Czytaj książkę: «Umdrehen und Weggehen»
PETER STRASSER
UMDREHEN
UND
WEGGEHEN
Eine Ethik der Abwendung
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1. Auflage 2020
© 2020 by Braumüller GmbH, Servitengasse 5, A-1090 Wien
Coverfoto: © Shutterstock/YevgeniyDr
ISBN 978-3-99200-275-7
eISBN 978-3-99200-276-4
INHALT
PROLOG
KAPITEL IVERDICHTUNG UND ENTDICHTUNG
DER RATTENFEHLSCHLUSS
DAS PARADOX DER ENTDICHTUNG
DER ZWANGLOSE ZWANG
DER ZWANG DES ZWANGLOSEN ZWANGS
KAPITEL IIDIE PSYCHOLOGISCHE FESSEL
BEZIEHUNGSFALLEN
WO DIE LIEBE HINFÄLLT …
PFLICHT UND NEIGUNG
DAS NARZISSTISCHE PARADOX
KAPITEL IIIGRENZWIDERSTÄNDE
BEFREIUNG DURCH ABKAPSELUNG?
DIE KOPFTUCHDEBATTE
DIE HOHE SCHULE DER HINDERNISSE
SCHWELLEN UND ÜBERGÄNGE
KAPITEL IVABWENDUNG NACH VORNE
HASHTAG WALKAWAY
ECHORÄUME
DAS UNABWENDBARE
DIE „BESSERE ZUKUNFT“
KAPITEL VWEGGEHEN UNMÖGLICH?
LIEGEN GELASSENE DINGE
HIERBLEIBEN-MÜSSEN
DAS STARREN INS LEERE
LEBEN, UM STERBEN ZU LERNEN
EPILOG
PROLOG
Geh weg, wende dich ab, lass es hinter dir.
Ich gehe einfach raus.
Just walk away.
Unter dem Gesichtspunkt der Nächstenliebe, der Solidarität, dem Ideal des ewigen Friedens mögen die oben stehenden Sätze, werden sie absolut verstanden, all den Armen und Notleidenden, den „Verdammten dieser Erde“, gegenüber fühllos klingen.
Um es vorweg klarzustellen: Sich abzuwenden mag Ausdruck einer Grausamkeit sein, bestenfalls einer Blindheit vor dem Elend. Aber es gibt auch eine Beschwernis, wonach wir in unseren engmaschigen, hoch vernetzten Gesellschaften unter dem Druck mannigfacher Toleranzgebote und einer ebenso tiefdringenden wie umfassenden Psychologisierung permanent aufeinander zu- und eingehen sollten. Gerade im Wunschtraum der harmonischen Verdichtung menschlicher Beziehungen liegt jedoch eine Quelle persönlichen Unwohlseins und des beengenden Gefühls, die Akteure rundum seien zugleich Stützen eines Existenzgefängnisses, aus dem es kein Entkommen gibt.
Dieses Gefühl führt auf Dauer zu krisenhaften Beziehungen, persönlich und sozial: Beziehungen, die im Abscheu, ja im Hass vor bestimmten, als einengend und bedrohlich erlebten Anderen gipfeln – die „anderen“ groß geschrieben. Es gilt, einer Gesellschaft vorzubeugen, in der sich die Vielen, die Viel-zu-Vielen ineinander regelrecht „verbeißen“. Wir leben im Zeitalter der Verdichtung, die sich in den Mechanismen der Globalisierung wie den beengenden Ideologien des Neonationalismus äußert.
Es bedarf daher, neben der großen Politik im Geiste der liberalen Tradition, einer individuellen „Politik“ des Loslassens, des Sein- und Gut-sein-Lassens. Man muss auch weggehen können, ohne deswegen als Drückeberger oder Verräter an der angeblich gemeinsamen Sache gescholten, gar verfemt oder ausgestoßen zu werden.
Freilich lassen es nicht alle Situationen unter allen Umständen zu, auf eine moralisch vertretbare Weise unserem Titelmotto gemäß zu agieren: „Umdrehen und weggehen.“ Die Lebenskunst der Abwendung erfordert eine differenzierte, belehrte und kluge Sicht der persönlichen und überpersönlichen Angelegenheiten. Loslassen-Können und Loslassen-Dürfen bilden einen moralischen Komplex. Davon soll im Folgenden, unter Berücksichtigung eines weiten Spektrums an Gelegenheiten und Hindernissen, die Rede sein. Das Prinzip, das uns dabei leiten wird, ist ein dialektisches: Man möchte sich dort, wo man gerade weilt – zu Hause, bei der Familie, bei Freunden, existenziell: auf Erden –, beheimaten; doch bleiben will man nur im Bewusstsein, nicht bleiben zu müssen.
