen Redaktion zutrifft, dann hat sie ihre Spuren nicht nur in der handschriftlichen Überlieferung hinterlassen, sondern auch das redaktionelle Gesamtkonzept des Neuen Testaments gestaltet. In diesem Sinn analysiert David Trobisch das Johannesevangelium und identifiziert mögliche Passagen eines editorischen Eingreifens in den Text. Davon ausgehend vergleicht er die Figur des Jüngers Johannes in der für Marcion bezeugten Sammlung mit dem Konzept in der Kanonischen Ausgabe. Während Johannes in der für Marcion bezeugten Sammlung ein farbloser Nebencharakter ist, wird er durch den (die) Herausgeber der Kanonischen Ausgabe als Gegengewicht zu Paulus deutlich aufgewertet.

Die Identifizierung der Kanonischen Redaktion korreliert zwingend mit einer bestimmten Gestalt des Prätextes; da dessen Rekonstruktion auch immer umstritten ist, liegt hier die Gefahr einer zirkulären Argumentation nahe. Markus Vinzent diskutiert in seinem Beitrag am Beispiel des Vaterunsers die Bedeutung der methodologischen Vorannahmen für die Rekonstruktion des für Marcion bezeugten Evangeliums, das er für ein Produkt von Marcion hält. Vinzent zeigt, welche Auswirkungen die Bestimmung des Bearbeitungsgefälles zwischen dem für Marcion bezeugten Evangelium und dem kanonischen Lukasevangelium für die Rekonstruktionsentscheidungen hat, bzw. wie die Einschätzung, ob Marcion selbst der Verfasser des Evangeliums war oder nicht, sich auf die Rekonstruktion auswirkt.

Die Kanonische Redaktion hat ihr gestalterisches Potential auch mit umfangreichen und komplexen Ergänzungen unter Beweis gestellt. Matthias Klinghardt zeigt anhand der neutestamentlichen Abrahamüberlieferung, dass sich ihr Wachstum in mehreren Überlieferungsschritten nachvollziehen lässt. Auf der letzten Ebene der Kanonischen Ausgabe wird die vielgestaltige Abrahamtradition gezielt zur Klärung des Verhältnisses zwischen Paulus und Jakobus eingesetzt: Die mit dem Abrahambeispiel verbundene Redaktion erklärt einerseits die Spannungen zwischen beiden, dient andererseits aber dem Nachweis, dass sie in den fundamentalen Fragen völlig übereinstimmen.

Trotz der Unterschiedlichkeit der einzelnen Beiträge und der notwendigen Differenzierungen hat der Ansatz seine Validität und Fruchtbarkeit in sehr verschiedenen Bereichen gezeigt. Was die neuen Perspektiven, die sich hier ergeben, methodologisch und theologisch bedeuten, untersucht Günter Röhser. Er skizziert und systematisiert in seinem Beitrag die Konsequenzen der These einer Kanonischen Ausgabe für die neutestamentliche Wissenschaft. Dabei unterscheidet er zwischen exegetisch-historischen und theologisch-hermeneutischen Konsequenzen und kommt zu dem Ergebnis, dass die These der Kanonischen Ausgabe vor allem in historischer Hinsicht ein „Altering of the Default Setting“ (Dunn) bedeute, insofern sich insbesondere die Grundlagen für die neutestamentliche Textkritik veränderten. Aus hermeneutischer Sicht habe die These das Potential, neutestamentliche Theologie bzw. kanonische Auslegung historisch zu begründen.

Die These einer editio princeps des Neuen Testaments im Spiegel der Forschungsdiskussion der letzten zwei Jahrzehnte

Jan Heilmann

„Die Geschichte des Neuen Testamentes ist die Geschichte eines Buches. Eines Buches, das von einem konkreten Herausgeberkreis an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt herausgegeben wurde.“1

Dies ist die zentrale These einer Herausgabe von 27 Schriften mit dem Titel „Neues Testament“ im zweiten Jahrhundert, die David Trobisch in seiner 1996 erschienen Habilitationsschrift aufgestellt hat. Seine These beruht bekanntermaßen auf vier zentralen Beobachtungen zur Einheitlichkeit des neutestamentlichen Handschriftenbefundes:

„Die Notierung der nomina sacra, die Kodexform, die in den Handschriften einheitlich überlieferte Reihenfolge und Anzahl von Schriften, die Formulierung der Titel und die Hinweise darauf, daß die Sammlung von Anfang an einen einheitlichen Namen hatte, all das sind Elemente, die auf eine sorgfältige Endredaktion zurückzuführen sind.“2

