Czytaj książkę: «Mord ohne Anklage»
Philomène Atyame
Mord ohne Anklage
Eine Erzählung
nach wahren Ereignissen
in Kamerun
ATHENA
Literaturen und Kulturen Afrikas
Band 5
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1. Auflage 2011
Copyright © 2011 by ATHENA-Verlag,
Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen
www.athena-verlag.de
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Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (Print) 978-3-89896-203-2
ISBN (ePUB) 978-3-89896-817-1
»Mein Name stammt zwar aus dem Süden,
aber mein Geist aus dem Westen
und meine Liebe aus dem Norden.«
Für alle meine Verwandten,
die die erinnerungsreichen
Namen Ndja und Ze tragen
Esson, eigentlich Ossom, starb 198… in einem Dorf im Süden Kameruns, erschossen im Wald von einem Verwandten, der bis heute unbestraft geblieben ist.
Der Fall Ossom verjährte 199… Daher ist diese Erzählung keine Klage. Sie ist lediglich die Bekanntmachung einer dieser Grausamkeiten, die die Natives im Süden Kameruns zwingt, ihre Heimatdörfer zu verlassen. Unsere Dörfer liegen in einem Dschungel, in dem man sich Tag und Nacht bedroht fühlt. Aber nicht unsere wilden Tiere, nein, es sind unsere Menschen dort, die uns Angst machen, aber nicht ihre Hexerei, nein, es sind ihre Jagdgewehre, die unser Leben dort immer mehr gefährden.
Todesfälle wie der Ossoms kommen selten vor, aber es gibt sie! Die demnach unvermeidliche Frage, ob unsere Jäger überhaupt einer Überprüfung unterzogen werden, bevor ihnen der Kauf und Gebrauch eines Jagdgewehrs gestattet wird, bedarf einer juristischen Antwort. Aber da bestimmt noch viele Jahre vergehen werden, bis die Justiz über dieses Thema ein Wort verliert, sollten wir zumindest jetzt anfangen, darüber nachzudenken, wie wir jener Landflucht vorbeugen können, die langsam, aber sicher unsere Dörfer zu einer menschenleeren Wildnis macht.
Ort, Zeit, Namen aller Personen und z. T. ihre Lebensumstände habe ich geändert, um die Anonymität zu wahren und die in Wirklichkeit betroffenen Personen vor Repressalien zu schützen.
Ndens Beute
»Abomo, Abomo, wo bist du?«, erkundigte sich Katha mit angstvoller Stimme.
»Hier, hier in der Küche. Was ist passiert?«
»Etwas Fürchterliches! Etwas Fürchterliches!«, wiederholte sie seufzend.
Katha kam gerade zurück von ihrem Feld. Auf dem Rücken trug sie eine Hotte, die sie mit Mais und Gemüse gefüllt hatte. Sie japste, als sie über die Türschwelle trat, immer noch gequält von der Angst, die sie den ganzen Vormittag schon bedrückte. Die Hotte, die sie auf dem Rücken trug, zog ihren Kopf nach unten und belastete ihre Beine so sehr, dass sie hin und her taumelte. Als Abomo sie unter ihrer erdrückenden Last schwanken sah, erhob sie sich schnell von ihrem Bambusbett, lief auf sie zu und half ihr, die Hotte auf den Boden zu stellen.
»Gott! Du zitterst! Was ist los?«, fragte Abomo, die nun erschrocken vor Katha stand.
»Abomo, die Hotte bleibt erst hier … Ich habe mich allzu sehr überschätzt. Ich bin todmüde! Eben dachte ich, der Boden wankt unter meinen Füßen.«
»Es sah wirklich so aus. Ich dachte schon, du fällst zu Boden … Erzähl! Was ist passiert?«
»Weh mir! Ich kann ihn immer noch hören, obwohl es schon Stunden her ist«, jammerte Katha, die sich dabei die Ohren zuhielt.
»Katha, von wem sprichst du?«
»Abomo, heute morgen …, heute morgen habe ich einen Schuss im Wald gehört. Es war nicht weit von meinem Feld … Dieser Schuss hat jemanden getroffen!«
»Jemanden?«
»Ja …, jemanden«, sagte Katha, die immer noch außer Atem war.