In den – wie sie genannt werden – Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg (1917/18) von Franz Kafka gibt es eine kurze Fabel, eigentlich einen Klage-Aphorismus (Nr. 40), der von der „Zelle“ handelt, in der zu leben man auf Erden gezwungen wurde: Man hat seine Zelle zu hassen gelernt und hofft, in eine andere, neue Zelle verbracht zu werden, wohl wissend, dass man auch diese bald hassen wird. Aber in dieser unserer Hoffnung, so Kafka, schwinge die Hoffnung mit, beim Transport werde der „Herr“ zufällig den Gang entlangkommen und sagen: „Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir.“
Unser irdisches Schicksal scheint es zu sein, uns nicht umdrehen und weggehen zu können. Uns wurde ein Platz zugewiesen, es ist eine „Zelle der Existenz“, eine von unzähligen Zellen, die alle vom Sein bei Gott gleich weit entfernt sind; deshalb, so Kafka, der „beginnende Wunsch zu sterben“. Der Rest an Hoffnung, der bleibt, ist nicht von dieser Welt: Nur der „Herr“ selbst könnte uns befreien – von der Qual der Endlichkeit erlösen –, indem er uns zu sich nimmt.
Aber was wäre, wenn ER uns zu sich genommen hätte? Kafkas Hoffnung ist von einer tiefen Zweideutigkeit erfüllt. Lag nicht der tiefste Grund unserer Verzweiflung darin, dass wir unsere Zelle nicht aus eigenen Stücken verlassen konnten? Dass die Zellentür nicht offen stand, nicht zu öffnen war? Statt auf die Zellenwände zu starren, wollten wir uns „umdrehen und weggehen“, nach draußen, wo uns keine Wände mehr daran gehindert hätten … ja, um was zu tun? Diese Frage erscheint dem Gefangenen des Lebens, der fortwährenden Banalität, der Qual des Existieren-Müssens, zunächst nichtig. Er will nur eines, er will raus! „Umdrehen und weggehen“ – darin beschlossen ist ein Phantom der Freiheit. Denn dass sich die Freiheit womöglich als die schlimmste aller Gefangenschaften entpuppen könnte, dieser existenzielle, gar metaphysische Notstand des Menschen, wird erst Thema, wenn die Freiheit bereits errungen ist.
Nimm an, wir könnten uns von jedem Punkt aus umdrehen und weggehen, Abwendung wäre immer und überall möglich. Aber was wäre dadurch abgewendet? Welchem Schicksal wären wir entronnen? Und plötzlich beginnt es uns, den dann Freiesten unter den Freien, zu dämmern. Wir wären die zur Schicksalslosigkeit Befreiten: Unser Leben hätte keinen anderen Sinn mehr als den, welchen wir ihm willkürlich beimessen – und wäre das nicht bloß eine andere Art zu sagen, dass unser Leben, in all seiner Beliebigkeit, zugleich sinnlos sei?
Und so müssten wir einsehen, dass dies, unsere uns auferlegte Schicksalslosigkeit, die schlimmste aller möglichen Zellen wäre. Die Zelle, die keine Wände hat, hat keinen Ausgang. Alles, worauf wir einst hofften, war, uns umdrehen und weggehen zu dürfen; doch ohne Wände, ohne Zellentüre, ohne jegliches Abwendungshindernis würde auch diese Hoffnung zunichtewerden.
Und inwiefern vermöchte uns dann der „Herr“, der den Gang entlangkommt, dabei helfen, damit wir in die richtige Freiheit entlassen werden? Er würde uns in sein Haus mitnehmen, von dem es in den Evangelien heißt, dass es dort, „im Haus meines Vaters“ – so Jesus –, viele Wohnungen gebe. Dort könnte man sich „umdrehen und weggehen“, aber man bliebe aus gutem Grund.
