Czytaj książkę: «Pirmasens»
© Dittrich Verlag ist ein Imprint der Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2020
Umschlaggestaltung: Guido Klütsch
unter Verwendung eines Motivs der Zeichnerin Serena Amrein
Die Bildrechte für die Werke Amreins liegen bei der Künstlerin
Lektorat: Marita Gleiss
ISBN 978-3-947373-58-1
eISBN 978-3-947373-60-4
Rainer Wieczorek
Pirmasens
Novelle
INHALT
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
I
Ich hatte ihm bereits einen Anfang geschrieben: Wajaroff und Danski betreten das Atelier. Unschlüssig, was zu tun sei, nehmen sie zwei der drei Stühle, die ich in der Mitte des großen Raums platziert habe, und setzen sich. Serena Amrein tritt ein und setzt sich ebenfalls. Die Drei sehen sich an und schweigen.
Nein, so wolle er das nicht haben, das erinnere ihn an Taboris Beckett-Inszenierungen: »Dieses Atelier befindet sich nicht auf einer Theaterbühne, sondern in einer stillgelegten Schuhfabrik! Pirmasens, Hügelstraße 7. Den Straßennamen hat man am Personaleingang in Stein gemeißelt. Kannste nachprüfen. In einer Fabrik wird sich nicht angeschwiegen, da wird gearbeitet.«
Serena Amrein, fuhr er fort, sei zudem keine Rolle für eine Schauspielerin, sondern sie sei Künstlerin: die gebe es wirklich! Im Übrigen müsse er jetzt nach Besançon und habe keine Zeit mehr für lange Besprechungen.
Nach zwei Jahrzehnten intensiver Zusammenarbeit werde ich doch wissen, wie man »sowas« erzählt, fügt er leise hinzu, bevor er in sein Auto steigt …
… sodass Serena Amrein, als hätte sie ihn gehört, bereits am Arbeiten ist, als ich das zweite Mal in das provisorisch eingerichtete Atelier blicke:
Serena Amrein: GITTER 3 (2016)
Flüssige Pigmentfarbe auf Papier,
50 x 60 cm (Foto: Wolfgang Lukowski)
MIT NASSER FEDER zieht sie Linien, die sich kreuzen, in den altweißen Karton. Ein Minimum an Farbe lässt sie an den Schnittpunkten in die angefeuchteten Spuren laufen. Was aussieht, als zöge es sich zusammen, dehnt sich in Wirklichkeit aus, denkt die Künstlerin und nickt zufrieden: hauchfein – voilà.
Danski und Wajaroff, die im darunterliegenden Stockwerk der ehemaligen Schuhfabrik wohnen, haben das Atelier betreten und begutachten das neue Werk. »gitter drei«, antwortet sie auf Danskis Frage. Auf einem langen Materialtisch liegen bereits gitter eins und zwei.
Jetzt wird es nicht mehr lange dauern, bis Danski und Wajaroff zum Atelierfenster gehen, und Amrein einen weiteren Karton auf den großen Werktisch unter das Licht legt. Ein Arbeitstag hat seine Rituale.
»In jeder Stroß’ e Schuhfabrik«, ahmt Danski den Pirmasenser Dialekt nach, als sie sich zu ihrem Stammplatz am Fenster begeben, während Serena Amrein gitter vier konzipiert.
