Czytaj książkę: «Operation Gold»
Petra Gabriel
Operation Gold
Kappes 21. Fall
Kriminalroman
Jaron Verlag
Petra Gabriel, geboren in Stuttgart, ist gelernte Hotelkauffrau, Dolmetscherin und Journalistin. Sie lebt als freiberufliche Autorin in Laufenburg und Berlin. 2001 wurde ihr erster Roman «Zeit des Lavendels» veröffentlicht. Neben historischen Romanen schreibt sie Kurzgeschichten und Krimis. 2004 gründete sie das Internetmagazin 3land.info. 2010 erschien ihr Mystery-Roman «Der Klang des Regenbogens», 2011 ihr sechster historischer Roman «Die Köchin und der König». Zur Krimireihe «Es geschah in Berlin» trug sie bereits den Band «Beutezug» (2012) bei. (www.petra-gabriel.de)
Originalausgabe
1. Auflage 2013
1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH
© 2013 Jaron Verlag GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin
ISBN 9783955520199
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titelseite
Impressum
KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ELF
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
KAPITEL SECHZEHN
KAPITEL SIEBZEHN
NACHWORT
Es geschah in Berlin …
KAPITEL EINS
in dem Kappe eine dicke Witwe in der Kattegatstraße aufsucht
WILMA WUTTKE unterbrach ihre Erzählung und schnaubte missbilligend. Sie hatte turbulente Zeiten hinter sich. Dabei war ihr jede Form der Aufregung ein Greuel. Sie legte Wert auf einen ruhigen, geregelten Tagesablauf. Erst waren zwei fremde Männer ins Haus in der Kattegatstraße, Ecke Sternstraße gestürmt und an ihrer Türe im dritten Stock vorbei in den vierten getrampelt. Und nun saß auch noch dieser Kommissar in ihrem Wohnzimmer. Sie mochte keine fremden Männer im Haus – keine von der Polizei und schon gar keine Männer, die finstere Mienen hatten und trampelten. Gut, die finsteren Mienen hatte sie nicht sehen können, nur die Rücken, aber inzwischen war sie davon überzeugt, dass sie finstere Mienen gehabt haben mussten. Denn als die Fremden wieder heruntergekommen waren, dieses Mal sehr leise, gewissermaßen auf Zehenspitzen, hatten sie jemanden im Schwitzkasten gehabt – der Figur nach Gerhard Schmücke, den Mieter im Vierten.
Sie verwirbelte mit ihrem wurstartigen Zeigefinger anklagend die Luft. «Ick konnt die Jeschehnisse ja bloß durch’n kleen Spalt vafolgn, als se schon vorbei warn. Wenn ick die Tür weiter uffjemacht hätt, hättn die Vabrecha mia am Ende noch bemerkt. Det warn Entführer, sach ick Ihnen!» Wilma Wuttke legte allen Abscheu, dessen sie fähig war, in diese Worte – und das war eine Menge, fand Kappe.
«Wie kommen Sie darauf, dass das eine Entführung gewesen sein könnte?», fragte er, richtete sich ein wenig auf und hätte fast geschmunzelt. Er schaffte es gerade noch, das zu unterdrücken, aber seine linke Augenbraue ging unwillkürlich nach oben. Wilma Wuttke schien daraufhin zu glauben, dass er nicht alles verstanden habe. Sie holte tief Luft, und Kappe ahnte, dass sie nun zu einer neuen weitschweifigen Erklärung ansetzte. Er wurde langsam ungeduldig, gab sich aber Mühe, sich nichts anmerken zu lassen.
«Ick denk, Sie sind ’n Kriminaler! Un Sie wolln nich wissn, was ’n Schwitzkasten is? Das is, wenn Vabrecher anständije Leute gegen ihren Willen irgendwo hinbringen wolln, wo die niemals freiwillig hinjehn würdn. Denn sind die Körper von die Vabrecher irgendwie – wie sach ick’s am bestn – anjespannt, denn sehn se aus, als wärn se ’n Schraubstock. Sie ham die Schultern hochjezogn, un der Rücken ist rund, während sie so ’n armet Opfer zwischen sich jequetscht halten, als wollten se ’ne Zitrone auspressn. Hab’s im Krieg jesehn. So wat vergisst man nich. Und nu ist der Krieg vorbei, un et jibt immer noch solchet Jesindl.»
«Wie kommen Sie darauf, dass das Verbrecher waren?»