Womit wir es bei den „vielen Wohnungen“ zu tun haben, das ist – ganz gegen Kafkas Stimmungslage – die Einlösung der Paradies-Sehnsucht, ausgedrückt im Bild des Zuhauseseins: einem Sein, wohinein man nicht schicksalhaft verschlagen würde. Man könnte dieses Zuhause wieder verlassen, sonst wäre es keines; dort erst wäre der richtige Verweilort, das Sinnzentrum eines Lebens, von dem wir hoffen, es möge währen.
KAPITEL I
DER RATTENFEHLSCHLUSS
Es war der österreichische Verhaltensforscher, Nobelpreisträger und Zivilisationspessimist Konrad Lorenz, namentlich in seinem Buch Die acht Todsünden der Menschheit (1973), welcher vor den Verdichtungen warnte, die seiner Meinung nach bevorstanden: Zu viele Menschen, zu wenig Raum! Damit bezog er sich auf das rasche Wachstum der Menschheit einerseits, vor allem jedoch auf die Ballung der Menschenmassen in den großen Städten. Dort, so Lorenz, müsste die Gewalt ausbrechen, die eine Folge davon ist, dass die Menschen gezwungen sind, sich andauernd zu nahe zu kommen. Abwendung sei unmöglich. Drehe man sich um, geschehe dies, aufgrund mangelnden Platzes, notwendigerweise so, dass man sich in die Masse hineindrehe, aus der man sich herausdrehen wolle. Umdrehen und weggehen? Unmöglich, es sei denn, man werde zum Aussteiger, ziehe in die Wildnis, was aber – sofern es den Stadtbewohnern überhaupt als wünschenswert erscheine – ein frommer Wunschtraum bleiben müsse, noch dazu einer, der eine geringe Kenntnis der wirklichen Wildnis verrate.
Ich lege jetzt Konrad Lorenz Sätze in den Mund, die er so nie gesprochen hat. Aber der Tenor stimmt, und ihn möchte ich hier aus Demonstrationsgründen verstärken. Denn in seinen Philippiken, seinen Standpauken und Brandreden, bezog sich Lorenz gerne auf Experimente mit Ratten. Sperrte man Ratten in einen derart engen Käfig, dass die Toleranzgrenze, die sie benötigten, um sich aus dem Weg zu gehen, unterschritten wurde, dann begannen sie ihre Nachbarn wegzubeißen. Aber nicht nur das: Der Stress, der sich in ihnen aufgrund der übergroßen Nähe aufbaute, nahm überhand und sie fingen an, sich selbst zu verletzen. Kurzum, das Ganze endete, falls es nicht von der Versuchsleitung abgebrochen wurde, in einem Gemetzel. Da auch der Mensch ähnliche Toleranzgrenzen hat – auch er ist ein Produkt der Evolution –, muss dieser Logik zufolge die zunehmende Dichte um einen herum verstärkt als unangenehm empfunden werden, bis sie schließlich im Kampf der Artgenossen endet. Da nun aber der Kampf in zivilisierten Gesellschaften nicht äußerlich, jedenfalls nicht unter Einsatz körperlicher Gewalt ausgetragen werden darf, wird er, solange es geht, verinnerlicht.
Schon Norbert Elias, der bedeutende Theoretiker der westlichen Zivilisation – sein Werk Über den Prozess der Zivilisation (1939, 1949) gilt als Klassiker der Soziologie –, hatte, von Freud beeinflusst, die These vertreten, dass Fortschritt tiefgreifende Kosten habe. Vor allem muss der äußere Kriegsschauplatz „nach innen“ verlegt werden, in die Psyche des Einzelnen. Dieser darf seine Affekte nicht mehr „unzivilisiert“ ausleben, daher bleibt ihm nur übrig, sich zu beherrschen. Aber andauernde Beherrschung fordert ihren Tribut, wenn sie langwierig und breitflächig praktiziert wird. Es entstehen Neurosen, und am Ende steht womöglich ein psychischer „Zellenknall“, eine mörderische Handlung oder ein Amoklauf. Das gründet wesentlich in der Verdichtung der Umwelt, die uns emotional stresst, mit Hass erfüllt oder unerträglich anödet.