Darüber hinaus arbeitete Trobisch das literarische Konzept der in Sammlungseinheiten herausgegebenen neutestamentlichen Schriften heraus. Das Ziel dieser Ausgabe habe darin bestanden, die Geschichte des frühen Christentums in einer spezifischen Perspektive, mit einer Tendenz zur Harmonisierung darzustellen und v. a. den Konflikt zwischen Paulus und den Autoritäten in Jerusalem zu entschärfen.3

Die Reaktionen in der Forschung auf diese These reichen von polemischer Ablehnung4 über wohlwollende Kritik und Skepsis5 bis hin zu vereinzelter produktiver Aufnahme der Ideen Trobischs.6 Als Ausgangspunkt für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der These einer editio princeps des Neuen Testaments (im 2. Jahrhundert) erscheint der Versuch sinnvoll, die bisher in der Forschung formulierte Kritik an Trobischs Studie systematisierend zusammenzufassen und zu evaluieren. Dazu werde ich die Reaktionen auf die These Trobischs unter den folgenden Kategorien verhandeln.

1 Methodische Anfragen an die Auswertung des Handschriftenbefundes

2 Sozial- und kirchengeschichtliche Argumente

3 Kritik an fehlender historischer Kontextualisierung

4 Das Problem der Sammlung der Katholischen Briefe

Zuletzt möchte ich den Ertrag dieser Durchsicht im Hinblick auf das Thema des Sammelbandes und für die weitere Forschung zusammenfassen. Im Anschluss an die englischsprachige Ausgabe von Trobischs Habilitationsschrift7 verwende ich den metasprachlichen Begriff editio princeps/Erstedition statt „kanonische Ausgabe“, um Missverständnisse zu vermeiden und schon begrifflich den Neuansatz zu markieren, der mit der These Trobischs verbunden ist. Zudem wird die Instanz, welche die von Trobisch postulierte Ausgabe zu verantworten hat, im Singular als Herausgeber bezeichnet, weil Trobischs These eine einheitliche Bearbeitung voraussetzt. Damit ist aber weder über Anzahl noch über das oder Geschlecht der Person(en) irgendeine Aussage gemacht.

1 Methodische Anfragen an die Auswertung des Handschriftenbefundes

Das Hauptgewicht der kritischen Anmerkungen zur These einer editio princeps liegt auf methodischen Vorbehalten bezüglich der Auswertung des Handschriftenbefundes. So wird a) von einigen Kritikern moniert, dass Trobisch einen Großteil der neutestamentlichen Papyrusfragmente, die s. E. für eine Feststellung der Reihenfolge der Schriften nicht auswertbar seien,1 als eigene Evidenzgröße nicht berücksichtige und er seine Beobachtungen stattdessen b) v. a. an den jüngeren „Vollbibeln“ gewonnen habe.2 Abweichungen von der postulierten Reihenfolge der Sammlungseinheiten in sog. „Vollbibeln“ als auch innerhalb der Sammlungseinheiten selbst würden c) als nicht aussagekräftige Ausnahmen dargestellt.3 Vor allem sei d) die Argumentation bzgl. der Sammlungseinheiten für die alttestamentlichen Hss. nicht durchzuhalten.4 e) Zudem wird Trobisch von D. C. Parker vorgehalten, seine auf den Überschriften basierende Argumentation hielte der Evidenz nicht stand, da die zugrundeliegenden Daten von Hengel unzulänglich seien.5 So seien die Überschriften in 𝕻4.64.67 sicher und in 𝕻66 „vielleicht“ (1992)/„wahrscheinlich“ (2001) von einer späteren Hand hinzugefügt worden.6 Er expliziert sein Gegenargument in seiner Rezension nicht, es müsste aber, um argumentative Stoßkraft gegen Trobischs Untersuchung zu entwickeln, lauten: Evangelien seien in Sammlungen auch ohne Titel zirkuliert. f) Weitere häufig genannte Gegenargumente beziehen sich auf Trobischs Beobachtungen zu den Nomina Sacra, deren Notierung in den Handschriften gerade nicht einheitlich durchgehalten würde,7 die auch in außerkanonischen/apokryphen christlichen Schriften vorkommen8 und – ich muss ergänzen – sogar archäologisch bezeugt sind.9 g) Parker, der selbst mit der Metapher des „lebendigen Textes“ arbeitet,10 fragt zudem an, wie Trobischs These mit der großen textkritisch feststellbaren Varianz des neutestamentlichen Textes (er spricht von Texttypen) vereinbar sei: „Would one not expect a greater uniformity?“11; h) P. Brandt, der in seiner Arbeit zur Endgestalt des (alttestamentlichen) Kanons die These Trobischs einer Endredaktion eingehend im Hinblick auf ihre heuristische Kraft würdigt,12 merkt kritisch an, dass Trobisch nur die griechische Rezeption, z. B. aber nicht die Reihenfolge in der altlateinischen Handschriftentradition berücksichtige.13

