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Philipp Probst
DER STORYKILLER
Philipp Probst
DER
STORYKILLER
Roman
Appenzeller Verlag
1. Auflage, 2011
© Appenzeller Verlag, CH-9101 Herisau
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und
Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische
Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Eliane Ottiger
Umschlagbild: heary (iStockphoto)
ISBN Buch: 978-3-85882-565-0
ISBN eBook: 978-3-85882-599-5
eBook-Herstellung und Auslieferung:
HEROLD Auslieferung Service GmbH
Donnerstag, 30. Juli
JUNKERNGASSE, INNENSTADT, BERN
Er wusch seine kurzen, dunkelblonden Haare dreimal mit Shampoo. Danach verteilte er eine teure Pflegespülung seines Coiffeurs sorgfältig auf dem Kopf und massierte sie in die Haare ein.
Er spürte, wie die Lust in ihm stieg.
Er wartete fünf Minuten und liess während dieser Zeit den warmen, angenehm weichen Wasserstrahl aus dem Duschkopf über seinen Rücken laufen. Dann spülte er die dicke Schicht Pflegespülung aus den Haaren.
Nun erst seifte er seinen Körper ein. Er war stolz auf seinen Körper. Mit 39 Jahren hatte er nicht den geringsten Bauchansatz. Er hatte zwar kein Sixpack mehr wie früher, als er noch ein mehr oder weniger erfolgreicher Weitspringer gewesen war. Aber er war zufrieden; seine Wölbungen an den langen Beinen und Armen waren kein Fett, sondern Muskeln.
Besonders intensiv reinigte er seinen Intimbereich und genoss dabei, dass seine Lust immer stärker wurde.
Nach der ausgiebigen Dusche hüllte er sich in ein weisses, kuscheliges Frotteetuch und rasierte sich. Er verwendete dazu einen hautschonenden Rasierschaum, den er langsam mit einem Pinsel einmassierte. Erst Wangen und Kinn, dann die Brust und schliesslich die Achselhöhlen. Als er den vibrierenden Klingenkopf an der linken Wange ansetzte, pochte sein Herz schon heftig. Seine Lust steigerte sich mit jedem Strich der scharfen Rasierklinge.
Nach dieser Zeremonie, die immer genau gleich ablief, fühlte er sich bereit. Er föhnte noch schnell seine Haare, liess das Badetuch zu Boden gleiten und stieg nackt in den Keller hinunter.
Im ersten Raum standen mehrere Fitnessgeräte. An einer Wand hing ein riesiger Flachbildschirm, die TV-Fernbedienung dazu lag auf einem kleinen, weissen Tisch. Er tippte den Code ein. Ein leises Geräusch von kleinen Elektromotoren ertönte, und schon schob sich die rechte Seite der Wand gegenüber dem Eingang ein Stück weit nach vorne und dann zur Seite. Zum Vorschein kamen eine alte Kellerwand und eine Holztüre. Er öffnete die Türe und gab auf der Fernbedienung wiederum einen Code ein. Die weisse Wand fuhr langsam wieder in die Ausgangsposition zurück. Er betrat den zweiten Raum und schloss die Türe.
Er drückte den Lichtschalter. Das Gewölbe des Kellers wurde von hellen Lampen angestrahlt. Verschiedene antike, arg beschädigte Deckenmalereien, alles biblische Motive, reflektierten das weisse Licht. Dadurch entstand im Raum eine warme Atmosphäre. Die Wände waren aus Sandstein, der Boden bestand aus glattgeschliffenen Granitplatten neueren Datums. Links des Eingangs stand ein schwerer Holztisch, sehr modern, dahinter ein lederner Bürosessel. Er sah alt aus, war aber eine Neuanfertigung. Auf dem Tisch lag nur ein Laptop. Vis-à-vis hing freischwebend ein riesiger Bildschirm. Etwas weiter hinten waren auf mehreren Stativen Scheinwerfer und drei TV-Kameras montiert. Sie waren alle auf ein Stehpult ausgerichtet. Zuhinterst im Keller standen ein Spiegelschrank und ein grosses Bett mit einem blauen, samtenen Überzug.