Doch im Unterschied zu Lorenz wusste Elias den grundsätzlichen Beitrag der Kultur besser zu taxieren. Die Kultur, könnte man sagen, ist das gegen den biologischen Druck gerichtete Medium der Entdichtung. Es gibt kulturell eingeschliffene Verfahren, um aus der Enge der menschlichen Begegnungen den emotionalen Druck herauszunehmen, ja ihn erst gar nicht entstehen zu lassen, weil eine bestimmte „Interpretation“ oder symbolische Modulation der Dichte dazu führt, dass sich der Raum, in dem wir leben, erweitert.
Wir alle kennen den Begriff des Respektabstands. Damit ist ein Instrument der sozialen Abstufungsbekundung gemeint. Je höherrangig das Gegenüber ist, umso größer wird der Abstand, den man einhalten sollte, um nicht die Intimsphäre, im Speziellen die Hoheitssphäre des Höhergestellten, zu verletzten. Gleichzeitig ist der Respektabstand auch ein Mittel, um sich durch die Errichtung einer imaginären Mauer andere Subjekte buchstäblich vom Leib zu halten.
In letzter Zeit ist dieses Distanzierungsphänomen häufig in Diskussionen aufgetaucht, bei denen Frauen darüber klagten, dass ihnen ein Mann „zu nahe“ kam, sie also belästigte. Die beschuldigten Männer waren naturgemäß oft gegenteiliger Ansicht, obwohl sie meist die obligaten Worte und Gesten des Bedauerns nachlieferten: Man befand sich abends in einer Bar, man hatte etwas getrunken und die Kombination von Ort, Zeit und Amüsierbetrieb veränderte – aus Sicht der Beschuldigten – die implizite Abstandsregel. Man ging in den Flirtmodus über, eine Methode des „Umschaltens“, derentwegen die Geschlechter sich häufig in die entsprechenden Lokalitäten begeben.
Aufgrund unklarer Benimmpostulate in einer solchen Situation – die Unklarheit dient aber auch dazu, das Aufeinander-Zu, Voneinander-Weg prickelnd, ja erotisierend zu gestalten – kann es zu männlichen Annäherungen kommen, welche unterschiedlich sensibilisierte Frauen fallweise als allzu nahe empfinden, zumal dann, wenn der Mann zum „Grapscher“ wird. Die dadurch schlagartig eintretende Situation der Übernähe führt zu den sattsam bekannten Rhetorikritualen aus Empörung und Anklage auf der einen Seite, Dementi, Beschämung und Zerknirschung wegen ungebührlichen Benehmens auf der anderen.
DAS PARADOX DER ENTDICHTUNG
Die Dialektik von Regeln der Entdichtung und der Zulassung von Nähe („Intimität“) findet sich in fast allen gesellschaftlichen Bereichen, von der Bewegungsfreiheit auf öffentlichen Plätzen über das Hin und Her in Büros bis hinein ins Ehebett. Menschen sind keine Ratten. Es stimmt zwar, dass das Eingeklemmtsein zwischen Fremden eine unangenehme und bisweilen Panik auslösende Erfahrung ist, die in Aggression münden kann – man denke bloß an den voll besetzten Lift, der plötzlich stecken bleibt. Aber das sind eben die Ausnahmen von der Regel.
Ein Mensch, der sich mit mir zusammen in einem engen Raum befindet, muss keinerlei negative Reaktionen auslösen; er sitzt neben mir an seinem Computertisch, ohne dass ich von ihm Kenntnis nehmen müsste. Er ist, zum Beispiel als mein Arbeitskollege, auf eine Weise da, als ob er unsichtbar wäre. Dieser Effekt ist das Ergebnis einer institutionellen Übereinkunft, welche die Präsenz des anderen „depotenziert“, man darf sich nur nicht in die Quere kommen durch Verhaltensweisen, die am Arbeitsplatz unangebracht wären. Ja, es sind gerade die Regeln des korrekten Benehmens (code of conduct, regulatory compliance), die den Raum imaginär erweitern und das räumlich dichte Miteinander der darin befindlichen Personen „entdichten“.