Zu den Kritikpunkten a)–c) ist zunächst anzumerken, dass die Schlagkraft des Arguments, das vor allem auf der Annahme des höheren Alters und damit Wertes der Papyrusfragmente gegenüber den „Vollbibeln“ basiert, angesichts der gut begründeten Problematisierung der häufig theologisch motivierten Frühdatierung deutlich sinkt.14 Vor diesem Hintergrund ist auch der Versuch einer statistischen Erhebung der Überlieferungslage, wie er bei S. Petersen zu finden ist, methodisch problematisch und wenig aussagekräftig.15 Die Annahme, bei einer Herausgabe einer Vierevangeliensammlung schon im 2. Jh. „müßten wenigstens annähernd gleich viele Exemplare der Einzelevangelien wieder aufgetaucht sein,“16 scheitert nicht zuletzt auch an der geringen Reliabilität des papyrologischen Befundes, der sich durch – vor allem regionale – Kontingenz und eine geringe Stichprobengröße auszeichnet. Zudem ist mit 𝕻66 ein Einzelkodex bezeugt, der, wenn die Titelformulierung ursprünglich ist, mit hoher Wahrscheinlichkeit aus einer Evangeliensammlung stammen muss.17 Wenn man aus einem Sammelband nur mit einem Aufsatz arbeiten möchte, kopiert man nicht das ganze Buch. Davon, dass Trobisch die (wenigen!) Abweichungen in der Reihenfolge der Schriftenanordnung als „nicht aussagekräftige Ausnahmen“18 darstelle, kann keine Rede sein. Vielmehr zeigt er begründet, wie sowohl die Abweichungen der Reihenfolge innerhalb der Sammlungseinheiten als auch insb. die Abweichungen in 𝕻46, D05, D06 und W032 zum Teil auf bewusste editorische Entscheidungen zurückgehen und sich als redaktionelle Umordnungen einer editio princeps interpretieren lassen.19 Darüber hinaus ist das Phänomen bekannt und nicht ungewöhnlich, dass Schriften aus ihren ursprünglichen Sammlungskontexten herausgerissen und neu zusammengestellt werden. Diesbezüglich kann auf verschiedene Beispiele verwiesen werden:

1 Papyrus Bodmer V.VII–XIII.XX (entspricht z.T. 𝕻72): u.a. Jud; OdSal 11; Melito von Sardes, Passahomilie; Ps.-Pls. 3Kor; Ps 33 f. LXX; 1/2Petr.20 Im Rahmen des Modells einer Erstedition ist der Papyrus Bodmer VII–IX im engeren Sinne nicht als „neutestamentliche“ Handschrift zu werten, sondern als Neuzusammenstellung mit einem eigenständigen redaktionellen Interesse. B. Aland hat eindrücklich herausgearbeitet, dass die singulären Textvarianten, die sie auf die Schreiber des Sammelkodex zurückführt, mit dem („antihäretischen“) redaktionellen Interesse der Sammlungszusammenstellung korrelieren.21

2 Im Crosby-Schøyen Codex (vermutlich Ende des 3. Jh., koptisch-sahidisch) sind mit einem Auszug aus 2Makk (5,27–7,41) und dem Jonabuch eindeutig Werke aus anderen Sammlungszusammenhängen zu einer neuen Sammlung verbunden und mit neuen Überschriften versehen worden.22

3 P. Bodm. 3 (ed. Kasser) ist eine koptische (pbo) „Edition“ von Joh und Gen, deren Motivation sich vermutlich vor allem aus der Bezugnahme von Joh 1 auf Gen 1 ergibt. Bei beiden Texten ist der Titel erhalten: bei Gen als inscriptio (ⲅⲉⲛⲉⲥⲓⲥ); die subscriptio von Joh (ⲉⲩⲁⲅⲅⲉⲗⲓⲟⲛ ⲕⲁⲧⲁ ⲓⲱⲁⲛⲛⲏⲥ) entspricht der in den griechischen Hss. überlieferten Form, die Trobisch mit der Erstedition in Verbindung bringt oder die doch zumindest auf die Zusammenstellung einer Vierevangeliensammlung zurückzuführen ist (s. u.).