«Na ja, man hört doch so einiges, wa? Vielleicht warn det ja noch ’n paar Versprengte von die Gladow-Bande. Berlin is ’n einzijer Sündenpfuhl. Übaall lauern die Verbrecher, ständig muss ’ne alte Frau wie ick Angst ham, übafalln und ausjeraubt zu werdn.»
Kappe nickte verständnisvoll. In seine vergissmeinnichtblauen Augen stieg ein Lächeln. «Vor der Gladow-Bande müssen Sie sich nicht mehr fürchten. Die ist geschnappt und verurteilt worden, schon letzten Monat. Auf die Anführer wartet der Henker. Aber wie ging es dann weiter? Was haben Sie noch beobachtet?»
Wilma Wuttke tat einen weiteren Schnaufer. Kappe kannte diesen Gesichtsausdruck von anderen Vernehmungen. Offenbar bereute sie es gerade, die Polizei eingeschaltet zu haben. Sie wäre nicht die Erste. Wenn er nachzubohren begann, wenn er sich nicht mit dem vagen Bauchgefühl zufriedengab, sondern die Zeugen zwang, ihre Beobachtungen zu präzisieren und zu erklären, warum sie zu einer bestimmten Schlussfolgerung gelangt waren, dann dachten die meisten Leute darüber nach, ob es nicht besser gewesen wäre sich rauszuhalten.
Wilma Wuttke drückte ihren umfangreichen Busen raus und zog den Bauch ein – worauf dieser das lila-rot-blau-grün geblümelte Küchenkleid etwas weniger ausbeulte und die Knopfleiste zwischen den Knöpfen nicht mehr ganz so weit auseinanderklaffte. Dann prustete sie durch die Nase. «So, so, der Henker! Det gloob ick erst, wenn ick det inne Zeitung lese. Die ham doch mit dem Henker-Hannes jemeinsame Sache jemacht. Erzähln Se mir nüscht vom Ferd! Is neulich im Telegraf jestandn: Man is heutzutage inne eigene Wohnung nich mehr sicher!»
Das wusste Kappe, er las nämlich dieselbe Zeitung. Der Telegraf erschien im britischen Sektor und stand, wie er selbst auch, den Sozialdemokraten nahe. Nach Kriegsende war die Lizenz glücklicherweise an Leute seines Vertrauens gegangen, an den früheren Reichstagspräsidenten Paul Löbe und Annedore Leber, die Witwe des von den Nationalsozialisten hingerichteten Widerstandskämpfers Julius Leber. Chefredakteur war Arno Scholz.
Aber Kappe hätte auch ohne die Zeitung vom Prozess gegen Gustav Völpel alias Henker-Hannes vor der 5. Großen Strafkammer des Moabiter Kriminalgerichtes gewusst. Er war an den Ermittlungen beteiligt gewesen, hatte als Erster jenen aufmerksamen Passanten befragt, der im April des letzten Jahres die Polizei auf den Überfall auf einen Neuköllner Kaufmann hingewiesen hatte. Das war einer der Überfälle, derentwegen Werner Gladow, ein achtzehnjähriges Jüngelchen, den seine Abenteuerträume zum Schwerverbrecher gemacht hatten, zum Tode verurteilt worden war. Der Zeuge des Überfalls hatte, im Gegensatz zu Wilma Wuttke, eine sehr knappe, aber genaue Beschreibung der beteiligten Personen und seiner Beobachtungen geliefert. Er war durch Schreie aufmerksam geworden, die aus dem Haus des Opfers auf die Straße drangen.
Die Polizei hatte den Tathergang so rekonstruiert: Der Henker-Hannes hatte «Doktorchen», wie sich der Möchtegern-Al-Capone Werner Gladow gerne nennen ließ, und dessen Komplizen Redzinski und Bohla zur Wohnung des Opfers geführt und sich dann vor dem Haus postiert, um Schmiere zu stehen. Das wussten die Kriminaler, weil besagter Passant mitbekommen hatte, wie der Henker-Hannes vor dem Haus auf einen anderen Mann eingesprochen und ihm erklärt hatte, die Schreie, die da zu hören gewesen seien, stammten von keifenden Weibern im Haus. Der Zeuge fand das merkwürdig, vermutete, dass der Mann mit dieser Behauptung davon abgehalten werden sollte, zur Polizei zu gehen. Er selbst hatte nämlich nur die Schreie einer männlichen Stimme gehört. Deshalb habe er erst recht Verdacht geschöpft und die Polizei alarmiert, so hatte er zu Protokoll gegeben.