»Bitte, komm, setz dich und erzähl genau«, verlangte Abomo, die Katha gleich einen Platz auf dem Bambusbett zuwies und sich kurz danach zu ihr setzte. »Bitte, erzähl«, wiederholte sie.
»Ich dachte, ich sterbe … Heute morgen war ich nicht besonders munter, wegen des langen Tages gestern, dieses mühsamen Palmsonntags! Ich wollte nur Mais und Gemüse von meinem Feld holen. Mehr nicht. Ich hatte meine Hotte auf dem Rücken und machte mich schon auf den Weg nach Hause, als ich diesen Schuss hörte. Ich habe zur gleichen Zeit einen Schuss und den Schrei von einem Mann gehört. Danach war nur Grabesstille. Ich wollte wissen, was los ist, aber ich hatte solche Angst, dass ich mich schnell in meiner Hütte versteckt habe. Dort habe ich nur gezittert! Abomo, es war fürchterlich! Stundenlang stand ich hilflos in meiner Hütte. Zum Glück habe ich eine, sonst hätte mich die Angst umgebracht.«
»Gott! Kann so etwas möglich sein? Seit wann werden in unseren Wäldern Menschen erschossen?«
»Abomo, seit heute, seit heute morgen!«
»Katha, ich hoffe, du irrst dich. Ich hoffe es wirklich. Wenn wahr ist, was du sagst, dann ist das Schlimmste seit der Zeit unserer Ahnen heute morgen geschehen … Ich hoffe, du irrst dich.«
Es war genau zwölf Uhr. Bestürzt sah Abomo ihre Freundin an, sie fragte sich, ob Katha ihr von einem Alptraum erzählte, ob sie selbst, Abomo, am hellen Tag träumte. Sie wollte es nicht glauben, fürchtete, es könnte die Wahrheit sein, weil sie Angst hatte, nach dem frühen Tod ihres Mannes nun auch noch ein Kind begraben zu müssen, das aus ihrem eigenen Leib gekommen war.
»Meine Söhne, Esson und Menguele, sind noch nicht zurück. Heute morgen sagten mir beide, dass sie ihre Fallen prüfen und mir Holz bringen würden«, erwähnte sie mit besorgter Miene.
»Die meisten Leute arbeiten noch auf ihren Feldern. Auch meine Söhne, Zok und Nsing, sind noch nicht zurück. Oh Gott, bitte, schütze unsere Jungs«, betete Katha. Sie hatte die Augen zur Küchendecke gerichtet, die ihr den Blick zum Himmel versperrte.
»Ich hoffe, du irrst dich«, wiederholte Abomo.
»Abomo, ich will dich nicht damit quälen, aber ich glaube, es ist besser, wenn du es jetzt weißt: Es gibt nichts mehr zu hoffen. Wir können uns nur noch fragen, warum der liebe Gott manchen Grausamkeiten schweigend zusieht. Auf dem Weg hierher habe ich Minsilis Frauen, Mendo und Angale, getroffen. Auch sie haben diesen Schuss gehört. Sie sagen auch, dass sie gehört haben, wie ein Mann geschrien hat. Aber sie wollten nicht viel dazu sagen. Ich frage mich, warum.«
Abomo schwieg, auch sie wollte nicht mehr darüber reden, wollte auf andere Gedanken kommen, aber Kathas Mitteilung durchdrang sie wie ein Stromschlag, erschütterte sie wie eine Todesnachricht, die sie unmittelbar betraf und eine neue schwierige Wende in ihrem Leben ankündigte.