Es gibt nun aber auch ein Paradox der Entdichtung (wenn man hier von einem „Paradox“ sprechen möchte). Überall dort, wo sich in unseren Gesellschaften menschenreiche Orte befinden, besonders in den städtischen Ballungszentren, erzeugt die Institutionalisierung von Regeln, die dabei helfen, Räume zu entdichten, ein dichtes Geflecht an Verhaltens- und Redevorschriften, die ihrerseits irgendwann als beengend empfunden werden. In den letzten Jahren hat dieses Phänomen besonders an den amerikanischen Eliteuniversitäten üppig Blüten getrieben. Um den Studierenden zu helfen, sich „nicht bedrängt zu fühlen“ – und womöglich über Gebühr gestresst zu werden –, wurden im Rahmen der regulatory compliance Regeln eingeführt, die, wie sich bald herausstellte, das genaue Gegenteil bewirkten.
In den Geistes- und Sozialwissenschaften mussten die Lehrenden schon vor Beginn des Kurses bekannt geben, dass in den verwendeten Unterrichtsmaterialien möglicherweise Passagen auftauchten, die einige Teilnehmerinnen oder Teilnehmer belästigen, verstören, ja krankmachen könnten. Außerdem mussten die Lehrenden eine Reihe von sogenannten Trigger-Wörtern vermeiden. Denn solche Wörter, besonders sexuell offensive, könnten – so die zimperliche Sorge – zur Folge haben, dass sich der eine oder die andere aufgrund der Erinnerung an eigene Erlebnisse aufgewühlt und verletzt fühlte. Hinzu kamen alle Ausdrücke oder Redensarten, die der Political Correctness zuwiderliefen. Schließlich wurden auch Ansichten verbannt, die dem angeblich liberalen Lebensstil mit seinen vielen Nichtdiskriminierungsregeln widersprachen.
Was inneren Raum schaffen sollte, um die äußere Enge im multikulturellen System erträglich zu machen, wurde rasch zu einer unerträglichen Zwangsjacke in den Beziehungen zwischen Lehrenden und Schülern, und auch zwischen den Studierenden selbst. Statt zu entdichten, wurde sozial verdichtet, und zwar auf eine widersinnige Weise: Es wurden nicht nur die höchstpersönlichen Sensibilitäten in Höhen geschraubt, wo ein gedeihliches Miteinander bald unmöglich schien, es wurden darüber hinaus der Intoleranz gegenüber abweichenden Gesinnungen und, schlimmer noch, dem Denunziantentum Tür und Tor geöffnet.
Das ganze System der Kontrollen, die dazu dienen sollten, den inneren Raum der jungen Menschen nicht zu beschädigen und außerdem freizuhalten für die Öffnung des Geistes und der Emotionen, machte es schließlich unmöglich, die entscheidende Bewegung gegenüber andrängenden Erlebnissen auszuführen – jene Bewegung, die ein Entkommen aus dem System der „korrekten“ Zwänge bedeutet hätte: sich umzudrehen und wegzugehen.
Denn gerade in einem solchen Verhalten sah die Compliance der angeblich zwanglosen Eingliederung in den Sozialverband das zwanghafte, neurotische und passiv-aggressive Abrücken aus der Gemeinschaft. Da das Universitätssystem auf die „Verflüssigung“ von Zwängen durch diskursive Verfahren normativ ausgerichtet ist, wäre eine Abwendung vom „Diskurs“ zugleich ein Zeichen dafür, dass man die Regeln des Systems ablehnt. Es ist eine besonders repressive Strategie gewissermaßen liberal-geschlossener Institutionen, die womöglich stolz auf ihre lückenlose moralische Strukturierung sind, dass man sich entweder freiwillig und einsichtig den vorgegebenen Sprachregelungen und Verhaltensnormen unterwirft oder als Außenseiter zu erkennen gibt.
Die angesprochenen Szenarien zeigen zweierlei: Erstens, dass die biologische Rattenfabel auf menschliche Gesellschaften nicht zutrifft, sobald in ihnen kulturelle Regeln den Ton angeben, ausgenommen den Fall, wo der kollektive Stress aufgrund innergesellschaftlicher Katastrophen oder von außen eindringender Gefahren zu groß wird. Zweitens, dass das kulturelle Programm der Entdichtung dichter Räume und Verhältnisse in sein Gegenteil umschlagen kann, wenn die Vorsichtsmaßnahmen gegen die aufdringliche und womöglich verstörende Nähe der anderen so engmaschig werden, dass sie schließlich das Gegenteil einer Entdichtung bewirken.