»In der ganzen Stadt hat es früher nach Azeton gerochen, dem Lösungsmittel, das der Sohlenkleber freisetzte und vor allem der Bugzement, der ›Bugsel‹, der für den Oberschuh gebraucht wird.«
»Erinnerst du dich noch an die Lurchi-Hefte?«
»In den Salamander-Schuhen ist es sich gut auszuruhen, lange schallt’s im Walde noch: Salamander lebe hoch!«
»Noch – hoch – ist es sich gut auszuruhen: Na ja.«
»Als Kinder hat uns das nicht gestört.«
»Jetzt stört uns fast alles.«
»Das Salamander-Hauptwerk stand in Kornwestheim, unweit des Neckars, aber seit der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre ließen die zusätzlich in Pirmasens produzieren, in der Teha-Schuhfabrik, bald auch im Benedum-Werk und im Landkreis. Fünfzig Prozent der Schuhe Mitteleuropas kamen zu dieser Zeit aus Pirmasens – bis Anfang der Siebzigerjahre plötzlich Schluss war.«
»Lurchi hieß der Salamander; es gab Mecki, den Igel, und dann so einen Glotzäugigen – wie hieß der noch? «
»Weiß ich nicht mehr. – Gerät ja Vieles in Vergessenheit: Salamander wurde von einem Verwandten Albert Einsteins gegründet. Bis 1933 war die Firma in jüdischer Hand. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden Salamander-Schuhe von einem ›Schuhläufer-Kommando‹ getestet, das auf einer 700 Meter langen, mit unterschiedlichen Belägen ausgestatteten Teststrecke mehrmals 40 Kilometer zurücklegen musste. Das Kommando bestand aus Häftlingen des KZs Sachsenhausen. Ab 1943 mussten sie bei den Testläufen zusätzlich Sandsäcke tragen. Wer nicht mithalten konnte, wurde von den Wachen mit Schlägen traktiert. Kaum ein Häftling hielt diese Torturen länger als ein paar Wochen durch.«
»Da klingen Lurchis Verse schon anders. – Wenn aber Salamander erst in den späten Fünfzigerjahren in Pirmasens zu produzieren begann, hatte die ›Schlabbestadt‹ mit dem KZ Sachsenhausen nichts zu tun.«
»In Pirmasens war Rheinberger ein großer Name der Schuhindustrie. Der ließ – wie etliche andere Firmen im Deutschen Reich – auf solche Weise ›Schuhe testen‹. Zeitweise machten sich Vertreter des Hauses Rheinberger sogar an Ort und Stelle ein Bild der Zustände im KZ Sachsenhausen. Die Familie brachte es nach dem Krieg zu einem großen Vermögen.«
»Wann wurde denn unsere Schuhfabrik geschlossen, diese hier?«
»Anfang der Siebzigerjahre, wie die anderen auch. Seitdem kämpfen sie in Pirmasens gegen die Abwanderung. Und als 1997 die amerikanischen Streitkräfte abzogen, gab es für viele Menschen dieser Stadt keine Existenzgrundlage mehr.«
»Hast du eine Idee, warum uns Wieczorek an dieses Fenster stellt?«, fragt Wajaroff.
»Wir sollen uns Pirmasens ansehen.«
»Nur von diesem Fenster aus?«
»So sagte er. Und mit der Arbeit weitermachen. Du mit deinen Wandervögeln und ich mit meiner Coltrane-Analyse.«
»Er will etwas wissen, er sucht.«
»Oder er spinnt.«
MIT EINEM KLEINEN HAMMER haut Amrein Nägel in einen Rahmen, in immer gleichem Abstand. Immer gleich? Nichts ist immer gleich.
»Dr. Wajaroff – wie klingt das?«, fragt Danski.
»Habe ich mir schon öfter überlegt. An den Briefkasten würde ich’s wohl nicht schreiben. Bei der Wohnungssuche dagegen wäre es hilfreich.«
»Wie gehst du vor?«
»Ich ordne alles in Gegensätzen an. Den bürgerlichen Wandervögeln aus den Berliner Gymnasien, deren Wanderleben von den Eltern genehmigt und beantragt werden musste, stelle ich die Wanderflegel gegenüber, deren Naturerlebnis ohne den Besuch eines Bierlokals unvollkommen gewesen sei, wie ein Zeitgenosse schrieb. Eine Gruppe ohne pädagogische Ziele, jeder Provokation zugeneigt.«
»Wanderflegel. – Nicht schlecht.«
»Ich versuche, den Charakter unterschiedlicher Jugendbewegungen herauszuarbeiten. Die jugendlichen Arbeiter werden eine große Rolle spielen. Allen Gruppierungen gemeinsam aber ist der Versuch, zwischen der Knute des Elternhauses und der sich ankündigenden Vereinnahmung durch das Militär eine neu entstandene Lücke zu nutzen, eine Lücke, die man Jugend nennt – zur Selbstvergewisserung, zum Protest. – ›Jugendstil‹, ›Jugendbewegung‹, ›Arbeiterjugend‹ – wenn du über diese Zeit schreibst, kannst du das Wort ›Jugend‹ bald nicht mehr ertragen.«
»Weil mit der Industrialisierung auf einmal die Werte und Verhaltensnormen der Alten keine Orientierung mehr boten«, sagte Danski. »Im Jazz wurde das Verdrängen traditioneller Spielweisen durch Newcomer zum Dauerzustand! Als dies nicht mehr gelang, weil das musikalische Material von nahezu allem Befreibaren befreit war, verloren die Jazzmusiker ihren Kompass. Der Jazz lebte von der Umwälzung.«
Als Wajaroff nichts sagte, fuhr Danski fort:
»In Deutschland galt der Jazz – das wird dich interessieren – bis in die Siebzigerjahre hinein als Jugendmusik. Als künstlerische Ausdrucksform wurde er vom Establishment nicht ernst genommen. Ein Jazz-Musiker, der in kommunalem Auftrag spielte, erhielt seine Gage vom Jugendamt, nicht etwa vom Kulturamt.«
»Und die Jugendlichen in Pirmasens?«, fragte Wajaroff nach einer Pause.