»Katha, es ist durchaus möglich, dass der Schrei, den ihr gehört habt, von dem Schützen selbst kam. Vielleicht hat ein Jäger ein Tier getroffen und vor Freude losgeschrien. Wir müssen abwarten … Sollte aber heute Nacht jemand aus dem Dorf fehlen, müssen wir morgen den Häuptling benachrichtigen.«
»Abomo, ich kann nicht so lange warten. Das müssen wir gleich tun.«
»Oh Katha, bitte, gedulde dich! Auch ich mache mir große Sorgen um meine Jungs. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass einer von ihnen in diesem Augenblick tot im Wald liegt. Ich will gar nicht daran denken.«
Aber sie konnte nichts anderes tun, als daran zu denken, fürchtete, dieses für die Bauern schwierige Jahr 1986 brächte die Wurzel allen Gräuels, zwänge sie nun, ihre eigenen Verwandten mit allen Mitteln zu töten, selbst mit Waffen, die ihre Ahnen nur gegen die gefährlichsten wilden Gorillas in ihren Wäldern verwendeten.
Alles begann an einem Montag. Es war ein besonders schwüler Tag in diesem Mai des Jahres 1986. In den Dörfern im Süden Kameruns ist Montag der Tag, an dem die noch munteren Bauern wie Arbeitstiere auf ihren Feldern schuften. Aber der Montag, an dem Esson starb, war für Abomo alles andere als ein Arbeitstag. Sie war zu Hause geblieben, weil sie sich noch von den anstrengenden Gebeten des Palmsonntags erholen wollte. Den ganzen Vormittag lag sie allein in dem Bambusbett in ihrer Küche, ohne die geringste Ahnung, dass ihr Sohn im Wald von einem Schuss getroffen worden war. Die anderen Frauen und Männer des Dorfes arbeiteten auf ihren Feldern. Es waren nicht viele Leute. Insgesamt sechs Familien lebten damals in Efek, alle Bissimas Nachfahren.
Bissima war Anfang der sechziger Jahre der Älteste der Efek. Als er 1964 starb, war er genau vierundachtzig Jahre alt. Er hatte zwei Söhne, Mvout und Minya, die jeweils 1970 und 1972 aus dem Leben schieden. Ihre Witwen starben nacheinander 1975 und 1977, hinterließen erwachsene Kinder, die eine drei Söhne, die andere zwei Söhne und eine Tochter.
Mitte der achtziger Jahre war Efek immer noch ein kleines Dorf, in dem diese sechs Enkel Bissimas mit ihren Familien lebten. Minsili, Assoumou und Oden, die Söhne von Mvout, Brüder aus demselben Leib, heirateten alle früh und lebten mit ihren Frauen im Dorf, weil sie sich wegen ihrer begrenzten Mittel kein Leben in der Stadt leisten konnten. Sie hatten nicht viele Kinder. Minsili, der Älteste, bekam nur einen Jungen, obwohl er zwei Frauen hatte. Assoumou, der mittlere Sohn von Mvout, war selbst Vater von zwei Söhnen. Oden, der letzte von ihnen, war der Ehemann von Abomo. Sie gebar ihm zwei Söhne und drei Mädchen.
Auch Minyas Nachkommen lebten im Dorf, aber aus einem anderen Grund, weil sie nämlich das Leben dort liebten. Mbita, Minyas erster Sohn, war ein reicher Grundbesitzer und erbte von seinem Vater große Kakaoplantagen. Allein wegen seines Reichtums ist er 1976 zum Stammeshäuptling ernannt worden. Zehn Jahre später hatte er sechs Frauen und insgesamt sechs Kinder. Mit sechs Frauen hätte ein Mann wie Mbita mehr Kinder haben können, aber seine vier ersten Frauen gebaren keine Kinder. Sie erzählten dem ganzen Dorf, dass Mbita selbst zeugungsunfähig sei und die Kinder, die er von den anderen Frauen bekommen habe, einen anderen Vater hätten, Mekombo, Mbitas Bruder, dem diese Kinder auffällig ähnlich sahen. Erstaunlicherweise regte sich Mbita nie über das Gerede auf! Deswegen vermutete man, dass dieses Gerücht stimmte und der Häuptling überhaupt froh war, dass sein einziger Bruder ihm auf diese Weise Kinder schenkte. Mbitas Kinder – wie soll man sie sonst nennen – hatten alle die Grundschule im Dorf besucht. Danach schickte der Häuptling nur die tüchtigen ins Gymnasiumsinternat in die nächste Provinzstadt Sangmelima.