Er schaltete den Laptop ein und ging zum Schrank. Da er immer noch nackt und barfuss war, ging er sehr schnell, denn die Granitplatten waren kalt. Er zog schwarze Kniesocken an, weisse, enge Pants und ein weisses Hemd, das er von seinem Schneider hatte anfertigen lassen. Auch der dunkelblaue Anzug mit silberfarbenem Innenfutter war speziell auf ihn zugeschnitten. Er band eine dezente silberne Krawatte um, richtete sie und schlüpfte dann in schwarze Halbschuhe mit ebenfalls silbernen Schuhbändeln. Alles war perfekt abgestimmt.
Zum Schluss verrieb er ein wenig Gel in den Händen, schmierte es in die Haare, zog anschliessend mit dem Kamm einen Scheitel und verwuschelte das Ganze, so dass es etwas zerzaust, aber nicht unordentlich aussah. Er spürte wieder, wie die Lust in ihm stieg. Sie war zwischendurch etwas abgeflaut, nun liess sie ihn nervös werden.
Er setzte sich an den Schreibtisch und zog den Laptop, dessen Betriebssystem mittlerweile hochgefahren war, zu sich heran. Von hier aus konnte er sich in seinen Geschäftscomputer einloggen oder seine privaten Daten abrufen. Nun aber öffnete er ein File, das er mit «Reden» betitelt hatte. Auf dem Bildschirm erschienen zwei Untergruppen: «Eigene Reden» und «Enzyklopädie». Er klickte auf «Enzyklopädie». Der Computer zeigte in alphabetischer Reihenfolge Ordner mit Namen berühmter Persönlichkeiten. Er fuhr mit dem Cursor nach unten, blieb kurz beim Namen «Cicero» stehen, liess den Cursor weiter nach unten sausen, stoppte bei K und klickte auf den Namen «Kennedy, John F.». Hier befanden sich genau 586 Dateien. Textfiles mit schriftlichen Protokollen von Kennedys Reden, Tondokumente des ehemaligen US-Präsidenten und Videosequenzen. Er öffnete die Videosequenzen und wählte dann «Berlin».
Da schaltete sich der grosse Bildschirm ein, das Licht im Keller wurde gedimmt. Auf dem Schirm erschien Kennedy, wie er in Berlin seine berühmte Rede hielt.
Der Mann liess sich in den Sessel am Schreibtisch fallen, schaute gebannt auf den Bildschirm und sog Kennedys Worte, die von allen Seiten aus kleinen Lautsprechern erklangen, in sich auf. Bei der Stelle, an der Kennedy sagt: «Ich bin ein Berliner», zuckte der Mann zusammen, fuhr sich wild durch die Haare und begann schwer und laut zu atmen. Er starrte auf den Schirm und ergötzte sich an der jubelnden Menschenmenge. Plötzlich sprang er vom Sessel hoch und stoppte den Film.
Aus dem Pult holte er aus der gekühlten Schublade unten links eine kleine Flasche Mineralwasser und trank sie in einem Zug leer. Er setzte sich wieder.
Als er sich etwas erholt hatte, schloss er das Dokument «Kennedy», scrollte nach oben und stoppte schliesslich bei «Hitler, Adolf».
Er öffnete die Polen-Rede, die den 2. Weltkrieg entfacht hatte. Ein Tondokument. Hitlers Stimme erklang nun im Keller in Dolby-Surround-Qualität. Erst war sie ganz ruhig. Der Mann im Keller stand auf, schloss die Augen und bewegte seine Arme wie ein Dirigent. Er fuhr mit dem linken Arm nach oben, wenn Hitlers Stimme schrill wurde, fuhr hinunter, wenn sie tiefer wurde. Mit der rechten Hand schlug er den Takt im Rhythmus der Rede. Wurde Hitler leise, machte er nur kleine Bewegungen. Bei Kunstpausen erstarrte die Hand in der eben erreichten Pose. Dann wieder peitschte der Mann sein imaginäres Orchester an, forderte, dem Rhythmus von Hitlers Rede zu folgen und ihn noch zu steigern.