4 Bei P. Mich. 3520 (4. Jh.; Koh, 1Joh, 2Petr) ist leider nicht mehr ersichtlich, ob die Briefe nummeriert worden sind, da die letzten Buchstaben der subscriptio von 1Joh fehlen und der Text des Kodex nach 2Petr 3,14 abbricht.23

5 P. Mich. 3992, ein fragmentarisch erhaltener, einlagiger Kodex in kleinem Format (ca. 14×9 cm), von Husselmann auf das 3./4. Jh. datiert, war eine Zusammenstellung von Joh, einem nicht mehr zu identifizierenden Text, 1 Kor, Tit, Ps und Jes.24

Zu Recht betont W. Grünstäudl gegen eine zu starke Suggestion des statistischen Arguments, dass sich die Argumentation Trobischs bezüglich der Reihenfolge der Einzelschriften in den einzelnen Teilsammlungen auf 20 bzw. 21 Manuskripte (zzgl. der drei großen Kodizes 01 02 03) aus den ersten sieben Jahrhunderten bezieht, von denen fünf bzw. sechs eine andere Reihenfolge bieten.25 Es ist richtig, dass es sich hier nicht um „beeindruckende 99,8%“ handelt, die „den einheitlichen Befund bestätigen.“26 Lässt man nun die strittigen Hss. 𝕻45 und 016 sowie 𝕻72 wegen des eindeutigen Charakters einer redaktionellen Neuzusammenstellung (s. o.) außen vor, sind es immer noch knapp 80% der auswertbaren Hss., welche die Reihenfolge innerhalb der Sammlungseinheiten der großen Kodizes bestätigen, wobei die Reihenfolge der vier Abweichler durchaus in Relation zu den anderen interpretiert werden kann (s. o.). Abgesehen von der Frage nach der Reihenfolge der Einzelschriften innerhalb der Teilsammlungen zeigt Trobischs Auswertung ganz deutlich eine hohe Konstanz der Teilsammlungen e p a r über einen großen Zeitraum hinweg, die sich sowohl in den griechischen Hss. manifestiert als auch – wie eine erste kurze Durchsicht zeigt – in einigen alten Übersetzungen ihren Niederschlag gefunden hat.27

Hier muss in Umkehrung von Anfragen an Trobischs Methode die Frage gestattet sein, ob vor dem Hintergrund eines Modelles, das die Entstehung des Kanons mit den Kategorien wie Zirkulation und Sammlung in und zwischen den Gemeinden, Wachstum sowie Integration und Ausscheidung beschreibt, nicht eine größere Heterogenität in den Hss. zu erwarten sein müsste. Es bleibt m. E. bei der Feststellung Trobischs, dass die Organisation in Teilsammlungen in den voneinander unabhängig entstandenen großen Kodizes des 4. und 5. Jh. auf einen Vorläufer zurückgeführt werden muss.28 Die Frage ist nur, wann diese Anordnungen entstanden sind. Und neben der hohen Konstanz der Teilsammlungen im hss. Befund sind es hier gerade die literarischen Quellen, in denen sich die Sammlungseinheiten schon früher widerspiegeln (s. u. Punkt 2 und zur Frage von Apg und katholischen Briefen auch Punkt 4).29

Völlig zutreffend ist jedoch d) die von Holmes und Grünstäudl geäußerte Kritik an Trobischs Idee, dass das Neue Testament zusammen mit dem Alten Testament „publiziert“ worden sei. Die Argumentation über die festen Sammlungseinheiten und über die Reihenfolge der Einzelschriften auch innerhalb der alttestamentlichen Hss. kann m. E. nicht aufrechterhalten werden.30