Mekombo, Mbitas Bruder, war im Jahre 1986 schon lange verheiratet und hatte drei Kinder. Seine Frau und seine Kinder wollten mit ihm nach Sangmelima gehen, wollten dort leben, aber Mekombo liebte das Grün seiner Felder, den dichten Wald in Efek, wildes Fleisch, frisches Obst und Gemüse, Quellwasser, alles, was man nur selten in der Stadt findet. Daher blieb er mit seiner Familie im Dorf.
Katha, die einzige Tochter von Minya, hatte einen Mann aus der südlichen Kleinstadt Ndjom geheiratet und lebte jahrelang mit ihm und ihren gemeinsamen Kindern dort. 1984, als ihr Mann sich entschied, zu einer Geliebten zu ziehen, kehrte sie mit ihren Kindern zu ihren Brüdern nach Efek zurück.
Trotz ihrer sehr verschiedenen Lebensverhältnisse vertrugen sich Bissimas Nachfahren in Efek, hielten in guten und schlechten Zeiten zusammen, da ihre Bräuche es geboten.
Besorgt verließen Abomo und Katha die Küche und gingen langsam in den Hof, in dessen Mitte sie stehen blieben. Im Sinne der Bräuche der Efek war die eine die Schwägerin der anderen, aber es war weniger die Verwandtschaft als die Freundschaft, die die beiden Frauen verband. Stillschweigend schauten sie zu Boden. Der Wind wehte, kündigte schlechtes Wetter an. Der Himmel über Abomo und Katha war von dunklen Wolken bedeckt. Die Sorge um ihre Söhne verwandelte die verrinnende Zeit in Stunden der Qual. Magenkrämpfe, zitternde Beine, feuchte Hände, rasche Herzschläge, Falten auf der Stirn, Zeichen der inneren Qual, die die eine bei der anderen las. Wenn sie nicht zu Boden schauten, blickten sie zum Feldweg, der rechts von einem dichten Gebüsch ausging, den ein Müllhaufen nicht weit von Abomos Küche mit Dünger versorgte.
Stunden vergingen. Der bewölkte Himmel zwang viele Dörfler, ihre Felder früher als gewöhnlich zu verlassen. Immer mehr erwachsene und junge Männer kehrten zurück. Die meisten Frauen waren schon daheim, aber viele Leute fehlten noch. Jeder der Zurückkehrenden, der Katha und Abomo im Hof stehen sah, grüßte sie und ging seinen Weg weiter, bis er in seinem Lehmhaus verschwand.
»Merkwürdig! Warum sagen die nichts?«, fragte Katha.
»Ich weiß es auch nicht. Vielleicht müssen wir sie danach fragen.«
»Sie könnten uns missverstehen. Wenn so etwas geschieht, sind zunächst alle verdächtig. Wenn wir jetzt zu ihnen gehen und sie danach fragen, könnten sie glauben, dass wir sie verdächtigen.«
»Dann warten wir ab.«
Es war fünf Uhr, als die ersten Regentropfen vom Himmel fielen. Die Schwüle des Tages löste sich langsam auf. Wind und Regen kündigten Abendkühle an. Die meisten Frauen saßen schon in ihren Küchen und bereiteten die Abendmahlzeit zu. Es fehlten aber noch viele Männer, unter ihnen die Söhne von Katha und Abomo. Beide Frauen waren mittlerweile in Kathas Küche. Sie saßen auf einem Bambusbett und wärmten sich die Hände am offenen Feuer. Jedes Mal, wenn jemand unter ihrem Fenster vorbeiging, erhob sich Katha und grüßte ihn. Irgendwann verließ sie die Küche und lief ins Gebüsch, wo sie eine Weile allein blieb. Zurück in der Küche, verriet sie Abomo, dass sie Magenkrämpfe hatte.
»Du bist sehr aufgeregt, Katha! Bitte, beruhige dich.«
»Abomo, ich habe Angst, ich habe große Angst. Was mir noch mehr Angst macht, ist dieses Schweigen. Warum schweigen die Leute? Sie haben diesen Schuss gehört. Alle. Davon bin ich überzeugt. Unsere Felder liegen nicht weit voneinander entfernt.«
»Katha, sei mir, bitte, nicht böse! Vielleicht denken alle wie ich, dass es ein Jäger war, der ein Tier erschossen hat und vor Freude losgeschrien hat.«
»Dann habe ich geträumt«, sagte Katha enttäuscht.