»Die kamen nicht zu Jazzkonzerten. Die wurden in den Schuhfabriken gebraucht. Nach der achten, spätestens nach der neunten Klasse bot man ihnen ein nagelneues Mofa an, mit dem man am Wochenende bis Kaiserslautern fahren konnte – um Pirmasens zu entkommen –, und dann wurden sie ohne jede Berufsausbildung Arbeiter in einer Schuhfabrik. Es erfordert viel Geschick, Schuhe zu formen – das lernte man hier, ohne später davon profitieren zu können.«
»Pirmasens entkommen«, sagte Wajaroff leise.
Hinten hämmerte Amrein.
MIT EINEM SCHLAGSCHNURGERÄT spannt sie dünnes Baumwollgarn voll schwarzen Kreidepulvers von den Nägeln rechts des Bildes zu den Nägeln links des Bildes. Mit geübter Hand zieht sie feine Schlaufen um die Nägel: Die Schnur spannt sich.
»Als die gesamte Schuhproduktion innerhalb weniger Jahre von Pirmasens zunächst nach Spanien, Portugal, Ungarn und Kroatien, später nach Taiwan, Vietnam und Indien verlegt wird, klassifiziert man das Personal als ungelernte Arbeiter, nahezu chancenlos auf einem kleiner werdenden Arbeitsmarkt.«
»Sie hämmert nicht mehr, hörst du das?«
»Man kann nur hören, was zu hören ist.«
»Bitte nicht zu trivial, lieber Danski. Oder kennt man im Jazz die Pause nicht? Den ungespielten Ton?«
Im ersten Stock der gegenüberliegenden Fabrik waren die Gewichtheber des rheinland-pfälzischen Landesverbandes untergekommen. Im Erdgeschoss befand sich eine osteopathische Praxis mit angeschlossenem Fitnessstudio für die ältere Generation. Das obere Geschoss stand leer.
Wajaroff und Danski betrachten eine längere Zeit schweigend die Gewichtheber in den Fenstern des gegenüberliegenden Fabrikgebäudes.
»Die Lust scheint der Steigerung des persönlichen Leistungsvermögens zu gelten, ins Ungeheure hinein!«
»Und zugleich ins immer Aussichtslosere: Wer wollte die neue Bestleistung noch überbieten? Am Höhepunkt angelangt, muss der Gewichtheber vor der eigenen Leistung kapitulieren.«
Die Blicke der beiden sanken allmählich ins Erdgeschoss des gegenüberliegenden Gebäudes, in welchem sich angehende Senioren gegen das Alter wappneten, indem sie auf einer Bodenmatte Bauchwippen absolvierten, Eisengewichte mittels eines Ankers nach oben zogen, an speziellen Geräten sitzend mit ausgewählten Spreiz- und Streckbewegungen Schulter-, Bauch- und Rückenmuskulatur trainierten, um schließlich verschwitzt, aber zufrieden, mit Jogginghose und Handtuch in der Umkleidekabine zu verschwinden.