Solche Maßnahmen wirken dann eher wie Fesseln, die nicht nur den Einzelnen binden, sondern außerdem beständig Gefühle der Übervorsicht und des Misstrauens mit all den damit verbundenen Störungen des Zusammenlebens bewirken. Im Rahmen entsprechender Fehlentwicklungen wird jeder Versuch der Abwendung dadurch vereitelt, dass er als ein Akt der Aggression gegenüber der „politisch korrekten“ Gemeinschaft stigmatisiert wird – statt als ein Akt respektiert zu werden, dessen Ziel es ist, sich aus einem wesensmäßig unfriedlichen Feld wegzubewegen.
DER ZWANGLOSE ZWANG
Wer sich der fragwürdigen Gnade der späten Geburt erfreuen durfte – zum Beispiel ich, fünf Jahre nach Ende des letzten Weltkriegs in Österreich geboren und fernerhin dort aufgewachsen –, der wurde mit zwei menschlichen Panzerungen konfrontiert. Die eine Panzerung trug den Namen der „Ideologie“ oder „Weltanschauung“. Die zweite war das Schweigen darüber, was gewesen war.
Auch ich wurde mit diesen Panzerungen konfrontiert, sobald ich einigermaßen imstande war, die politischen Dinge um mich herum als solche zu begreifen. Man hatte eine Weltanschauung oder gar keine, war „neutral“. In jedem Fall blieb einem erspart, mit dem weltanschaulichen Gegner in ein ernsthaftes Gespräch einzutreten. Denn die eigenen Werte, ob sozialistisch, christlich, bürgerlich, nationalistisch oder marktliberal, nicht zuletzt die Desinvolture waren sakrosankt, und zwar schon deshalb, weil sie eingelagert waren in die mächtigen Institutionen, die das Land beherrschten – selbstverständlich nun, nach dem Krieg, unter demokratischem Vorzeichen.
Es gibt sie, die nicht diskursive Demokratie, in ihr bin ich groß geworden. Ihr Stil bestand darin, dass man sich auf Kompromisse einigte, die Sozialpartnerschaft pflegte, einigermaßen tolerant gegeneinander, man hatte ja noch gut die Verheerungen des Freund-Feind-Denkens der Vorkriegszeit in Erinnerung.
Also: Nie wieder?
Aber: Was dann?
Man hielt an der eigenen politischen Überzeugung ungefähr so fest, wie man dem Wetterbericht Glauben schenkte – es würde schon alles einigermaßen passen und verschaffte einem das gute Gefühl, zur neuen demokratischen Ordnung dazuzugehören. Und man gehörte dazu und profitierte davon. Persönliche Freundschaften pufferten politische Feindschaften ab. Das war die eine Seite.
Die andere Seite war eine Art Verschwörung des Schweigens. Was war unter den Nazis wirklich geschehen? Darüber sprach man nicht oder nur stockend. Man gab nicht mehr zu, als man musste. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wollte Österreich von den Nazis „gewaltsam annektiert“ worden sein. Seltsam nur, dass man Menschen traf, die erzählten, und zwar noch nachträglich überwältigt von Nostalgie, wie sie fast in Ohnmacht gefallen wären, als Hitler und seine Truppen in unsere Stadt ein- und an den jubelnden Menschen vorüberzogen.
Nachdem dann, gegen Ende des Krieges, das Bombeninferno der Alliierten Teile der Stadt verwüstet hatte (an ihrem Rand befand sich eine Waffenfabrik) und nun aber ebendiese Alliierten als Befreier Kaffee, Tabak und Schokolade brachten, wollte man schleunigst Hitlers erstes Opfer gewesen sein. Man blieb im Herzen der Finsternis, das in der eigenen Brust schlug, antisemitisch, hatte aber nie etwas von den Abtransporten der jüdischen Mitbürger gewusst, geschweige denn eine Ahnung von den Vernichtungslagern gehabt. Aber auch diese Ahnungslosigkeit wurde nur auf eindringliches Befragen geäußert, das Wesentliche jener Sprache der Verleugnung war das Schweigen.
An der Universität, im philosophischen Seminar, diskutierten wir dann Martin Heideggers Schweigen „auf hohem Niveau“, hatte den epochalen Philosophen doch kein Geringerer als der jüdische Dichter Paul Celan in einem seiner Gedichte um ein befreiendes Wort gebeten. Nichts. Ja, wir Jungen diskutierten, wir wollten verhindern, dass man sich weiterhin abwendete von dem, was im Untergrund vor sich hindämmerte: dieses aus dem Ungeheuer des Kollektivs aufsteigende Ungeheuerliche, der heilsgeschichtliche Ideenfundus des Leviathan, der totalitären Staatsmacht, und jenes andere Ungeheuer, das von Immanuel Kant so benannte „böse Herz“ des Menschen – das Herz, das Freude findet am Bösen an sich.