Der Mann im dunkelblauen Massanzug begann zu schwitzen, richtete immer wieder seine Frisur, obwohl sie gar nicht durcheinandergeraten war.
«Danzig war und ist eine deutsche Stadt», sprach Hitler, und der Mann im Keller forderte nun ein Crescendo, fuchtelte mit den Armen, empfand grosse sexuelle Erregung und war nun in höchster Anspannung und frohster Erwartung des Finales.
Eine Zäsur, eine Synkope, dann langsam und tief, schneller werdend, höher, Stakkato zum Höhepunkt. «Seit fünf Uhr fünfundvierzig wird jetzt zurückgeschossen», sprach Hitler.
Der Mann streckte die Arme in die Höhe, warf den Kopf in den Nacken, blieb reglos stehen. Schweiss tropfte von seiner Stirn auf die Granitplatten.
In seinem Kopf schlug der Puls einen Trommelwirbel.
Die Tonaufnahme war so programmiert, dass sie an dieser Stelle abbrach. Stille.
Dann sackte der Mann plötzlich erschöpft in sich zusammen.
Erst nach über einer Minute stand er auf. Er ging zum Spiegelschrank, zog das Jackett aus, löste die Krawatte und knöpfte schliesslich das Hemd auf. Es war völlig durchnässt. Er zog ein neues an, band die Krawatte um und schlüpfte wieder in das Veston. Er prüfte sich ganz genau im Spiegel, entdeckte einen kleinen Pickel im Gesicht, den er sofort ausdrückte.
Der Mann ging zurück zum Pult, holte sich auf dem Laptop eine Rede des ersten schwarzen US-Präsidenten, Barack Obama, und beobachtete sehr genau seine Bewegungen. Dabei fiel ihm auf, dass Obama sehr oft abwechselnd nach links und nach rechts schaute, aber vergleichsweise selten direkt zur Mitte des Publikums sprach.
Den Beobachter im Keller irritierte dies sehr. Er mochte es gar nicht. Er fand beispielsweise Ronald Reagan viel eindrucksvoller und mächtiger. Reagan verkörperte die ganze Macht eines amerikanischen Präsidenten. Fasziniert war er auch von alt Bundeskanzler Gerhard Schröder. Dieser vertrat das neue, powervolle Deutschland, ja, er stand für ihn sogar für Europa, denn er hatte auch eine gewisse Leichtigkeit, eine Nonchalance wie die Franzosen, und eine Anziehungskraft auf Frauen, wie sie eigentlich nur Südländer haben können.
Aber Obama machte ihn stutzig. Schliesslich jubelte ihm einmal die ganze Welt zu. Das nach Links- und nach Rechtsschauen machte Obama doch nicht nur, um seinen Text von den auf beiden Seiten des Rednerpultes plazierten Bildschirmen abzulesen! Nein, das war Taktik, das musste eine massive Wirkung auf das Publikum haben. Vielleicht fühlten sich durch das nach Linksund nach Rechtsschauen alle, auch jene am Rande der Gesellschaft, die Verlierer, Dummen und Taugenichtse, von denen es Millionen gab, wie der Mann im Keller meinte, ganz besonders angesprochen, ernst genommen und beschützt.
Er würde es testen müssen.
Mit einem Klick stoppte er Obama, stand auf, blickte nochmals kritisch in den Spiegel und stellte sich dann hinter das Stehpult. Er drückte einen Knopf. Sofort gingen die Scheinwerfer an, die roten Lichter an den Kameras leuchteten auf. Er selbst erschien nun auf dem Bildschirm, abwechselnd von dieser und jener Seite. Kein TV-Regisseur im Hintergrund steuerte die Kameras, sondern Sensoren und ein ausgeklügeltes Computerprogramm.