Das passte zur Spurenlage im Haus und wurde später durch die Aussage des Überfallenen bestätigt. Einer der Verbrecher war dem Kaufmann an die Kehle gegangen, die beiden anderen hatten ihn niedergeschlagen, ihn dabei schwer verletzt und schließlich gefesselt. Die Beute: 500 Westmark und 1300 Ostmark. Dann waren die Täter durch den Küchenausgang und über den Hinterhof geflüchtet.
Nachdem Gladow und seine engsten Kumpanen verurteilt worden waren, standen nun die kleineren Fische vor Gericht. Montag musste Kappe als Zeuge im Prozess gegen eine Prostituierte aussagen, die mit Gladow und seiner Bande unter einer Decke gesteckt haben sollte. Kappe hatte da seine Zweifel.
Er zwang seinen Blick von dem großen Fettfleck über Wilma Wuttkes Bauch zurück auf ihr Gesicht mit den Äuglein, die so tief im Speck lagen, dass er ihre Farbe noch nicht hatte herausfinden können. Wilma Wuttkes Hängebäckchen zitterten vor schlechtverhohlener Ungeduld. Er begriff, dass sie ihn loswerden wollte. Doch nun war er da, also würde er auch alle Fragen stellen, die er hatte.
«Lassen Sie sich alles haarklein erklären! Sie sind doch ein Mann mit Erfahrung, Kappe», hatte der Chef gesagt. Seltsam, sonst regelte das zuständige Revier solche Fälle. Normalerweise schickte man bei Anrufen beunruhigter, möglicherweise gar hysterischer Witwen in fortgeschrittenem Alter niemanden von der Abteilung K des Polizeipräsidiums West. Und schon gar keinen von der Kriminalinspektion M I – M wie Mord. Er wusste außerdem noch immer nicht, was er von der ganzen Angelegenheit halten sollte. Konnte gut sein, die Witwe hatte sich getäuscht und dieser Schmücke tauchte quietschfidel wieder auf, war einfach in einer Kneipe versackt. Falls er überhaupt jemals verschwunden gewesen war. Eines war jedoch sicher: Das herauszufinden konnte unter ungünstigen Umständen lange dauern. Er musste ja alles alleine machen. Und dann noch dieser Gerichtstermin am Montag! So was kostete immer viel Zeit.
Kappe beschloss, sich in dieser Angelegenheit nicht drängen zu lassen und nicht am morgigen Sonntag zu arbeiten, denn das hätte Ärger mit Klara bedeutet, die just an diesem Tag mit ihm einen Ausflug an den Scharmützelsee machen wollte. Falls es allerdings regnete, hatten sie am Nachmittag eine Fahrt mit der Straßenbahn-Ausflugslinie von Neukölln nach Pichelsdorf geplant. Die sollte nämlich am 21. Mai von der BVG eröffnet werden. Kein Gerhard Schmücke war Ärger mit Klara wert, mochte er auch noch so verschwunden sein. Kappe löste sich vom Bild des vorwurfsvollen Blicks seiner Ehefrau und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Witwe. «Und wie ging es dann weiter?»
Wilma Wuttke zögerte, als müsse sie nachdenken, und fuhr dann in ihrem Bericht fort. «Also nich, dass Se denken, ick sei neujierieg, aba det is ma, wie jesacht, komisch vorjekomm, da hab ick ausm Fensta jekiekt un jesehn, wie se unten ausm Haus rausjekomm sind.»
Kappe nickte ergeben und erfuhr Folgendes: Draußen hatten sich die drei Männer in einen roten Fiat 500C gequetscht. Normalerweise konnte sich Wilma Wuttke, wie sie nicht ganz ohne Stolz nachschob, höchstens die Farbe eines Autos merken. Doch bei diesem Wagen war es etwas anderes. Ihr Ernst, nach dreißig Jahren Ehe erst letztes Jahr an den Folgen seiner Kriegsgefangenschaft bei den Russen gestorben, hatte zuletzt ein solches Auto gefahren. Sie hatte sich zudem sehr gewundert, wie drei so große Männer auf der einen Sitzbank unterkamen, wo doch kaum für ihren Ernst und sie Platz gewesen war in dieser Kinderkiste. Ernst hatte auf dem Kauf dieses Wagens bestanden, mit dem Argument, er habe sich etwas Luxus verdient. Sie hatten ihn günstig von einer Kriegswitwe bekommen, deren Mann am letzten Kriegstag gefallen war.