Wir diskutierten in die Tiefe und in die Breite. Wir wollten das Licht der Aufklärung in die dunklen Ecken unserer Gemeinschaft dringen lassen, um das Verstockte und das Schweigen daraus zu vertreiben. Wir sahen uns umringt von stumm Bestialischem, das in Träumen hing und sich dort forterbte, ohne vorerst an die Oberfläche zu treten. Wir forderten, den Blick von den Tatsachen nicht mehr abzuwenden, und wenn erst die Tatsachen, wie ungeheuerlich auch immer, freigelegt wären, dann auf den zwanglosen Zwang der besseren Argumente zu setzen – ein weitreichender Ausdruck, den der Sozialphilosoph Jürgen Habermas, Schüler von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, den Begründern der neomarxistischen Frankfurter Schule, in Umlauf gebracht hatte.
Wir – oder jedenfalls ich und die, die so ähnlich dachten wie ich – erblickten im „zwanglosen Zwang“ der Vernunft die Lösung der Quadratur des Kommunikationskreises. Argumente und Gegenargumente, nicht Standpunkte, sollten uns auf unserem Weg der Erkenntnissuche und Wahrheitsfindung begleiten. Wir spürten, dass man sich dem guten Argument, das besser war als die eigene Argumentation, nur entziehen konnte, wenn man sich „verhärtete“, und das heißt: gegen besseres Wissen auf der eigenen Position beharrte. Und wir spürten auch, dass in der Vernunft ein Zwang zur Zustimmung lag, der sich von anderen Zwängen, denen man sich nicht entziehen konnte, grundlegend unterschied.
Im Vernunftzwang fielen Zwang und Zustimmung zusammen, der Zwang war also eigentlich kein Zwang, sondern beruhte auf der tatsächlich ungezwungenen, von niemandem erzwungenen Zustimmung zur Wahrheit oder jedenfalls dem, was sich uns nach gründlicher Überlegung, hinter der sich keine unlautere Absicht verbarg, als die Wahrheit nahelegte.
Oft hatte ich in meinen jungen Jahren, im verstockten Angesicht der Ungerührten, womöglich der Täter von einst, das Bedürfnis, mich schreiend umzudrehen und wegzugehen. Eine Abwendungswut wühlte in mir. Aber es ging nicht, das Ungesagte der Davongekommenen ließ es nicht zu, dass ich lockerließ. Ich wollte die Wahrheit, die ganze Wahrheit erfahren, um sie als den Scheiterhaufen aufzuschichten, auf dem die Seelen der Herzlosen brennen sollten.
Und wie ich, so dachten und fühlten viele meiner Generation. Wir waren durch das Schweigen, Verschweigen gebannt. Und weil das Schweigen uns nicht losließ, wurden wir selbst böse, ungefähr so, wie ein zu Unrecht Angeketteter böse wird, der sich in seiner inneren Freiheit durch das Wegschauen der anderen betrogen fühlt. Damit ich frei werden könnte, müssten sich die anderen endlich binden, zu ihrer Schuld stehen oder ihrer Ignoranz oder ihrer Mitleidlosigkeit. Im Rückblick kommt mir vor, so war es: Ob ein Eingeständnis die verstockt Wegschauenden frei machen würde, war mir das Unwichtigste gewesen; das Wichtigste war mir, glaube ich heute zu wissen, selbst endlich dadurch frei zu werden, dass die Verstockten rund um mich gezwungen wären, auf ihre offen vor ihnen liegende, sie anklagende Wahrheit zu starren.
Doch als es dann auch in Österreich endlich so weit war, stellte sich heraus, dass die Beschämung und Verurteilung der Schweiger und Täter keine Befreiung für diejenigen bedeutete, die unentwegt für eine Kultur der Aufarbeitung plädiert hatten. Niemand konnte sich einfach umdrehen und weggehen! Noch immer nicht. Denn im Grunde war nichts ausverhandelt. Die Uneinsichtigen blieben, trotz des Umstandes, dass man sie äußerlich zur Einsicht genötigt hatte, uneinsichtig. Den Herzlosen wuchs kein Herz. Und das gemeinsame Wissen um die Schandtaten von Gestern und Vorgestern machte weder die Opfer lebendig, noch schuf es einen freien Raum jenseits der Unmenschlichkeit.
