Czytaj książkę: «Vorgeschichte des politischen Antisemitismus»
Die im Rahmen des Forschungsprojekts zum Antisemitismus des in die USA emigrierten Instituts für Sozialforschung entstandene geschichtswissenschaftliche Darstellung von Paul W. Massing über die Entstehung des politischen Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich wurde erstmals 1949 in der Reihe Studies in Prejudice unter dem Titel „Rehearsal for Destruction“ veröffentlicht und 1959 in deutscher Übersetzung in der Europäischen Verlagsanstalt.
Das Buch wurde seinerzeit als richtungweisende Pionierstudie gelobt. Ihre Stärke liegt insbesondere darin, dass Massing die Entstehung des Antisemitismus in den politischen Kontext stellt, den Machtverhältnissen der Zeit nachgeht und die sozialen und ökonomischen Bedingungen einbezieht. Die Bedeutung seiner Studie zeigt sich auch darin, dass er herausarbeitet, wie sich das antisemitische Potential von der politischen Bewegung hin zu den Interessenverbänden des Bürgertums und Mittelstands verlagert und wie genau diese sozialen Klassen zu den entscheidenden Akteuren des Antisemitismus wurden.
Paul W. Massing (1902–1979), in der Pfalz geboren, wurde 1933 in Berlin als Kommunist verhaftet. (Über diese Zeit verfasste er unter dem Pseudonym Karl Billinger einen Erfahrungsbericht mit dem Titel „Schutzhäftling Nr. 880“). Nach seiner Entlassung aus dem Konzentrationslager emigrierte er in die USA. Von 1943 bis 1947 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung in New York, 1949 wurde er zum Professor für Soziologie an der Rutgers University, New Jersey, berufen.
Ulrich Wyrwa, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam und fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin.
Paul W. Massing
Vorgeschichte des
politischen Antisemitismus
Herausgegeben und mit einem
Nachwort von Ulrich Wyrwa
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Rehearsal for Destruction« erschienen 1949 bei Harper&Brothers,
New York, in der Reihe Studies in Prejudice, herausgegeben von Max Horkheimer und Samuel H. Flowerman
E-Book (ePub)
© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021
Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign, Berlin
Motiv: Ausschnitt aus ‚Germania rüstet sich zur Weltausstellung in Chicago‘ aus der Satirezeitschrift ‚Der wahre Jacob‘ (1892, Nr. 156)
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)
ePub:
ISBN 978-3-86393-582-5
Auch als gedrucktes Buch erhältlich:
Neuausgabe © CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021
Zu dem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer wurde das Vorwort von Paul W. Massing zur amerikanischen Erstausgabe angefügt.
Ein Nachwort des Herausgebers beschließt die Neuausgabe.
Deutsche Erstausgabe übersetzt und bearbeitet von Felix J. Weil erschien als Band 8 der Reihe des Frankfurter Instituts für Sozialforschung:
© 1959 by Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a.M.
Print: ISBN 978-3-86393-123-0
Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de
Inhalt
VORWORT VON MAX HORKHEIMER UND THEODOR W. ADORNO ZUR DEUTSCHEN ERSTAUSGABE
VORWORT VON PAUL W. MASSING ZUR AMERIKANISCHEN AUSGABE
IDie Liberale Ära (1871–1878)
IIDer christlich-konservative Gegenangriff (1879–1886)
IIIKonservativer Staat und soziale Demagogie
IVStoeckers Niedergang (1886–1890)
VDie Ära Caprivi (1890–1894)
VIDie völkische Bewegung
VIIZur Charakteristik des völkischen Antisemitismus
VIIIDer Niedergang des politischen Antisemitismus
IXNationale Sammlung und Antisemitismus
XDer Standpunkt der Sozialisten
XIMarxistische Politik
EXKURS: Der Fall Franz Mehring
XIIDie Sozialdemokratische Partei in der Ära des Imperialismus (1895–1914)
Eine Zusammenfassung
ANMERKUNGEN
REGISTER
NACHWORT ZUR NEUAUFLAGE VON ULRICH WYRWA
ANMERKUNGEN ZUM NACHWORT
Vorwort von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zur deutschen Erstausgabe
Mit dem Werk von Paul Massing über den politischen Antisemitismus im Kaiserreich bringen die »Frankfurter Beiträge zur Soziologie« erstmals eine Studie, die während der Emigrationsjahre im Institut für Sozialforschung an der Columbia-Universität zu New York entstand. Das Original erschien unter dem Titel »Rehearsal for Destruction« im Rahmen der »Studies in Prejudice«, die Max Horkheimer und Samuel Flowerman herausgaben. Dem American Jewish Committee, dessen Forschungsabtei lung damals mit dem Institut aufs engste zusammenarbeitete, ist für die Bewilligung des Drucks der deutschen Fassung zu danken. Ergänzt wird das Buch durch die hier entstandene soziologische Dissertation von Eleonore Sterling, welche die Vorgeschichte des deutschen politischen Antisemitismus noch weiter zurückverfolgt, bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Sie wurde im Verlag Chr. Kaiser, München 1956, unter dem Titel »Er ist wie du« veröffentlicht.