«Man stelle sich so etwas vor!», lamentierte Wilma Wuttke. «Die arme Frau! Den janzen Kriech hat der Mann überstandn, wegen seim lahmen linken Bein ham se’n nich zu die Soldaten jezogn. Aba als denn die Russen uff Berlin zumarschiert sind, als die Artillerie eene Salve nach der anderen jeorgelt hat, da musste er doch noch seine Heimat verteidign. Un denn isser quasi inne letzte Minute, also am 2. Mai, beim Häuserkampf erschossn wordn. Is det nich ’ne Affenschande? Anner Panzersperre am S-Bahnhof Hermannstraße in Neukölln.»
Kappe nickte erneut, dieses Mal verständnisvoll, und überlegte, wie Wilma Wuttke und ihr Mann auf der Sitzbank im Fiat 500C Platz gefunden haben könnten. Sie allein hatte den Umfang von zwei normal gebauten Männern. Ernst Wuttke musste sehr dünn gewesen sein. Bei einem ehemaligen Kriegsgefangenen vielleicht kein Wunder.
Der Körper seiner Witwe nahm jedenfalls mehr als die Hälfte des dreisitzigen, ebenfalls geblümelten Sofas ein, dessen Federn unter ihrem Gewicht im Sinn des Wortes in die Knie gegangen waren, als sie sich hingesetzt hatte. Kappe selbst hockte auf einem hölzernen Küchenstuhl, den er eigenhändig in die Stube hatte schleppen müssen. Kriegsmodell, ungepolstert. Außer dem Sofa, dem dazugehörigen Tisch und einer mächtigen Schrankgarnitur hatte nämlich nicht viel mehr in der kleinen Stube Platz. Offenbar schlief Wilma Wuttke auch auf dem Sofa. Das verriet ihm das Kopfkissen, das sie noch nicht weggeräumt hatte. Kappe verstand deshalb, dass sie es vorgezogen hatte, keinen Sessel für Gäste anzuschaffen. Vielleicht hatte sie aber auch einfach die Mittel nicht. Oder normalerweise keine Gäste.
Er saß unbequem. Der Sitz war hart, der Stuhl wackelig. Verdammt, er war auch nicht mehr der Jüngste! Doch er hörte ihr so aufmerksam wie möglich zu, während sie weiterredete, und machte sich hin und wieder Notizen in seinem Block. Klara beklagte sich immer darüber, was so ein Ding kostete. Doch es erleichterte nun mal die Arbeit ungemein. Bei seinem Beruf kam es auf jede Kleinigkeit an.
Die Witwe Wuttke klang sehr bestimmt, als sie die ungebetenen Besucher auf seine Frage hin noch etwas genauer beschrieb.
Die Männer waren alle zwischen einsachtzig und einsneunzig gewesen. Dann runzelte sie die Stirn. Nein, jetzt, da der Kommissar so frage: Der mittlere, der war kleiner. Um die einssiebzig vielleicht.
«Kann es sein, dass Sie wegen des Größenunterschiedes glauben, dass die anderen ihn in den Schwitzkasten genommen haben?», hakte er nach.
«Nee, nee, wofür halten Se mir! Für ’ne verwirrte Oma? Det hab ick jenau jesehen, als ick ihn’ nachjekiekt hab. Oder glooben Se, ick hab Tomaten auf die Augen?»
«Und warum haben Sie sich erst jetzt bei Ihrem zuständigen Revier gemeldet? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, war der Besuch der Männer doch schon gestern.»
Wilma Wuttke wand sich. «Na ja, is sonne Sache, sich in anderer Leute Angelegenheiten zu mischen, wa? Det mach ick nich so gerne. Leben und leben lassen, sach ick immer. Aber denn … Also, ick konnte die janze Nacht nich schlafn. Und denn heute Morgen …»
«Was war da?»
«Denn hab ick nüscht mehr jehört. Normalerweise kann ick den Herrn Schmücke morjens hören, wenn er sich wäscht. Denn gluckert’s inner Leitung. Wir ham ja nu wieder warmes Wasser, wa? Iss’n Segen. Det könn’ hier in Berlin noch nich alle von sich sagen. Und die Heizung funktioniert ooch, ’ne richtige Etagenzentralheizung mit Therme. Det Modernste vom Modernen. Jut, bald is Ende Mai, da brauchen wir se nich, und irjendwie ziemlich warm für die Jahreszeit is et sowieso. Sind aussem letzten Nachkriegswinter außerdem ja Kälte jewöhnt. Det härtet ab. Wat wollt ick sagen? Ach ja. Der Mann muss früh raus. Wäscht sich imma umme selbe Zeit. Um sechs Uhr dreißig rauscht det Wasser inne Rohre nach untn. Kannste die Uhr nach stellen, Tach für Tach. Mich stört et nich. Als alte Frau brauch ick nich mehr so viel Schlaf. Und wat ick träume, sind sowieso Albträume.» Sie unterbrach ihre Geschichte und schaute mit jenem Blick vor sich hin, den Kappe gut kannte.