Bald saß eine andere Gruppe an den Geräten, und wieder begannen sich die Gewichte zu bewegen.
SIE ZIEHT EINE ATEMSCHUTZMASKE ÜBER MUND UND NASE und lässt die Farbpigmente der Schnur auf den Bildträger schnappen. Eine schwarze Linie zeichnet sich ab, die dort staubt, wo der Faden aufprallt.
»Wie eine Gitarrensaite«, wird Wajaroff sagen, wenn sie wieder am Fenster stehen, und Danski wird ihn fragen, wie er auf das Thema seiner Arbeit gekommen sei. Er selbst sei Pfadfinder gewesen, wird Wajaroff antworten, Jungpfadfinder, um genau zu sein. Bis zum Hilfskornett der Sippe Bison habe er es gebracht. Einen Ledergürtel mit Pfadfinder-Schnalle, ein Fahrtenmesser mit Metallscheide, ein blaues Jungpfadfinder-Abzeichen und die schwarze Schlaufe des Hilfskornetts habe er getragen. Und das braune Hemd, vor dem die Kiosk-Besitzerin, Frau Pallmann, so erschrak, als er seine Kluft das erste Mal spazieren trug. Eigentlich sei es eher sandfarben gewesen, wüstenfarben, aber das konnte den Schreck nicht lindern. Dass man 1968 – und um dieses Jahr handelte es sich – Zwölfjährige, als sei nichts geschehen, in ein Braunhemd steckte, sei bezeichnend für die Entwicklung Deutschlands in den ersten Nachkriegsjahrzehnten gewesen, so Wajaroff. Und nach einer Pause: »Ich jedenfalls fand mich schick und erinnere mich noch bestens, wie ich mit jener Wandergitarre, die mir meine Eltern bei Kaplan Eberhard gekauft hatten, durch die Dunkelheit der Wintermonate zur Gruppenstunde ging: Die Zeit der Abgrenzung war gekommen. Christian Nestmann, mein Gruppenführer, ein sogenannter Rover (rotes Abzeichen), führte ein Ringbuch, in dem er selbstabgetippte Beatles-Texte aufbewahrte, mit allen Gitarren-Akkorden! Meiner Wandergitarre also und der grauen Schreibmaschine meines Vaters, einer Torpedo, gehörte die Zukunft. Zwischen der alten und der neuen Welt versuchte ich mich einzurichten. Die alte Welt war das Wohnzimmer meiner Eltern, in denen ich nun im Zweifinger-System die Worte tippte: Nothing you can do, that can’t be done – eine Sprache, die meine Eltern nicht verstanden. Die neue Welt, das war das Lagerfeuer der Pfingstfreizeit, als ich zum ersten Mal den Klang einer zwölfsaitigen Gitarre hörte, der mich verzauberte. Und wenn wir dann mit Kaplan Eberhard zusammen beim Abschiedslied sangen wir ruhen all in Gottes Hand, dann wussten wir uns auch außerhalb des Elternhauses geborgen, in Gottes freier Natur.«
»Die goldenen Zeiten von Pirmasens«, sagte Danski.
»Dass sich die Zeiten ändern, merkten auch die Pfadfinder. Bei der Nachtwanderung 1969 bekam ich mit den Worten Picon aus Paris eine Flasche gereicht. Kein Zweifel: Das war verboten – und ich griff zu. In den Ringbüchern der Gitarristen gab es neben den Liedern der Beatles jetzt auch jene Franz-Josef Degenhardts, die grifftechnisch schwieriger waren. Mit vierzehn dann mein erstes Degenhardt-Konzert, dreitausend Leute!«
»Davon eineinhalbtausend in Salamander-Schuhen!«
»Hochkonjunktur. 1969 hatte die Schuhproduktion in Pirmasens ihren Höchststand erreicht. Jetzt konnten die Arbeiter zum ersten Mal wirklich etwas für sich herausschlagen!«
»Den Farbfernseher.«
Wajaroff sah sich um. »Ich glaube, wir müssen runter. Hinten wird schon das Licht gelöscht.«
Darmowy fragment się skończył.