Zur Publikation des Massingschen Werkes bewog uns indessen nicht nur der Wunsch, die Kontinuität zwischen der amerikanischen Produktion des Instituts und seinen Forschungen in Deutschland seit 1950 hervorzuheben. Es dünkte uns an der Zeit, daß Untersuchungen, die sich auf spezifisch deutsches Material bezogen und die einem so zentralen Komplex wie der Vorgeschichte des Antisemitismus gelten, auch in Deutschland bekannt werden. Ohne Einsicht in diesen Komplex bliebe das Verständnis des kaum Vergangenen verbaut. Die Abwehr der Erinnerung an das Unsägliche, was geschah, bedient sich eben der Motive, welche es bereiten halfen.
Wahr ist, daß die Gabe der Erinnerung in der rasch sich ändernden Gesellschaft unter dem Zwang, zeitgemäßere Fähigkeiten zu entfalten, sich zurückbildet. Die Reflexion der Völker auf ihre Geschichte ist seit je der herrschenden Richtung gefolgt; heute bleibt ihnen zu solcher Reflexion keine Zeit. Ohne lohnende Funktion im Zweckzusammenhang der Gegenwart hat Vergangenheit, private wie historisch relevante, wenig Aussicht, im Bewußtsein zu erscheinen, sie ist »past history«, totes Kapital. Um Zinsen zu tragen, müßte es als Element sozialer Integration, als Instrument der Ausrichtung brauchbar, zumindest für einen Augenblick politisch passend sein. Das ist die Aussicht der Ermordeten, im Bewußtsein wieder aufzustehen, seien es Polen, Juden, Deutsche oder wer je in der Geschichte Freiwild war. Seit den ersten Nachkriegsjahren hat die Chance der geopferten Juden auf solches Eingedenken in Europa abgenommen und ist auf die Wenigen angewiesen, deren Wille zur richtigen Zukunft mit der Absage an die Wiederholung sich die Analyse des Vergangenen auferlegt. Massings Buch kann ihnen eine Hilfe sein.
Soweit heute auf den finstersten Aspekt des Nationalsozialismus, den mörderischen Rassenwahn, in Deutschland reflektiert wird, stellt er zumal dem traditionalistischen Kulturglauben als eine von außen bereitete Katastrophe sich dar; als wäre Hitler wie ein Dschingis Khan in das Weimarer Deutschland eingebrochen und hätte ein Fremdes, gänzlich Unvorhersehbares verübt. Noch die entsetzte Rede von dämonischen Kräften dient insgeheim der Apologie: was irrationalen Ursprungs sein soll, wird der rationalen Durchdringung entzogen und zu einem schlechterdings Hinzunehmenden magisiert. Denkt man an Wurzeln des totalitären Antisemitismus, so sind intellektuelle Wortführer wie Langbehn, Lagarde, Gobineau, allenfalls Chamberlain, das Wagnerische Bayreuth, schließlich Lanz von Liebenfels gemeint; selten die eigentlich politisch-soziale Sphäre. So kulturfremd nun aber auch in der Tat Hitler sich ausnimmt, so tief reichen doch die geschichtlichen Ursprünge seiner Untat. Sie stecken keineswegs bloß in den Theoremen einiger paranoider Querköpfe.
