Czytaj książkę: «Bochumer Häuser»

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Rainer Küster

Bochumer Häuser

Geschichten von Häusern und Menschen

ATHENA

edition exemplum

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1. Auflage 2013

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Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen

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ISBN (Print) 978-3-89896-126-4

ISBN (ePUB) 978-3-89896-835-5

Für Dorothee

Vorwort

Die Anregung, mich mit Bochumer Häusern zu beschäftigen, reicht zurück in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts. Zusammen mit Josef Fellsches schrieb ich damals die ersten Auflagen der »Bochumer Wortschätzchen«. Zum Konzept dieser Sammlung gehörte es, dass sich Leserinnen und Leser an der Genese und Weiterentwicklung der verschiedenen Auflagen beteiligen konnten. Ich hatte versucht, soweit dies möglich war, das Bochum-Typische der Wortschätzchen zu akzentuieren, um nicht in einem allgemeinen Ruhrpott-Sprachbrei zu landen. Das ist sicher nicht immer gelungen, aber durch die Aufnahme von einigen witzigen oder merkwürdigen Bezeichnungen für Bochumer Viertel, Siedlungen, Straßen und Straßenzüge (Bindfadensiedlung, Blaubuchsenviertel, D-Zug, Grummer Seenplatte, Kolonie Vollmond etc.) oder von Namen, welche die Bochumer einigen ihrer Häuser gegeben hatten (Bienenhaus, Jauchenkarl, Nasse Elf, Schloss Pipi, Tusculum etc.), mag dieses Konzept zumindest im Ansatz aufgegangen sein.

Nun erhielt ich immer wieder schöne Briefe von Leserinnen und Lesern, in denen gerade Häuser, deren eigenwillige Bezeichnungen mir für die Wortschätzchen-Sammlung empfohlen wurden, recht detailliert beschrieben waren. Nicht selten hatte man in den Briefen gleich eine entsprechende Geschichte mitgeliefert, die zu dem betreffenden Haus gehörte. In vielen Fällen waren diese Geschichten recht originell, aber andererseits doch zu lang, um sie in den »Wortschätzchen« zu publizieren. Dies brachte mich damals auf die Idee, für eine besondere Publikation Bochumer Häusergeschichten zu sammeln, und seit 2002 habe ich angefangen, sie auch aufzuschreiben.

Dass am Ende etwas dabei herausgekommen ist, was mit den »Wortschätzchen« nichts mehr zu tun hat, dass die Geschichten viel länger wurden als zunächst angenommen, war auch für mich überraschend. Meine ursprüngliche Idee war ganz einfach gewesen. Ich wollte mir die Geschichte, die um ein Haus kursierte oder mit einem Gebäudekomplex verbunden war, von kompetenten Gesprächspartnern erzählen lassen und auch den Vorgang dieser Berichte mit in den Text aufnehmen. Ich hatte vor aufzuschreiben, was und auch wie mir etwas erzählt wurde, und wenn möglich gemeinsam mit meinen Informanten die Räumlichkeiten, um die es ging, zu betreten und anzusehen. Dies sollte gewissermaßen die prototypische Form einer Häusergeschichte sein, von der je nach Einzelfall ein bisschen abgewichen werden konnte, aber nicht allzu sehr.

Allerdings unterscheidet sich bei solchen Vorhaben die Praxis meistens vom Strickmuster ihrer Planung. So war das auch bei mir der Fall – vielleicht zum Glück. Manchmal hatten die Informanten unendlich viel zu erzählen, ein anderes Mal gab es nur kurze Hinweise, und ich brauchte mehrere Gewährsleute, deren Mitteilungen ich zu einer Geschichte zusammenfügen konnte. Gelegentlich kam man überhaupt nicht in die Häuser hinein. Nicht selten war es nötig, die Recherchen selbständig auszudehnen, Zeitungen und Bücher zu lesen, im Archiv zu wühlen. So sind in den letzten fünf Jahren fünfzehn Texte entstanden, die am Ende alle sehr unterschiedlich ausgefallen sind und durch deren Struktur das ursprüngliche Konzept oft nur noch blass hindurchschimmert.