Ob sie nun als Frontkämpfer gedient hatten, unter Trümmern verschüttet oder ausgebombt worden waren – diejenigen, die überlebt hatten, litten alle unter demselben Seelenschmerz, der irgendwo tief im Innern nicht aufhören wollte zu rumoren und schreckliche Bilder aufkommen ließ, wenn man sich nicht vorsah. Er ließ sich mit einem Wort umschreiben: Krieg. Ja, auch noch fünf Jahre nach Kriegsende – und wahrscheinlich fürs ganze Leben. Kappe wartete, bis sie wieder in die Gegenwart zurückfand.
Wilma Wuttke atmete tief durch und wandte ihm dann wieder ihren Blick zu. Der war traurig und irgendwie leer, als habe jemand in ihr eine Kerze ausgelöscht. «Aber heute morjen nu nüscht. Und da dachte ick so bei mir, dass da wat nich stimmen tut.»
«Was ist der pünktliche Wäscher denn von Beruf?»
«Telegraphenbauhandwerker hatter gelernt, hatter jedenfalls jesacht, als wir bei seim Einzuch letztet Jahr zusammn ein’ getüddelt ham. Denn hatter sich aba sofort verbessert und erklärt, dass er fürn Kolonialwarengroßhandel arbeetet. Gloob ick jedenfalls, dasser so wat jesacht hat. Is’n ziemlich langet Wort, un er hat schon ein’ sitzen gehabt und genuschelt. Sie wissn, was ick meinen tu. Ick hab ihn danach nich oft gesehen. Und bis uffs Waschen ooch nich oft jehört. War ’n Ruhiger, hatte wohl Filzpuschen. Bis vor zwee Tagn, als die Männer da warn. Da hattet oben ooch ziemlich gerumpelt. Hab mir richtig erschrockn.»
Kappe sah sie nachdenklich an. «Dann werden wir uns mal die Wohnung oben anschauen. Vielleicht ist Ihr Nachbar ja nur krank. Ich geh mal klingeln. Wissen Sie, wo ich einen Schlüssel herbekommen könnte? Für den Fall der Fälle. Gibt es hier einen Hausmeister?»
Wilma Wuttke hatte Bedenken, das sah er an ihrem Blick. «Ick weeset nich. ’n Hausmeister ham wa nich.» Sie machte eine Pause und gab sich dann einen Ruck. «Also, ick hab noch ’nen Schlüssel. Hab mal in die Zweiraumwohnung da oben jewohnt. Als mein Ernst gestorben ist, letztes Jahr Anfang November, da dachte ick mir so, denn brauchste keene zwee Zimmer mit Küche und Bad mehr, denn reicht auch een Zimmer. Und irgendwann wird eim das Treppensteigen auch zu ville. Sie wissen schon, die Beene, die wolln nich mehr so. Wie’s der Zufall so will, nach die Renovierung im letzten Jahr war noch so ’ne Wohnung im Dritten frei. Nun muss ick bloß noch bis hierher. Irgendwann komm ick sicher och noch innen Ersten. Obwohl, nah an die Straße mit all die Verbrecher isset denn schon. Die steigen eim denn über’n Balkon inne Bude rin. Vielleicht zieh ick denn doch besser in’ Zweiten, wenn da wat frei wird.»
«Sie sind also einen Stock tiefer gezogen?»
Wilma Wuttke brummte zustimmend und rutschte auf dem Sofa hin und her.
«Aber Sie haben ihren Schlüssel nicht abgegeben?», half Kappe nach.
Wilma Wuttke brummte erneut, dieses Mal mit ziemlich unglücklicher Miene. «Et is nich so, wie Se denken tun. Wollte mich nich heimlich in die Wohnung von diesem Schmücke schleichn. Dachte nur, ick hätte den drittn Schüssel verlorn, und hab ihn erst neulich wiedergefundn. Hätte ihn dem Schmücke schon noch gegeben. Hat sich bloß noch nich ergebn. Die Jelegenheit, meine ick, Herr Kriminalkommissar.»