Der Mann zog zwei Mikrophone von der Innenseite des Stehpults nach oben, die sich sofort einschalteten. Aus den Lautsprechern ertönten nur die atmosphärischen Geräusche des Kellers, allerdings sehr leise. Auch dies war automatisch gesteuert, eine Rückkopplung mit Pfeiftönen war ausgeschlossen.
Der Mann hüstelte kurz, schaute mit erhobenem Kopf in die Kamera direkt vor ihm und sagte mit klarer, lauter Stimme: «Ich bin hier, um mit Ihnen, mit euch, Dinge anzupacken, die endlich angepackt werden müssen. Guten Abend.»
Pause.
«Was wollt ihr? Nein, was wollen wir?» Nun wandte er den Blick nach rechts. Später würde er die Wirkung auf dem Bildschirm prüfen können.
Er wurde leise, tief, geheimnisvoll: «Wenn die Welt aus den Fugen gerät, geht es nicht mehr darum, was der Einzelne will.» Zäsur. Er drehte den Kopf nach links. «Neeiiiin!», brüllte er langgezogen in die Mikrophone. Und wechselte sogleich in ein Stakkato: «Dann zählt die Gemeinschaft. Nur. Nur das Wir hat dann noch Bedeutung.»
Er blickte nach unten, stellte sich vor, wie seine Zuhörer applaudierten.
Einatmen, ausatmen, einatmen. Wie beim Sport. Kräfte sammeln.
«Wir werden alle Abstriche machen müssen.» Dies sagte er nun wie ganz beiläufig. «Aber das werden wir verkraften. Ich habe bereits die richtigen Massnahmen ergriffen. Es wird ohne Zweifel Verluste geben. Opfer. Menschliche Not. Aber nach dieser Zeit …»
Pause. Er atmete tief ein. Er spürte, wie er schwitzte. Kalt lief es ihm den Rücken hinab. Pure Lust empfand er. Es war unvergleichlich besser als ein Orgasmus in der tollsten Liebesnacht.
«Nach dieser Zeit werde ich wieder hier stehen und sagen können …» Er brüllte, seine Stimme überschlug sich: «... ja, wir haben den Krampf …» Er stockte.
«So eine verdammte Scheisse», brach es nun aus ihm heraus. «Es heisst Kampf, Kampf, Kampf, nicht Krampf, du Vollidiot, kapier das endlich, sonst machst du dich lächerlich!»
Nun war er nicht mehr Redner. Der Fehler hatte ihn stürzen lassen. Er hämmerte auf das Stehpult, dann mit beiden Fäusten gegen seinen Schädel, bis ihm schwindlig wurde. «Scheisse, ich Trottel, ich Anfänger, Scheisse, Scheisse!», schrie er durch den Keller.
Er riss sich die Krawatte vom Hals, liess die Knöpfe des Hemdes wegspicken, warf sich aufs Bett.
Einatmen, ausatmen, einatmen.
Es half nicht mehr.
Er weinte.
Sein Puls klopfte in seinem Kopf.
Sonntag, 23. August
REDAKTION «AKTUELL», WANKDORF, BERN
Die Polizeimeldung kam um 19.09 Uhr: «Zeugenaufruf: Wanderer abgestürzt»
Peter Renner reagierte sofort und klickte mit der Maus diesen Mailtitel an. Auf Renners Bildschirm öffnete sich der vollständige Text.
«Am Faulhorn bei Grindelwald wurde am Sonntagnachmittag von Wanderern ein Mann entdeckt, der rund 150 Meter unterhalb des Bergwegs in einem Tobel lag. Die Passanten alarmierten sofort die Polizei und die Rettungskräfte. Der Verunfallte konnte aber nur noch tot geborgen werden. Nach ersten Erkenntnissen war der Mann gestürzt. Beim Opfer handelt es sich um einen 58jährigen Schweizer. Die Ermittlungen sind noch im Gang. Es werden Zeugen gesucht.»