Gewissheit bedeutete nicht Befreiung. Als die Tatsachen endlich, wie man so sagt, auf dem Tisch lagen, konnte man ihnen nicht einfach den Rücken zuwenden, um sozusagen im Leben weiterzuziehen. Im Gegenteil: Nun war man von dem Ungeheuerlichen der begangenen Untaten erst recht gebannt, Gedenktage und Bedenktage wurden erforderlich, sie wurden zu einer Art Gedenkliturgie, die der steten Erneuerung bedurfte, Jahr um Jahr, auch wenn zum Schluss das Ritual des Ge- und Bedenkens nur noch dazu diente, die Fühllosigkeit zu überdecken, welche in die Generationen der Nachgeborenen einsickerte und sich breitmachte.
Es gab ursprünglich die Hoffnung des Gesprächs, das bald, in gebildeteren Kreisen, zumal in akademischen, als „Diskurs“ firmierte. Eine Wendung setzte sich in den klugen Köpfen fest: „Diskursive Verflüssigung.“ Darin steckte wohl die Hoffnung, dass es möglich sein würde, durch das Mittel einer aufrichtigen, sensiblen Kommunikation den Stein des Bösen, der auf allem lastete, zu erweichen, ihn aufzuweichen, bis er sich wieder ins vorstellbar Menschliche einfügen ließe.
Man konnte all das Schreckliche, das Menschen ihren eigenen Brüdern und Schwestern angetan hatten, nicht wiedergutmachen; aber es würde vielleicht möglich sein, das Nicht-Wiedergutzumachende als solches in unsere Vorstellung von Menschlichkeit einzubeziehen, zu „integrieren“, und zwar dadurch, dass man nicht gelten ließ, dass das absolut Böse im wörtlichen Sinne „absolut“ war. Auch dieses angeblich Absolute war demnach eine menschliche Möglichkeit, aber um dies zu erkennen, mussten alle Humanwissenschaften ihren „diskursiven“ Beitrag leisten, von der Anthropologie bis zur Psychoanalyse.
Adorno gestand ein, dass sein Diktum, es sei nach Auschwitz nicht mehr möglich, ein Gedicht zu schreiben, eine voreilige Abkapselung und Aburteilung gewesen sei. Die philosophische Reflexion musste dieses apodiktische Verbot relativieren, indem sie der Wahrheit des Paul Celan’schen Werks und anderer Rechnung trug. Freilich hatte Adorno einen Vorbehalt angemeldet: Hinkünftig sei Dichtung nur möglich in der Art und Weise, wie der gequälte Mensch nicht umhinkönne, seine Not herauszubrüllen. Gedichte als der wohlartikulierte Schmerzensschrei, das war die Minimalformel, in der das „Schöne“ zugelassen sein sollte. Aber das lag schon außerhalb des Diskurses, der „verflüssigen“ sollte, auch das im Schmerz Unaufgelöste: die vorbegriffliche Körperlichkeit in ihrer äußersten Erniedrigung.
Über Adornos exzentrische Verbotsästhetik war man rasch hinweggegangen innerhalb all jener Institutionen, die das Projekt der Durchdringung des Bösen, der Freund-Feind-Schemata, der historisch gestanzten Grenzen mittels Verstehen und Verständigung, im argumentativen Wechsellauf gegenläufiger Meinungen vorantrieben. Im Diskurs würde sich die Menschheit zur Solidargemeinschaft veredeln, „pazifizieren“, und zwar am Laufband der Argumente, deren Zwang als zwanglos zu gelten hätte. Auf diese Weise müsste es möglich werden, ohne zu verdrängen, sich von der Bannung durch das Böse und die Schuld schrittweise abwenden zu dürfen. Niemand kann schließlich unter der erdrückenden Schmach dessen, was die, im weitesten Sinne, Seinigen getan hatten, auf Dauer existieren, ohne den Ort, an dem man durch kollektive Schuld festgehalten wird, erst recht hassen zu lernen.