In einem Punkt bin ich allerdings bei meiner ursprünglichen Idee geblieben. Von Anfang an hatte ich nicht im Sinn, eine Art Bochumer Reiseführer zu schreiben; dafür würden weder meine Kenntnisse der lokalen Gegebenheiten noch die ihrer Geschichte ausreichen. Ich hätte sicher auch nicht das sprachliche Geschick für eine derartige Aufgabe. Was ich versuchen wollte, war, solche Bochumer Häuser vorzustellen, von denen ich – nicht selten durch Zufall – wusste, dass es über sie etwas zu erzählen gibt, unabhängig von ihrer Prominenz oder ihrem Renommee. Daher repräsentiert die Auswahl an Häusern, die ich getroffen habe, nichts außer sich selbst. Im Übrigen – würde man mich fragen, was mich mehr interessiert hat, die Häuser oder die zu ihnen gehörenden Menschen, dann müsste ich wohl die Antwort schuldig bleiben.

Auch hinter der Tatsache, dass es gerade 15 Häusergeschichten geworden sind, verbirgt sich kein tieferer Sinn. Es hätten ebenso gut zwei mehr oder zwei weniger werden können. Was ich hier vorstelle, sind diejenigen Bochumer Häuser, zu denen mir Menschen etwas erzählen konnten, Freunde, Bekannte, manchmal auch Gewährsleute, die ich erst im Zuge meiner Recherchen kennen lernte. Wenn ich das Gefühl hatte, eine Häusergeschichte sei lohnend, so habe ich es versucht.

In einigen Fällen musste ich den Begriff des Hauses recht weit ausdehnen. Ich hoffe, dies führt beim Lesen zu keinen Irritationen. Die Jahreszahlen unter den einzelnen Geschichten geben an, wann die Texte entstanden sind. Manchmal sieht man, dass ich mir den betreffenden Text nach einiger Zeit noch einmal vorgenommen und ihn vervollständigt habe. Bei der letzten Geschichte ist die Spanne zwischen Anfang und Ende besonders groß.

Da die vorgestellten Geschichten zwar in den letzten fünf Jahren, aber doch zu unterschiedlichen Zeiten geschrieben wurden, enden nicht alle da, wo wir heute sind. Wolfgang Welt, der Nachtwächter im Schauspielhaus, hat im letzten Jahr selbst als stummer Nachtportier auf der Bühne gestanden, die Goethe-Schule ist wohl inzwischen aus der Villa Nora ausgezogen, die schöne Holztreppe im Kortumhaus soll nun endgültig abgebaut werden, an der Ruhr-Uni beginnt die nächste Renovierungsphase. Und wie lange in dem Gebäude der Schauspielschule überhaupt noch gefochten werden darf, weiß wohl niemand ganz genau. Aber so ist das eben mit diesen Häusern. Ihre Geschichten gehen weiter. Man könnte gleich noch einmal von vorn anfangen.

Viele von denen, die mir etwas zu den beschriebenen Häusern erzählt haben, werden auch in den Texten erwähnt, aber nicht alle. Bei Letzteren bedanke ich mich ausdrücklich am Ende des Buches. Dazu gehören auch diejenigen, die mir weitere Häuser empfohlen haben, also Geschichten, zu deren Realisierung mir bis jetzt noch die erzählerische Phantasie gefehlt hat. Das muss ja nicht immer so bleiben.

Drei Namen sollen allerdings schon hier genannt werden. Besonderer Dank gilt Thomas Zehnter, der mit seinen schönen Illustrationen mein Häuserbuch bereichert hat. Er bildet die Gebäude nicht nur ab, sondern erzählt auf seine Weise die Geschichten weiter, fügt ihnen neue Details hinzu und entdeckt manchmal Dinge, die mir beim Schreiben entgangen sind. Hugo Ernst Käufer hat viel Aufmunterndes in seinem Nachwort geschrieben. Auch ihm möchte ich herzlich danken ebenso wie Ansgar Loheide, durch dessen gründliche und kluge Korrekturen das Buch lesbarer geworden ist.