Renner schloss die Meldung, klickte auf «Weiterleiten». An: «Alexander», Doppelklick, dann Text: «Kleiner, ruf mal die Bullen an, gibt vielleicht noch eine Sty.» Sty war die interne Abkürzung für Story.
Der Kleine, das war Alexander Gaster, der vor zwei Monaten sein Journalistik-Studium mit Bravour abgeschlossen hatte und nun bei «Aktuell» als Reporter und Redakteur festangestellt war.
Alex las die Nachricht sorgfältig durch und rief die Presseabteilung der Berner Polizei an. Der diensthabende Polizeisprecher, Kurt Damm, sagte, er könne keine weiteren Auskünfte geben.
«War der Mann alleine unterwegs?», fragte Alex und fürchtete die Antwort, die auch prompt kam.
«Die Ermittlungen sind noch im Gang», wiederholte Damm den Satz, der schon in der Mitteilung stand.
«Kann denn Fremdeinwirkung ausgeschlossen werden?»
«Ich kann Ihnen keine weiteren Informationen geben.»
Alex wurde hellhörig. Wenn der Sprecher auf seine Frage nach der Fremdeinwirkung keine Infos geben konnte, bedeutete dies doch, dass es durchaus mehr Infos gab, er sie aber nicht herausrücken wollte.
«Das verstehe ich nicht», stellte Alex sich dumm.
Polizeisprecher Kurt Damm sagte nichts.
«Wird denn der Fall daraufhin untersucht?»
Damm sagte immer noch nichts.
Alex freute sich schon darauf, doch noch irgendetwas herauszubekommen. Er stand unter Druck, er wollte endlich mit einer grossen Story ins Blatt.
«Also, Herr Gaster», sagte Damm schliesslich ziemlich unfreundlich, «da Sie keine weiteren Fragen mehr haben, wünsche ich Ihnen einen schönen Abend.»
«Shit», stiess Alex aus und legte das Telefon auf. Seine Kolleginnen und Kollegen im Grossraumbüro schauten kurz zu ihm hinüber, dann starrten sie wieder auf ihre Bildschirme und tippten weiter.
Alex ging in den Newsroom, einen ovalen Raum aus Glas mitten im Gebäude. Kein Tageslicht, keine Pflanzen. Stattdessen eine Monitorwand mit 12 Bildschirmen, auf denen regionale, nationale und internationale TV-Sender liefen. Ohne Ton. Zu hören war nur ein englischer Radio-Nachrichtensender, dezent halblaut. In der Mitte des Newsrooms gab es eine halbrunde Tischkombination, auf der sechs Computer standen. Im Gegensatz zu den Newsrooms anderer Verlagshäuser, in denen Redakteure mehrerer Zeitungstitel und Online-Plattformen in einem grossen Raum zusammenarbeiteten, war der «Aktuell»-Newsroom ein eigentlicher Kommandoraum, ein Cockpit. Und der Herr dieser top ausgestatteten Newszentrale sass in einem ergonomisch auf ihn angepassten Bürostuhl und trug am Kopf eine Sprechgarnitur für das Telefon.
«Sorry, Peter, die Polizei gibt zu diesem Unfall nichts heraus», sagte Alex.
«Schade», sagte Renner. «Irgendwas ist da nicht sauber.»
«Was meinst du damit?»
«Ach, bloss so ein Gefühl.»
Peter Renner war bekannt für solche Gefühle. Deshalb war er auch Nachrichtenchef. Er sass einfach da und lauerte. Bis irgendeine Meldung «so ein Gefühl» in ihm auslöste. Dann stürzte er sich darauf und biss sich fest. Von Journalistenkollegen wurde er deshalb auch Zecke genannt. Allerdings nicht nur deswegen. Er sah auch ein bisschen aus wie eine Zecke: kleiner Kopf, runder Körper.
«Was könnte denn dahinterstecken?», fragte Alex.
«Vergessen wir es», sagte Renner. «Ist wohl nichts.»