Kappe verkniff sich die Bemerkung, dass er vor zwei Jahren zum Kriminaloberkommissar befördert worden war. «Na, dann gehen wir doch mal nach oben und sehen nach Ihrem Nachbarn, gnädige Frau», erklärte er stattdessen.
«Mein’ Se wirklich? Vielleicht hätt ick ja doch nich …»
«Nein, nein, es war schon richtig, dass Sie uns gerufen haben», beruhigte Kappe sie.
Wilma Wuttke schaute nicht ganz überzeugt, stemmte sich aber hoch. «Denn will ick mal den Schlüssl holn.» Damit watschelte sie aus dem Zimmer. Sie hatte keine Filzpantoffeln.
Kappe schaute ihr nachdenklich hinterher und dachte an den Moment, als er zum ersten Mal von diesem Schmücke und seiner besorgten Hausmitbewohnerin gehört hatte.
Wachtmeister Bredow vom Revier 48 in der Koloniestraße 18 im Wedding war nach dem Besuch der Witwe Wuttke auf Befehl von Kriminalkommissar Jüterbog ins Polizeipräsidium in der Friesenstraße 16 geeilt und hatte seine Botschaft mit dem Satz eröffnet: «KK Jüterbog sacht, da is wat spanisch.» Anschließend hatte er die Vermisstenmeldung geschildert, die eine ziemlich aufgelöste, ziemlich korpulente, ältere Frau unter viel Schnaufen und Prusten bereits um acht Uhr an diesem Morgen im Revier abgegeben hatte. Zwei sehr verdächtige Männer sollten einen anderen Mieter, einen gewissen Gerhard Schmücke, besucht haben. Woraufhin besagter Schmücke sich in Luft aufgelöst habe. Der Mann sei ein Fachmann in Sachen Fernmeldewesen und stamme ursprünglich wohl nicht aus Berlin. Das sei aber schon alles, was man wisse.
Daraufhin horchte Kriminalrat Friedhelm Keunitz, seines Zeichens Leiter der Unterabteilung 1 der Kriminalinspektion M I bei der Abteilung K wie Kriminalität im Polizeipräsidium West und als solcher seit Januar Kappes Chef, auf. «Fernmeldewesen? Wo kommt der Mann her? Arbeitgeber? Waren Sie mal in der Wohnung?»
Wachtmeister Bredow zuckte die Schultern. «Nee, inne Wohnung warn wir noch nich. Wolltn erst mit euch redn. Ham nämlich ’n paar Nachbarn abgeklappert. Scheint so was wie ’n Phantom zu sein, dieser Schmücke. Keener hat ihn jesehen, keener weiß, wo er herkommt. Kennen den Mann überhaupt nich. Det kam uns komisch vor. Als ob der Mann vom Mond jefalln is. Deswegn hat KK Jüterbog jesacht, ick soll zu euch inne Friesenstraße un die Angelegehnheit meldn. Det sei ihm zu heiß. Verschwundene Fernsprechfachleute seien meistens ’ne Angelegenheit für den Sektorassistenten, wenn nich gar fürn Jeheimdienst. In diesem Fall für den der Franzosen. Weil doch der Wedding im französischen Sektor liegt.»
Keunitz griff zum Fernsprechapparat, nahm den Hörer von der Gabel und begann mit der anderen Hand, die Wählscheibe zu drehen. Kappe schien es allerdings die Nummer des Sektorassistenten der Amerikaner zu sein, die er wählte. Vermutlich weil das Polizeipräsidium West in der Friesenstraße angesiedelt war. Damit lag es im Bezirk Kreuzberg, und der gehörte wiederum zum amerikanischen Sektor. Man kannte sich. Der Sektorassistent war nämlich der Verbindungsmann des Polizeipräsidenten zum jeweiligen Sektor. Deshalb hatte es ursprünglich vier davon gegeben – den Verbindungsmann zu den Amerikanern, den zu den Engländern, den zu den Franzosen und den zu den Sowjets. Letzterer fiel nun weg. Der sowjetische Sektor war inzwischen Teil des neugegründeten Staates DDR. Wie auch immer, falls Kappe die ersten Ziffern der gewählten Nummer richtig interpretierte, wollte Keunitz sich an eine ziemlich weit oben angesiedelte Person wenden. Mit übergeordneten Stellen hatte Kappe in der Vergangenheit nicht immer die besten Erfahrungen gemacht.
Die Wählscheibe ratterte noch zweimal, dann war ein lautes Tuten zu hören. Keunitz zog die Augenbrauen zusammen.