Rainer Küster

Villa Nora – kein Puppenheim

Wir haben uns draußen verabredet, vor dem seitlich gelegenen Eingangsportal. Es ist gleich Viertel vor drei am Nachmittag, Schüler älteren Datums strömen aus dem Gebäude. Sie haben bis zur achten Stunde durchhalten müssen. Für einige von ihnen stand »Deutsch« bei Herrn Brand auf dem Plan. Und jetzt soll es auch genug sein, pünktlicher Schluss für alle Beteiligten.

Eberhard Brand kommt als Letzter die Treppe herab. Er trägt schwer an seiner Aktentasche. Ein Deutschlehrer nimmt häufig eine volle Aktentasche mit nach Hause. Das ist eben so ein Lehrerschicksal. Aber Eberhard Brand unterrichtet nicht nur an der Goethe-Schule. Er ist auch Vorsitzender der Bochumer »Kortum-Gesellschaft«, und als solcher kennt er sich aus in Bochum wie wenige andere, hat er ein Gespür für Bochumer Häuser.

Wir stehen vor der Villa Nora, Kortumstraße 156, der gediegenen Dependance der Goethe-Schule. Hundert Jahre sind diese Mauern alt. Vor einiger Zeit wurden sie als Denkmal geschützt. Auch heute noch wirkt die Villa bombastisch, pompös mit den beiden Giebelvorlagen und den Erkern an der Straßenfront, mit dem kompliziert gekurvten Dach und der spätgotischen Ornamentik. Wie mag das Gebäude vor hundert Jahren gewirkt haben, als die damals gerade neu angelegte Straße noch Kaiser-Wilhelm-Straße hieß?

Wir betreten die Villa durch den Herrschaftseingang mit seinem repräsentativen Treppenhaus. Daneben gibt es noch den Dienstboten- und Lieferanteneingang, sogar mit einem eigenen Treppenhaus, das allerdings deutlich bescheidener gestaltet ist. Vierzig Räume besitzt diese hochherrschaftliche Villa. In einigen dieser Räume residiert heute die Oberstufe der Goethe-Schule. Das war natürlich nicht immer so. Wer baut schon Villen für Gymnasiasten? Eberhard Brand kennt die wechselvolle Geschichte des Hauses.

Das Adressbuch der Stadt Bochum gibt eine erste Auskunft. Das Haus Kaiser-Wilhelm-Straße 24 wird erstmals im Jahre 1899 genannt. Sein Erbauer und Eigentümer heißt Heinrich Köhler; auch der Beruf ist im Adressbuch angegeben. Er lautet ganz schlicht und lakonisch »Generaldirektor«. Wenn Köhler zusammen mit seiner Ehefrau vom Erker des Herrenzimmers hinunterschaute, dann fiel sein Blick auf die »Partie am Kaiser-Wilhelm-Denkmal«, so wird der Platz auf alten Postkarten bezeichnet. Heute stehen hier die Autos der Goethe-Schüler und die Fahrräder der Lehrer.

Wer war dieser Heinrich Köhler? Wer war seine Frau, nach der noch heute die Villa benannt wird?

Es beginnt mit einer Bilderbuchkarriere, nicht untypisch für die Zeit und die Region. In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts war Heinrich Köhler in führender Position für den Bochumer Verein tätig gewesen, hatte unter Jacob Mayer, dem Gründer des Unternehmens, das Bessemerwerk geleitet. Dann war er zur Konkurrenz gewechselt und hatte schließlich im Jahre 1889 in Bochum-Weitmar ein eigenes Unternehmen, die »Westfälischen Stahlwerke« gegründet. Man produzierte Eisenbahnmaterialien, vornehmlich Radsätze, Federn, Weichen. Fünfzehn Jahre lang stand Heinrich Köhler an der Spitze des Unternehmens. Den geschäftlichen Höhepunkt erlebte das Werk um die Jahrhundertwende. Doch dann ging es abwärts, es folgten Rückschläge, Zeiten der Ertraglosigkeit. Im Dezember 1904 nahm Köhler seinen Abschied aus der Firma, wohl aufgrund der schwierigen geschäftlichen Situation. Im »Märkischen Sprecher« wird der Abschied des Generaldirektors Köhler ausführlich dargestellt und gewürdigt:

»Gestern Abend brachten etwa 1200 Angestellte (Beamte und Arbeiter) der Westfälischen Stahlwerke dem in den Ruhestand tretenden Generaldirektor einen Fackelzug dar, der sich um 7 ¼ Uhr von der Fabrikanlage in Bährendorf zur Köhlerschen Villa an der Kaiser-Wilhelm-Straße bewegte. Dort hielt Dreher Wortmann eine Ansprache, ausklingend in ein Hoch auf Herrn Generaldirektor Köhler; der letztere erwiderte mit einem Hoch auf die Westfälischen Stahlwerke. Die Gesangsabteilung trug mehrere Lieder vor. Bei einer Nachfeier in der Tonhalle, an der auch die Familie Köhler teilnahm, brachte Herr Prokurist Brinkmann das Kaiserhoch aus.«

Drei Jahre später, im Jahre 1907, stirbt Heinrich Köhler im Alter von siebzig Jahren, »plötzlich infolge Herzlähmung«, wie es in der Todesanzeige heißt. Beerdigt wird er in der Köhlerschen Gruft auf dem Friedhof an der Blumenstraße in Bochum. Wer jetzt den Friedhof aufsucht, findet die Gruft im ältesten Teil. Dort erhebt sich noch heute über der Grabstätte ein hoher Sandsteinsockel, der die Bronzebüste Heinrich Köhlers trägt.

Hat dieser Heinrich Köhler im gesellschaftlichen Leben Bochums eine Rolle gespielt? Eberhard Brand hat nachgeforscht. Das Ergebnis ist seltsam negativ. Heinrich Köhler ist nicht unter den Mitgliedern der noblen »Gesellschaft Harmonie« zu finden; sein Name taucht auch nicht in den Repräsentanten-Listen der Industrie- und Handelskammer zu Bochum auf, obwohl Köhler von seinem Stand als Hütten- oder Generaldirektor das Prestige gehabt haben müsste, um in den genannten Institutionen engagiert zu sein. Woran mag diese Zurückhaltung gelegen haben? Eberhard Brand gibt zu bedenken:

»Der Grund für eine diesbezügliche Abstinenz Heinrich Köhlers dürfte wohl in der Tatsache zu suchen sein, dass er sich als permanenter Konkurrent des mächtigen und einflussreichen Bochumer Vereins behaupten musste, dessen leitende Herren nicht nur die ökonomische Situation in Bochum beherrschten; sie gaben in Bochum auch in gesellschaftlicher Hinsicht weithin den Ton an. Köhler, der abtrünnige ehemalige Mitarbeiter, Köhler, der unbequeme Emporkömmling, Köhler, der mit einer schwierigen, exzentrischen Frau Verheiratete, passte offensichtlich nicht so ganz in die spezifische Bochumer Gemengelage. Und daran änderte auch seine hochherrschaftliche Villa in der Kaiser-Wilhelm-Straße nichts.«

Die »schwierige, exzentrische« Frau, von der Brand spricht, ist Amélie Köhler, geborene Würzburger, die im Januar 1907 »im namenlosen Schmerz« hinterbliebene Ehefrau Heinrich Köhlers. Seit wann sich diese Frau selbst Nora nennt, seit wann sie Nora genannt werden will, ist nicht genau bekannt.