Das mit der Kritik unter Punkt e) angesprochene Problem der Titel und der Platzierung der Paratexte in den neutestamentlichen Handschriften ist eigentlich zu umfangreich, um es im Rahmen eines Sammelbandes zu behandeln und bedarf m. E. im Blick auf die These von Sammlungszusammenstellungen einer eigenständigen Untersuchung. Ein Desiderat besteht zudem m. W. in der Untersuchung der handschriftlich überlieferten Titel in den Sammlungseinheiten neben den Evangelien.31 An dieser Stelle ist aber schon gegen Parkers Kritik an Trobisch und Heckel in Stellung zu bringen, dass seine Vermutung, die Überschrift in 𝕻66 sei eine spätere Hinzufügung, ebenfalls auf tönernen Füßen steht. Er entfaltet diese These nämlich nicht selbständig, sondern verweist lediglich auf Turners Standardwerk zu den griechischen Handschriften,32 der ebenfalls ohne eigene Argumentation vermutet „that the title on the first page […] seems to be a later addition.“33 Die auf der Tagung anwesenden Experten im Bereich der Paläographie und Papyrologie haben die These des sekundären Charakters der Überschrift zurückgewiesen.34 Turner selbst warnt zu Recht vor dem zu einfachen historischen Narrativ: Rollen waren in der großen Mehrzahl der Fälle mit subscriptiones ausgestattet, bei der Übertragung der Texte in Kodizes sei diese Praxis übernommen worden, die Praxis, inscriptiones in Kodizes zu verwenden sei eine späte Entwicklung.35 Selbst wenn wir zwei Beispiele mit später hinzugefügten Titeln hätten, so bliebe immer noch die Evidenz in 𝕻75 bestehen: Auf f. 44r findet sich sowohl die subscriptio ευαγγελιον κατα λουκαν als auch die insciptio ευαγγελιον κατα ιωανην. Zudem hat Gathercole zuletzt zu Recht gezeigt, dass das Problem von neutestamentlichen Paratexten gerade nicht auf die Frage nach subscriptio und inscriptio reduziert werden kann.36 Paratextuelle Informationen zum Titel können in einem Sammelkodex prinzipiell an vier Stellen vorkommen: a) am Beginn, b) am Beginn einer Kapitelliste, c) in der fortlaufenden Kopfzeile, d) am Ende.37 Diskutiert man die Edition von Sammlungen neutestamentlicher Schriften, sollte man sich darüber Gedanken machen, welche paratextuellen Formen der Titel auf die Entscheidung im Kontext der Zusammenstellung von Sammlungsersteditionen zurückgehen und inwiefern Varianten im Handschriftenbefund als Abwandlungen dieser ursprünglichen Form interpretiert werden könnten, die wiederum auf editorischen Entscheidungen anderer beruhen.

An Trobischs Schlussfolgerungen bezüglich der großen Einheitlichkeit der Titel ändert das alles nichts. So wird man S. Petersen Recht geben müssen, wenn sie gegenüber der These Hengels einer sukzessiven Entstehung der Evangelientitel betont, dass sie „eine Konsequenz aus dem Zusammentreffen verschiedener Evangelien“38 sind. Allerdings ist zu überlegen, ob nicht das Modell „Zusammentreffen in einer Sammlung“39 mehr Plausibilität besitzt als Petersens ohne weitere Begründung vorausgesetztes dynamisches Gemeindezirkulationsmodell, bei dem der Konsens über die einheitlichen Evangelientitel im diskursiven Austausch über die Texte gefallen sein soll.40 Wirft man Trobisch an anderer Stelle vor, er könne keine positiven Belege für seine These anführen, so gilt dies für die Annahme einer sukzessiven Titelentstehung oder der These einer Titelentstehung im Kontakt umso mehr. Zudem müsste Petersen konsequenterweise dann die Entstehung der Evangelientitel und die Entstehung der Titel in den Briefsammlungen unterscheiden. Hier hat das einheitliche Erklärungsmodell Trobischs, das die Titelformulierung auf eine editorische Entscheidung zurückführt, eindeutige heuristische Vorzüge. Grünstäudl weist zudem darauf hin, dass die Titel „nur innerhalb der Teilsammlungen ‚einheitlich strukturiert sind‘“41. Dies wird von Trobisch auch nicht bestritten, der zudem die Funktion der unterschiedlichen Titelgebung im Vergleich der Teilsammlungen untereinander mit dem Redaktionskonzept insgesamt erklärt.42 Das Argument Trobischs für eine einheitliche Redaktion ist, dass die Titel in den Handschriften einheitlich überliefert sind, und nicht, dass sie über die einzelnen Teilsammlungen hinweg einheitlich gestaltet sind. Die umgekehrte Annahme, dass das NT in Form von 27 Schriften sich in einem dynamischen Sammlungs- und Ausscheidungsprozess formiert hätte, ließe aus der Sicht Trobischs eine höhere Diversität innerhalb des Handschriftenbefundes erwarten. Daher ist m. E. Grünstäudls Schlussfolgerung nicht zwingend, die Titel könnten nicht auf eine einheitliche Teilsammlungsedition im 2. Jh. zurückgehen. Für die damit verbundene zwingende Zusatzannahme, die Zählung der Briefe beruhe „auf dem Zusammentreten von zwei (bzw. im Fall der Johannesbriefe: drei) Texten“43, gilt die oben geübte Kritik an der Vereinbarkeit der Einheitlichkeit mit den Implikationen eines dynamischen Gemeindezirkulationsmodells.

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