Kappe schwante Übles. Keunitz hatte ihn mit Sicherheit nicht dazugebeten, weil er die vergissmeinnichtblauen Augen eines seiner dienstältesten Kommissare so schätzte. Aber vielleicht ließ sich die Angelegenheit noch abwenden. Sollten die im Wedding sich doch damit herumschlagen! «Für mich klingt das eher nach einer verrückten Alten. Das fällt doch in die Zuständigkeit der Polizeiinspektion Wedding. Immerhin haben wir hier keinen Toten», hatte er in das Tuten hinein angemerkt, sich aber nicht allzu viel Hoffnung gemacht, dass der Kelch an ihm vorübergehen würde.
Seine Bemerkung kam bei dem Schutzmann aus dem Wedding nicht gut an. «Ach nee! Schnellmerker, wa? Da komm ick her! Hab doch allet erklärt. Ham Se Tomaten auf’e Ohren?»
«Gut gemacht», sagte Kappes Chef. Er meinte nicht Kappe.
«Denn werd ick mal wieder!», meinte der Wachtmeister, tippte sich mit zwei Fingern an die Schläfe, warf Kappe einen triumphierenden Blick zu und stapfte hinaus.
Keunitz nickte ihm gedankenverloren hinterher, während es aus dem Hörer weiterhin vernehmbar tutete. Der Sektorassistent der Amerikaner schien entweder nicht im Büro oder beschäftigt zu sein. Dann aber kam doch noch eine Stimme aus dem Hörer. Keunitz sprach kurz über das für hiesige Breiten viel zu warme Wetter, erzählte die Schmücke-Geschichte, lauschte einige Augenblicke und sagte dann: «Ja, ja, Gerhard Schmücke heißt er angeblich. Experte im Fernmeldewesen. Wie bitte? Jawohl. Ja, natürlich, einen erfahrenen Kommissar. Kappe, guter Mann, steht hier neben mir. Diskret? Selbstverständlich. Und die Franzosen? Das machen Sie? Gut. Ich warte dann auf einen Rückruf von oben. Wann? In zwei Minuten? Fein, dann kann ich meinen Mann bald losschicken.»
Anschließend legte er ganz sanft den Hörer auf die Gabel, so als befürchte er, dass der Mann am anderen Ende noch in der Leitung sein und durch ein Aufknallen erschreckt werden könnte. Dann wandte er sich erneut Kappe zu und zog die dicken Augenbrauen dabei noch weiter zusammen. «So, Sie haben mitgehört, Herr Kriminaloberkommissar? Gut. Der Fall fällt ab sofort in Ihre Zuständigkeit. Kann Ihnen aber niemanden mitgeben. Wir haben keine Leute. Kollege Rückert ist auf Lehrgang. Außerdem: Sie wissen doch selbst, dass ab 27. Mai das große Deutschlandtreffen der FDJ sowie der ›Kongress junger Friedenskämpfer‹ ins Haus stehen. Wir müssen dafür sorgen, dass es beim Frieden bleibt. Und dann noch die schrecklichen Morde in der Reichenberger Straße! Jede Menge Arbeit, da brauchen wir jeden Mann. Können doch den Kollegen Ost bezüglich der Aufklärungsquote nicht hinterherhinken. Schauen Sie sich diese Witwe mal an! Vielleicht ist nichts dran, und da will nur so eine einsame Oma jemanden zum Reden haben.»
Kappe sank in sich zusammen. Keunitz strahlte Zufriedenheit aus. Kappe konnte die Gedanken seines Chefs förmlich hören: Nun konnte ihm niemand mehr vorwerfen, er habe nicht angemessen reagiert. Immerhin, es ging um einen Fachmann im Fernmeldewesen. In Berlin, der geteilten Stadt, die zum Drehkreuz von Spionage und Gegenspionage geworden war, löste allein diese Berufsbezeichnung erhöhte Alarmbereitschaft aus. Kappe wusste, dass Keunitz Agenten jedweder Art und ganz egal, ob sie von den Sowjets, den Amerikaner, den Engländern oder den Franzosen kamen, keineswegs romantisch fand. Jedenfalls viel weniger romantisch als in diesem Film Der dritte Mann mit Orson Welles, der letztes Jahr herausgekommen war. Kappe hatte ihn zusammen mit Klara angeschaut. Gut, er spielte in Wien. Aber so anders lief es hier in Berlin auch nicht ab. Wien war ebenfalls viergeteilt, auch die Bürger der österreichischen Hauptstadt mussten sich mit dem Viermächtestatus abfinden.