Nora, das ist um die Jahrhundertwende ein Name von literarischem Gewicht. Im Jahre 1879 publiziert der norwegische Dichter Henrik Ibsen sein Drama »Nora oder Ein Puppenheim«. In diesem Stück geht es auch, aber keineswegs nur um Emanzipation. Der eigentliche Konflikt sitzt tiefer. Das Thema des Dramas ist die unheilbare Vertrauenskrise zwischen zwei Eheleuten. Nora, die Ehefrau des Rechtsanwalts Helmer, möchte ein erfülltes, verantwortliches Leben an der Seite ihres Mannes und als Mutter ihrer Kinder führen. Aber Helmer behandelt sie wie eine Unmündige, er degradiert sie zu einer Marionette, ihr Heim ist ein Puppenheim.

Was mag vorgefallen sein in diesem Hause, in der Villa Köhler, dass sich Frau Amélie Köhler diesen Namen gab, dass sie sich mit dieser dramatischen Figur identifizierte? Die Nora des Theaterstücks nimmt am Ende ihre Reisetasche und verlässt Ehemann und Kinder, weil sie nicht mehr daran glaubt, dass sich irgend etwas ändert, nicht mehr daran glaubt, dass »etwas Wunderbares« geschieht. Ibsens Nora entbindet ihren Mann ihr gegenüber jeglicher Verpflichtung. »Auf beiden Seiten muss volle Freiheit herrschen.« Das Stück endet mit dem Dröhnen einer Tür, die zugeschlagen wird.

Im Hause Köhler blieben die Türen offen; Amélie Köhler hat ihren Mann nicht verlassen, blieb bei ihm bis zum Ende; der Schmerz ist schließlich namenlos, er wird nicht formuliert, bleibt unausgesprochen.

Ist das Spiel mit dem Namen nur eine Marotte, eine literarische Koketterie? Oder noch ganz anders: Verbirgt sich etwa hinter der Änderung des Namens ein raffiniertes Versteckspiel? Ist es gar nicht Amélie Köhler, die sich mit Ibsens Nora identifiziert? Will sie nur ihren Gatten treffen, den sie auf diese Weise zu Ibsens Helmer macht? Zu diesem Ehemann, dessen Eitelkeit und Feigheit, dessen Selbstgerechtigkeit ihr unerträglich sind? Diesem Spießer, der seinen gesellschaftlichen Aufstieg genau genommen seiner Frau zu danken hat, der aber zu borniert ist, dies zu erkennen? Ist mit der Umbenennung im Grunde Heinrich Köhler gemeint? Immerhin würde dies erklären, wieso noch eine zweite Nora Platz im Hause Köhler hatte, nämlich die eigene Tochter, die nun wirklich diesen Taufnamen erhielt.

Der Lebensweg der Amélie Köhler, genannt Nora, hat jedenfalls wenig mit dem von Ibsens Nora gemein. Nora Köhler ist nicht die bescheidene Frau, die eher im Hintergrund wirkt und irgendwann einmal ihre Kräfte bündelt und den alles entscheidenden Entschluss fasst. Nora Köhler hat sich schon immer eingemischt. Sie stammte aus der weit verzweigten jüdischen Familie Würzburger, deren Mitglieder im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert im öffentlichen Leben der Stadt Bochum eine wichtige Rolle spielten. Ihr Vater war der Sanitätsrat Dr. med. Abraham Würzburger, dessen Grabstein auf dem jüdischen Friedhof an der Wasserstraße erhalten geblieben ist.

Jedenfalls mischt sie von Anfang an kräftig mit. Als ihr Mann sich vom Bochumer Verein trennt, wird sie in der neu gegründeten »Westfälischen Stahlindustrie« für die Köhler-Partei eine Art Chefin des Generalstabs. Als dann der Bochumer Verein das Konkurrenzwerk aufkauft, avanciert sie auch in den »Westfälischen Stahlwerken« in Weitmar zur eigentlichen Seele der Betriebsleitung. In einem Nachruf auf Nora Köhler im Werksblatt des Bochumer Vereins vom 19. Juni 1914 heißt es:

»Man rühmte Köhler als einen Mann mit großen Sachkenntnissen, der es auch verstand, mit seinen Leuten menschlich umzugehen, der aber nicht die Energie besaß, sich gegenüber seiner allzu energischen Frau durchzusetzen, der man auch im Allgemeinen wenig sympathische Züge nachrühmte. Frau Nora kommandierte und dirigierte auf dem Werk sowohl den Oberingenieur wie auch den Laufburschen, behandelte beide wie Schuhputzer. […] Ihrem exzentrischen Auftreten ist es auch nicht zuletzt zuzuschreiben, dass viele leistungsfähige Männer dem Köhlerschen Schürzen-Regiment Valet sagten.«

Vielleicht würde man heute manches anders ausdrücken, manches vorsichtiger formulieren. Schürzen-Regimenter waren im Jahr des Kriegsausbruchs nicht gerade beliebt. Als der Generaldirektor Köhler seinen Abschied aus der Firma nahm, hielt Frau Nora Köhler die große Rede beim Abschiedsmahl; sie ahnte und sprach dies auch deutlich aus, dass dem Werk keine rosige Zukunft bevorstand. Und sie sollte mit ihrer Prognose Recht behalten.

Auf anderem Terrain allerdings versagte ihre Weitsicht. Als ihr Mann starb, hinterließ er seiner Frau ein Vermögen von 2 Millionen Reichsmark und die fürstliche Villa am Stadtpark. Nora Köhler spekulierte mit ihrem Geld an der Börse. Sie riskierte alles – und verlor alles. Auch das prächtige Haus an der Kaiser-Wilhelm-Straße. Der große Kalikrach im Jahre 1909 gab ihr gewissermaßen den Rest, da sie außerordentlich viele Kaliaktien besaß. Im Werksblatt des Bochumer Vereins lautet der Kommentar:

»Eine zur Krankhaftigkeit gesteigerte Spekulationswut ließ sie wie einen von der Leidenschaft ergriffenen Spieler alles auf eine Karte setzen, bis sie den letzten Heller verjuxt hatte. […] Die Freunde im Glück erwiesen sich als falsch, wozu auch ihr Auftreten in diesen Tagen beigetragen hatte: es ging bergab und bergab, bis sie, die zuletzt auch noch dem Alkohol verfallen, der öffentlichen Armenpflege zur Last fiel. Die Frau, die Menschen und Existenzen als der ausgesprochenste Typ des kapitalistischen Herrenmenschen wie ein Stück Papier, wie Gußstahlschienen oder altes Eisen behandelt hatte, bekam nun am Ende ihres Lebens noch die ganze Härte der Gesellschaftsordnung zu spüren – was einen menschlich rühren muss –, deren Produkt sie war.«

Die mehrfache Millionärin, die eine fürstliche Villa am Bochumer Stadtpark bewohnte und sich nur in den feinsten Karossen ausfahren ließ, fand sich irgendwann in einem Dachzimmer auf einer Schütte Stroh wieder. Bettelnd trieb sie sich in den Straßen Bochums umher, sprach bei einstigen Bekannten vor, wurde von der Polizei aufgegriffen und im »grünen August« – heute würde man sagen: in der »grünen Minna« – zum Krankenhaus gebracht. Dort verweigerte man die Aufnahme, und Nora Köhler wurde der Armenverwaltung übergeben. Die Witwe des einstigen Generaldirektors Köhler starb einsam und verlassen in der Landesarmenanstalt in Geseke. In der Bochumer Köhler-Gruft ist sie nicht beigesetzt worden. Es ist gut möglich, dass sie auf dem Begräbnisplatz der Landesarmenanstalt in Geseke begraben wurde.

Aber nach Noras Tod geht es irgendwie weiter mit der nach ihr benannten Villa. Noch vor dem Ersten Weltkrieg wird aus der Villa Nora für einige Zeit die »Villa Balcke«. Auch Hans Balcke ist von Beruf Ingenieur; auch ihn schmückt die Berufsbezeichnung »Generaldirektor«. Der Maschinenbau ist sein Metier.