Sie war enttäuscht über das Verhalten ihrer Freundin, über ihre Zweifel, genauer gesagt über ihren Versuch, die Wahrheit zu verdrängen: den kaltblütigen Mord, den jemand am hellichten Tag im Wald begangen hat.
Man muss nicht unbedingt ein Eingeweihter sein, um den Tod eines Menschen vorauszuahnen. Man kann ihn auch anders spüren – durch bekannte Zeichen. Die Dörfler haben allerlei: Alpträume, Eulenschreie, Katzen und Hunde, die nachts unaufhörlich von sich hören lassen, Babys, die tagelang ohne erkennbaren Grund weinen. Nach diesen Zeichen kommt manchmal, unerwartet, ein Mensch, der den Betroffenen mitteilt, dass ein Verwandter oder Bekannter sterbend in seinem Bett liege und dass es bei seinem Zustand nichts mehr zu hoffen gebe, weil Gott ihn bereits gerufen habe. Der Bote braucht nicht immer etwas zu sagen, man sieht ihn und ahnt, was er mitteilen will. Aber etwas anderes ist es, wenn ein Ankömmling ahnungslos ist und sich eher darüber wundert, dass man von ihm Nachrichten erwartet, die Bestätigung eines Unglücks.
Gegen sechs Uhr dreißig kehrten Zok und Nsing vom Feld zurück. Abomo und Katha waren noch tief in Gedanken versunken, als die Jungs die Küche betraten. Schnell erhob sich Katha von dem Bambusbett, auf dem sie die ganze Zeit aufgeregt gesessen hatte, lief mit ausgestreckten Armen auf ihre Söhne zu, umarmte einen nach dem anderen, hielt den jüngeren länger fest, während ihr Tränen in die Augen traten.
Zok und Nsing waren die Vorletzten, die an diesem Nachmittag nach Hause zurückkehrten. Beide trugen abgenutzte Jeanshosen, Hemden und Pullover, die typische Kleidung für Feldarbeiten in den Dörfern im Süden Kameruns. In der rechten Hand hielt jeder eine Machete. Zok trug außerdem eine reife Palmfrucht auf dem Kopf. Nach der gefühlvollen Umarmung überreichte er sie seiner Mutter. Dabei fragte er:
»Mama, was ist hier los?«
Zok und Nsing bekamen keine Antwort. Zögernd gingen sie zu Abomo und gaben ihr die Hand. Ihr Anblick ließ sie ahnen, dass etwas Schlimmes geschehen war, aber sie erkundigten sich nicht weiter danach. Mit feuchten Augen ging Katha zurück zum Bambusbett, setzte sich wieder zu Abomo und versuchte, sich zu beherrschen. Bevor sie ihren Jungs eine Erklärung für ihre immer noch deutlich erkennbare Aufregung gab, fragte sie:
»Habt ihr Esson und Menguele gesehen?«
»Nein. Wieso?«, erkundigte sich Zok.
»Das sage ich euch nachher. Übrigens, ihr könnt euren Lieblingsgemüsetopf zubereiten, den Sanga. Alles, was ihr dafür braucht, ist schon da: Gemüse, Mais, Palmöl. Das Gemüse und der Mais sind noch bei Abomo. Dort steht noch meine Hotte. Zok, bitte, geh und hol sie! Kraft hast du genug.« Dann wandte sie sich an Odens Witwe und fragte: »Abomo, kommst du kurz mit mir nach draußen?«
Katha ist eine überaus sensible Frau, eine Eigenschaft, die viele Menschen an sie banden, vor allem ihre beiden Söhne, die sie über alles liebte. Im Laufe der Jahre hielt sie dieses besondere Verhältnis zu ihnen aufrecht. Zok war inzwischen neunzehn, Nsing achtzehn, Jungs, die in der südlichen Kleinstadt Ndjom das Licht der Welt erblickten. Dort hatte ihr Vater mit Katha siebzehn Jahre lang zusammengelebt. Aber niemand auf dieser Welt entkommt seinem Schicksal. Kathas Mann verliebte sich in eine bildhübsche Ebaya’a (so nennt man in Ndjom die Pygmäen), verließ Katha und ihre gemeinsamen Söhne, ohne ihnen eine Erklärung zu geben. Katha hatte niemanden mehr in Ndjom, abgesehen von einigen alten Freundinnen. Ihr fiel dann nichts anderes ein, als in ihr Heimatdorf zurückzukehren. Was hatte sie für ein Glück gehabt! Ihr ältester Bruder Mbita war schon Häuptling und hatte viele Häuser, darunter das alte Haus ihrer gemeinsamen Eltern, die lange tot waren. Dieses Haus gab Mbita seiner Schwester und seinen beiden Neffen. Von nun an teilte Katha ihr früheres Elternhaus mit ihren Söhnen.