In den ersten Hetzblättchen aus den Tagen des Fries und jenes Jahn, der heute bei den Fronvögten der Ostzone in hohen Ehren steht, war schon der totalitäre Antisemitismus angelegt; schon ihre Sprache wollte auf den Mord hinaus, und auch Schichten, die sich als Elite oder als Fortgeschrittene fühlten, waren, wie in Massings Buch sich zeigt, nicht gegen jenes Potential gefeit. Es überlebt, und darum ist die Analyse des Antisemitismus heute, da er nach der Ausrottung der Juden nicht gar zu offen sich vorwagt, so dringlich wie je – und die Bedingungen für ihre Aufnahme mögen günstiger sein, als wenn offener Haß die Regung der Vernunft überschreit.
Keineswegs ist der totalitäre Antisemitismus ein spezifisch deutsches Phänomen. Versuche, ihn aus einer so fragwürdigen Entität wie dem Nationalcharakter, dem armseligen Abhub dessen, was einmal Volksgeist hieß, abzuleiten, verharmlosen das zu begreifende Unbegreifliche. Das wissenschaftliche Bewußtsein darf sich nicht dabei bescheiden, das Rätsel der antisemitischen Irrationalität auf eine selber irrationale Formel zu bringen. Sondern das Rätsel verlangt nach seiner gesellschaftlichen Auflösung, und die ist in der Sphäre nationaler Besonderheiten unmöglich. In der Tat verdankt der totalitäre Antisemitismus seine deutschen Triumphe einer sozialen und ökonomischen Konstellation, keineswegs den Eigenschaften oder der Haltung eines Volkes, das von sich aus, spontan, vielleicht weniger Rassenhaß aufbrachte als jene zivilisierten Länder, die ihre Juden schon vor Jahrhunderten vertrieben oder ausgerottet hatten. In der von Massing behandelten Periode war der Antisemitismus in Frankreich – dem der Dreyfus-Affaire und Drumonts – kaum weniger virulent.
Wer den totalitären Antisemitismus begreifen will, sollte sich nicht dazu verleiten lassen, dessen Erklärung einer gleichsam naturgegebenen Notwendigkeit gleichzustellen. Wohl sieht retrospektiv alles so aus, als hätte es so kommen müssen und nicht anders sein können. Man wird unter den Berühmten der deutschen Vergangenheit bis hinauf zu Kant und Goethe nur wenige nennen können, die von judenfeindlichen Regungen ganz frei waren. Aber indem man auf solche Universalität insistiert und die Fatalität des Geschehenen im Begriff nochmals wiederholt, macht man sie in gewissem Sinn sich selbst zu eigen. Den Spuren des heraufdämmernden Verhängnisses in der deutschen Vergangenheit ist allerorten auch deren Gegenteil gesellt, und die Weisheit, ex post facto zu dekretieren, was von vornherein das Stärkere gewesen sei, macht es sich allzu leicht, indem sie das Wirkliche als das allein Mögliche unterstellt. In Frankreich hatten einige der tapfersten Dreyfusards, wie Zola und Anatole France, in ihre Romane zuweilen Darstellungen von Juden eingefügt, die jenen Klischees ähneln, gegen deren Konsequenz sie sich einsetzten. Zur Erfahrung von Geschichte gehört auch das Bewußtsein des Nichtaufgehenden, Diffusen, Vieldeutigen.
Hier vielleicht trägt Massings Buch Entscheidendes bei. Es hilft, den Knoten des Zufälligen und Notwendigen, auf selber rationale Weise, zu entwirren. Während er das amorphe, immer gegenwärtige, aber auch nie ganz wahre Potential des Judenhasses in den Bevölkerungen visiert, ohne doch daraus die Katastrophe abzuleiten, trifft seine Forschung den Bereich, an dem sich erkennen läßt, warum jenes Potential sich durchsetzte. Er zeigt an den geschichtlichen Tatsachen mit großer Evidenz, daß im Bismarckschen Deutschland der Antisemitismus politisch manipuliert und, je nach der Forderung des Tages der damaligen Interessen, an- und abgestellt wurde. Jene spontanen Volkserhebungen des Dritten Reiches, die auf ein Signal wohlorganisiert aufflammten, haben ihre Vorform in den Bewegungen der Stoecker und Ahlwardt, über die man opportunistisch verfügte, und die man mit vornehm-konservativem Gestus ebensogut zur Ruhe und Ordnung verhalten wie gegen die Sozialdemokratie loslassen konnte. Ohne daß die Rezeptivität der Masse für derlei Reize verkannt würde, ist doch zugleich auch ihr Maß an Schuld relativiert: die nach Opfern schreien, offenbaren sich als Opfer selber, als von der politischen Macht hin- und hergeschobene Schachfiguren. Der Antisemitismus hat seine Basis in objektiven gesellschaftlichen Verhältnissen ebenso wie in Bewußtsein und Unbewußtsein der Massen. Aber er aktualisiert sich als Mittel der Politik: als eines der Integration auseinanderweisender Gruppeninteressen; als die kürzeste und ungefährlichste Art, von einer Lebensnot abzulenken, zu deren Beseitigung andere Mittel verfügbar wären.