Als die Familie Balcke im Jahre 1926 auszieht, wird die Villa Nora Ausstellungsort der Städtischen Gemäldegalerie in Bochum. Dies bleibt so bis in die letzten Kriegsjahre hinein.

Am Tag der massivsten Bombenangriffe auf Bochum, am 4. November 1944, wird die Villa Nora schwer getroffen; Kunstwerke, die Kunstbibliothek und Einrichtungsgegenstände werden vernichtet. Der Ausstellungsbetrieb der Gemäldegalerie wird eingestellt.

Wenn man hinten um die Villa herumgeht, sieht man, wo später angestückelt wurde. Eberhard Brand beziffert den Schadensgrad der Villa Nora auf 30 bis 50 Prozent. Er hat diese Angaben dem offiziellen Stadtplan »Bochum 1945«, der vom Katasteramt herausgegeben wurde, entnommen. Der Stadtplan ist zuverlässig. Er dokumentiert die Zerstörungsgrade bei den einzelnen Bochumer Häusern im Maßstab 1:500.

In diesem Stadtplan gibt es nun im Grundriss des Hauses »Kaiser-Wilhelm-Str. 24/Gemäldegalerie« noch einen merkwürdigen Zusatz. Vom »Umbau in eine Warnzentrale« ist dort die Rede. Brand erklärt:

»Es spricht vieles für die Annahme, dass das große und vielräumige, offensichtlich unbeschädigte Kellergeschoss als Luftkrieg-Warnzentrale genutzt wurde. Und dies trotz der erheblichen oberirdischen Bombenschäden am Gebäude. Das Haus lag unweit der Bochumer Innenstadt, und die war ja weitgehend zerstört. Knapp 30 Räume und Räumchen, Schleusen und Kammern, dazu Kellerfenster-Verkleidungen und Armierungen sowie Befestigungen der Zu- und Ausgänge unter Luftschutz-Erfordernissen sind auf der Grundrisszeichnung auszumachen.«

Und wie kommen nun die Goethe-Schüler in dieses herrschaftliche Gebäude? Es ist ganz schlicht die Raumnot, die sie einziehen lässt. Nach dem Kriege wird die Stadt Bochum Eigentümerin des Hauses. Auch die Straßennamen werden geflissentlich geändert: Aus Nummer 24 der Kaiser-Wilhelm-Straße wird die Nummer 156 der Kortumstraße. Der heimische Dichter nun für den deutschen Monarchen.

Zunächst einmal ziehen die Stadtwerke ein. Später kommen dann tatsächlich die Goethe-Schüler ins Haus und mit ihnen auch wieder die alte Bezeichnung der »Villa Nora«. Wer hinter der Bezeichnung steckt, wissen nur noch wenige. Für eine kleine Zeit weichen die Goethe-Schüler noch einmal der Verwaltung der Fachhochschule, doch seit 1981 sind sie wieder hier. Das Goethe-Café kennt man in der Bochumer Innenstadt. Die sechs Räume, in denen unterrichtet wird, haben den üppigen Charme von großen Altbauwohnungen der Jahrhundertwende, aber Beleuchtung, Heizung und Akustik sind im Grunde eine Katastrophe. Auch dies ist also nichts für die Ewigkeit.

In den Köpfen der Lokalpolitiker soll es, so hört man, schon rumoren, es soll Ideen geben, wie es denn weitergehen könnte mit dieser Villa, deren Name überhaupt mit vielerlei Spekulationen verbunden ist. Der Lehrer Eberhard Brand wandert mit mir noch einmal um das Gebäude herum und über den Hof. Hinten steht sein Fahrrad. Natürlich ganz gewissenhaft abgeschlossen. Auch Goethe-Schüler sind eben Schüler.

Was das Haus betrifft, so kennt Brand auch die letzten, die neuesten Spekulationen. Aber er sagt nichts davon. Er klemmt seine Aktentasche mit den Klausuren der Goethe-Schüler fest auf den Gepäckträger, schwingt sich aufs Rad und fährt nach Hause.

(2002/2003)

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