Katha wollte nicht wieder heiraten. Ihr genügten in Efek ihre Brüder, bei denen sie sich wohl fühlte. Abomo unterstand damals dem Ritual der Witwenschaft, musste getrennt von ihrer Umgebung leben. Aber Katha war so gutherzig, dass sie sich vornahm, die Bräuche ihrer Verwandten zu ignorieren und Odens Witwe Gesellschaft zu leisten. Das tat sie heimlich, aber regelmäßig, was am Ende dazu führte, dass die beiden Frauen sich eng befreundeten.
Träge erhob sich Abomo von ihrem Bambusbett. Wie gern hätte sie in diesem Augenblick ein Gespräch mit Gott geführt, dem Allmächtigen, dem »Gott der Schwachen«, der unverständlicherweise zuließ, dass eine Witwe so viel litt! Sie ging langsam zur Tür, gefolgt von Katha, die erst draußen merkte, wie dunkel es inzwischen geworden war. Katha ging zurück zum offenen Feuer ihrer Küche, nahm ein brennendes Holzstück und lief wieder zu der Tür, an der Abomo stand und auf sie wartete.
Es war sehr dunkel draußen. Der Regen hatte schon aufgehört. Gnadenlos löschte ein kühler Wind die Flamme des brennenden Holzstückes aus. Nur mit der scharlachroten, heißen Holzkohle durchquerten die Frauen eilig den weiten Hof und erreichten Abomos Küche. Zok war immer noch dort, hatte die Hotte bis zur Hälfte geleert und einen leeren Sack Mehl mit Mais und Gemüse gefüllt. Er hatte die Hotte auf dem Rücken und den Sack in der Hand, als er die Küche verließ.
Abomo nahm Platz auf jenem kleinen Bambusbett, in dem ursprünglich ihre Kinder geschlafen hatten, Esson und Menguele, Jungs, die inzwischen groß geworden waren und nun nachts in Betten aus festem Holz schliefen, die in ihrem Zimmer im daneben stehenden, großen Haus standen. Esson war jetzt zwanzig und Menguele neunzehn Jahre alt. Katha setzte sich zu Abomo und sagte: »Abomo, wenn Esson und Menguele in einer Stunde nicht zurück sind, gehen wir zum Häuptling.«
Stumm sah Abomo Katha an, schüttelte den Kopf und legte sich, die Augen geschlossen, in das kleine Bambusbett. Von nun an war ihre Welt dunkel. Abomo sah nichts anderes als Dunkelheit, wollte niemanden mehr sehen, niemand anderen als ihre Söhne, auch nicht ihre einzige Freundin Katha, die erschrocken neben ihr saß und der in diesem Augenblick nichts anderes einfiel als zu schweigen.
Den ganzen Nachmittag hatte Abomo angespannt auf ihre beiden Söhne gewartet und dabei gehofft, diese würden zurückkommen. Abomo hatte aber auch etwas Entsetzliches geahnt, es allerdings verdrängt, weil es grausam war und vor allem, weil es entscheidend war, weil es für sie wieder einen harten Schicksalsschlag bedeutete, der in sehr kurzer Zeit ihr ganzes Leben zerstören könnte.