Dies klang zwar ganz und gar nicht überzeugend. Aber Renner war mit der Zeit etwas vorsichtiger geworden. Denn mit 43 Jahren sollte er mit seinem Talent und seinem Ehrgeiz eigentlich irgendwo Chefredakteur sein. Dass er dies nicht geschafft hatte, lag vor allem daran, dass ihn sein Gefühl schon mehrmals getäuscht hatte. So war aus mancher Story kein Knüller, sondern ein Flop geworden. Mit allen peinlichen, juristischen und finanziellen Nachspielen.
«Schreib mir doch eine satte, pfiffige Meldung darüber, Alex. Ich teile dir gleich die Spalte zu.»
Als Alex wieder an seinem Platz sass, war die Spalte bereits auf seinem Schirm, so dass er direkt ins Layout des «Aktuell» schreiben konnte. Alex stand noch einmal auf, ging durchs Büro, trank beim Dispenser einen ganzen Becher Wasser, kehrte an seinen Platz zurück und tippte den Text in den Computer.
«Er genoss den Tag in den Bergen, die Sonne, die gute Höhenluft. Doch die Idylle endete in einer Katastrophe: Der 58jährige Schweizer kam am Faulhorn oberhalb von Grindelwald vom Weg ab und stürzte 150 Meter in die Tiefe. Er blieb in einem Tobel liegen – tot! Andere Bergwanderer entdeckten später die Leiche und alarmierten die Polizei. Diese konnte bis gestern abend nicht erklären, wie es zu diesem Unglück gekommen war.»
Alex las den Text nochmals genau durch. Er war zufrieden. Bei seinen Vorgesetzten galt er als guter Schreiber. Nur er selbst zweifelte oft daran.
Er überlegte sich noch einen Titel.
«Tod im Tobel»
«Passt!», sagte Alex erleichtert und checkte den Text ins System ein. Keine fünf Minuten später sah er, dass seine Meldung grün eingefärbt war; Peter Renner hatte den Text gelesen und war zufrieden damit.
Einige Augenblicke später bekam Alex von Renner eine Mail, in der dieser ihm einen schönen Abend wünschte.
Es war kein besonders erfolgreicher Tag gewesen. Die grossen Stories hatten andere geschrieben. Seine ehemalige Studienkollegin Sandra Bosone, die wie er ebenfalls seit zwei Monaten bei «Aktuell» festangestellt war, hatte sogar den Aufmacher auf Seite 3 geliefert. Eine Geschichte über veruntreute Spendengelder beim Hilfswerk «Sonnenaufgang», einer relativ kleinen Institution, die sich um Drogenkranke kümmerte. Es war nicht der grosse Skandal, aber immerhin waren bei «Sonnenaufgang» einige Tausend Franken einfach verschwunden. Alex hatte am Nachmittag den Artikel gelesen und fand ihn nicht sonderlich gut. Aber er mochte Sandra, deshalb freute er sich eigentlich für sie. Ihn wurmte bloss, dass ihm seit seiner Festanstellung noch kein einziger grosser Artikel gelungen war.
Alex packte seine Tasche, fuhr den Computer hinunter und rief zu seinen Kolleginnen und Kollegen: «Tschüss zusammen!»
Er fragte sich manchmal, ob News-Chef Peter Renner Sandra die besseren Stories zuhielt, weil sie attraktiv, charmant und ziemlich keck war. Er schämte sich für diesen Gedanken, schliesslich konnte er sich nicht darüber beklagen, von Renner abschätzig behandelt zu werden. Im Gegenteil, Renner und er kamen prima miteinander aus und hatten einen ähnlichen Humor. Ihre Parodien des Chefredakteurs und seines Stellvertreters, die sie gerne vor Kollegen zum besten gaben, waren todsichere Lacher.
«Morgen ist ein neuer Tag», sprach sich Alex Mut zu. «Der kann nur besser werden.»
Bevor Alex die Redaktion verliess, schaute er kurz im Newsroom vorbei, um sich von Renner zu verabschieden. Doch dieser führte offensichtlich ein spannendes Telefongespräch, denn er wirkte sehr konzentriert und machte sich viele Notizen.