Dieser Keunitz war eine bemerkenswerte Erscheinung. Er wirkte imposant. Das musste aus seinem Innern kommen, vermutete Kappe. Im Hinblick auf die Körpergröße hatte der Schöpfer ihn nämlich nicht übermäßig gut bedacht. Ähnlich war es wohl bei Napoleon gewesen, auch der musste innen imposanter gewesen sein, als er von außen aussah. Das Einzige, was an Keunitz äußerlich imposant war, waren seine mächtigen Augenbrauen und die Bartstoppeln, die seinem Gesicht schon nach einem halben Tag ein unrasiertes Aussehen gaben. Kappe hatte die Vermutung, dass Keunitz auch auf dem Kopf eine ziemliche Putzwolle spazieren tragen würde, wenn er seine Haare nicht militärisch kurz geschoren hätte. So etwas wie einen Mopp. Ansonsten wirkte er beim genaueren Hinschauen, als könne ihn der nächste heftige Windstoß umblasen, kurz und spillerig, wie er war.
«Wir haben keine Leute», hatte Keunitz gesagt. Klar, das wusste Kappe. Es gab schon seit Wochen in allen Westabteilungen einen Riesenaufstand wegen dieser FDJ-Veranstaltung. Mein Gott, das waren doch noch Kinder! Aber Kinder des Feindes. Hörte das denn nie auf?
Die Morde in der Reichenberger Straße waren wirklich eine scheußliche Sache. Am 17. Mai war im Südosten Berlins die Zigarrenhändlerin Charlotte Kunike erstochen aufgefunden worden. Sie sollte sogar ihren eigenen Tod vorausgeahnt und am Morgen ihres Todestages einem jungen Mann erklärt haben: «Ich habe etwas Furchtbares geträumt. Stellen Sie sich vor, im Traume hat mich ein Toter geküsst!» Eine halbe Stunde später war sie gefunden worden – mit einem Brotmesser im Hals. Und erst an diesem Morgen hatten sie gegenüber dem Schauplatz dieses Verbrechens die zerstückelte Leiche der viereinhalbjährigen Margit Holzhausen gefunden. Es gab Zeugen, die den Täter gesehen haben wollten. Und nun war die Jagd eröffnet. Ausnahmsweise arbeiteten in dieser Angelegenheit Kripo Ost und Kripo West mal wieder zusammen und nicht gegeneinander. Wenn es um Kinder ging, hatten die Ideologien zu schweigen. Ab und an jedenfalls.
Bei diesem Stand von Kappes Überlegungen gab der Fernsprechapparat auf Keunitz’ Schreibtisch plötzlich schrille Klingeltöne von sich, weshalb der Kriminalrat in Windeseile den Hörer von der Gabel nahm. Keunitz war noch sehr darauf bedacht, bei seinen Vorgesetzten nicht unangenehm aufzufallen. Er nickte, zog erneut die Augenbrauen zusammen und legte dann die Stirn in Falten.
In Kappe verfestigte sich die Überzeugung, dass mit diesem Gerhard Schmücke tatsächlich etwas nicht stimmte, dass die Besucher im Haus dieser Weddinger Witwe irgendwem aus den oberen Rängen im Polizeipräsidium West Unbehagen bereiteten. Und dass dieser gewisse Jemand aber lieber nicht wollte, dass der Fall an die große Glocke gehängt wurde, denn sonst stünde Kappe jetzt nicht noch immer allein im Büro des Chefs, sondern wäre längst Teil einer eiligst zusammengewürfelten Sonderermittlertruppe.
Mit wem Keunitz wohl telefonierte? Der sagte auch nach zwei Minuten noch immer nichts außer «Ja, ja ja, jawohl». Kappe vermutete, dass sich Polizeipräsident Dr. Johannes Stumm höchstpersönlich eingeschaltet hatte. Einen anderen als Keunitz hätte er einfach geradeheraus gefragt. Doch seinen neuen Chef kannte er noch nicht so gut.
Nun saß Kappe also bei dieser Witwe Wuttke. Seine Gedanken schweiften weiter. Natürlich – die Kattegatstraße lag nicht weit von der Wollankstraße entfernt, die jeden, der ihr in östlicher Richtung folgte, vom französischen in den sowjetischen Sektor Berlins führte! Und dann noch ein Fernmeldefachmann! Hatte es denn keinen anderen Kommissar treffen können? Kappes Nase juckte, und das bedeutete: Dieser Schmücke brachte Ärger.