Sie hatte es kommen sehen. Das stimmte. Aber hatte sie es so weit kommen lassen, wie ihr Bruder es heute behauptete? Wahr ist, dass er Abomo davor gewarnt hatte. Am Tage der Beerdigung von Oden, zwei Jahre vor Essons Tod, hatte ihr einziger Bruder Assam zu ihr gesagt, dass die Männer aus Efek sie jetzt nur noch hassen konnten und sogar in der Lage waren, sie und all ihre Kinder entweder aus dem Dorf zu vertreiben oder umzubringen. Vom Todestag ihres Mannes Oden an hatte Abomo selbst diesen Hass der Efek, verursacht durch Odens frühen Tod, deutlich gespürt. Die Efek weigerten sich, Geld zu sammeln und einen Sarg zu kaufen. Es war Assam, der ihn auf eigene Kosten in Sangmelima bestellt hatte. Zwei Tage nach dem Tod von Oden beerdigte man ihn hinter seinem großen Lehmhaus, das er gerade gebaut hatte. Nach seiner Beerdigung entschieden Odens Brüder und Vettern mit Rachgefühlen, dass Abomo dem Ritual der Witwenschaft unterworfen würde: Sie musste, wie eine Leprakranke, von ihrer Umgebung getrennt leben, bis man entschied, ob sie und ihre Kinder weiter in Efek bleiben oder aus dem Dorf verbannt werden sollten. Die Efek meinten, dass Abomo mit Hilfe der Hexerei ihren Mann ermordete habe, weil sie sein Haus und seine Kakaofelder so früh wie möglich erben wollte, das heißt, bevor Oden auf den Einfall kam, eine zweite Frau zu heiraten.
Oden war vierunddreißig Jahre alt, als er aus dem Leben schied. Es war im Jahr 1984. Die genaue Ursache seines Todes kennt bis heute niemand, weil auch niemand ihn ins Krankenhaus gebracht hatte. Das nächste Spital war in Sangmelima, ungefähr eine Stunde Fahrt von Efek, aber Odens Mittel hatten nicht gereicht. Seine Kakaoernten waren damals so schlecht, dass er fast arm war, als er starb. Er ließ Abomo mit fünf Kindern zurück, zwei Jungen und drei Mädchen. Die Jungs, Esson und Menguele, lebten damals bei ihrer Mutter in Efek. Dagegen wohnten Abomos jüngere Töchter, Mbolo und Nkolo, bei ihrer älteren Schwester Etounou in Sangmelima, die dort mit einem Postboten verheiratet war.
Mit Odens Tod ging für Abomo die Zeit des Eheglücks zu Ende. Sie war vierunddreißig Jahre alt, nach zwanzig Jahren Ehe. Mit Oden, einem Mann mit einem großen Herzen, war ihr Leben so gut wie unbeschwert gewesen. Sie hatte ihn sehr geliebt. Dann, plötzlich kam der bittere Tod. Aber schlimmer war, was Abomo unmittelbar danach erfahren musste: das Ritual der Witwenschaft. Abomo lag dreißig Tage auf dem bloßen Boden ihrer Küche, ging die nächsten dreißig Tage barfuß in derselben Küche umher. Erst danach durfte sie hinausgehen, und sie sollte nichts anderes als schwarze Schuhe und ein schwarzes Kleid tragen – all das zwölf Monate lang.
Der erste Monat der Witwenschaft ist für die Frauen immer der härteste, ein Monat, den Abomo und ihre Söhne nie vergessen werden. Esson und Menguele durften ihre verwitwete Mutter nicht sehen, wurden deswegen der Schwester ihrer Großmutter, Odens Tante, die ebenfalls Witwe war, anvertraut. Nachts schlief Abomo auf dem harten, kalten Boden ihrer Küche, dicht neben dem kleinen Bambusbett, das weit weg von dem offenen Feuer stand. Wie hatte sie gefroren! Tagsüber saß sie auf demselben Platz, durfte niemandem die Hand reichen, durfte sich mit niemandem unterhalten, nicht einmal mit der einzigen Frau, die sie besuchen durfte, diese Tante Odens, die im Sinne der Bräuche der Efek ihre Schwiegermutter war.
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