Massing bleibt nicht bei dieser generellen These stehen; er behauptet sie nicht einmal. Aber an dem Material, das er in minutiöser soziologischer und historischer Arbeit zusammengebracht hat, leuchtet sie ein. Besonnene wissenschaftliche Objektivität läßt hinter sich, was irgend die polemische Phantasie auszumalen vermöchte.
Ganz besonderer Dank gebührt Dr. Felix J. Weil, dem treuen Freund des Instituts, dem es sein Dasein verdankt. Er hat nicht nur Massings Text ins Deutsche übersetzt, sondern unermüdlich an der Vorbereitung der Publikation mitgewirkt.
Frankfurt am Main
Sommer 1959
Max Horkheimer
Theodor W. Adorno
Vorwort von Paul W. Massing zur amerikanischen Ausgabe
Die vorliegende Studie befasst sich mit den historischen Vorläufern des nationalsozialistischen Antisemitismus im kaiserlichen Deutschland in der Zeit zwischen der Emanzipation der deutschen Juden und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Damit soll ein Beitrag zum Verständnis der politischen Entwicklungen geleistet werden, die schließlich im Massenmord an den Juden als Teil der deutschen nationalen Politik gipfelten. Indem wir uns auf die politischen Aspekte des Antisemitismus im deutschen Kaiserreich, auf Machtprobleme, Gruppenprivilegien und Gruppenantagonismen konzentrieren, hoffen wir auch, das Verständnis des modernen Antisemitismus generell zu fördern.
Politischer Antisemitismus ist nicht an nationale Grenzen gebunden, dennoch nimmt er seine spezifischen Züge aus einem bestimmten nationalen Umfeld. Diese Studie zum politischen Antisemitismus im kaiserlichen Deutschland umfasst daher ein weites Feld, es reicht von den politischen Parteien, über religiöse und berufsständische Organisationen, die Regierung und Opposition bis hin zu Individuen und gesellschaftlichen Gruppen. Die Behandlung des Themas in einem so breiten Rahmen bringt erhebliche Schwierigkeiten bei der Auswahl und Bewertung mit sich. Es besteht die Gefahr, zu wenig und zu viel zu geben. Das komplexe historische Bild kann leicht verzerrt werden, wenn die Aufmerksamkeit auf ein einziges seiner Merkmale gerichtet wird. Es gab nicht nur Antisemitismus in Deutschland. Darüber hinaus mussten bedeutende und positive Phasen des intellektuellen, kulturellen und sogar politischen Lebens in Deutschland vernachlässigt oder ganz ausgelassen werden, wenn sie keinen Bezug zum spezifischen Problem zu haben schienen; es wurde nicht versucht, eine umfassende Darstellung der Zeit zu geben. Andererseits ist das Phänomen derart, dass es nicht aus dem gesellschaftspolitischen Gefüge des deutschen Lebens herausgelöst werden kann. Das Verständnis des deutschen Antisemitismus erfordert ein Verständnis der deutschen Gesellschaft.
Das moderne Deutschland war nie in der Lage, eine bürgerliche Gesellschaft nach dem Vorbild des westlichen Liberalismus zu entwickeln. Die Tatsache, dass Deutschland nie einen radikalen Bruch mit seiner feudalen Vergangenheit vollzog, war der wichtigste Einzelfaktor, der den Verlauf seiner Geschichte bestimmte. Lange nachdem England und Frankreich nationale Einheit, demokratische Regierungen und imperiale Besitzungen erreicht hatten, lange nachdem das Bürgertum zum Zentrum des kulturellen und wirtschaftlichen Lebens dieser Länder geworden war, blieb Deutschland wirtschaftlich rückständig und politisch unterentwickelt, mit einem Bürgertum, das zu schwach war, die Macht zu übernehmen und die Nation neu zu gestalten, wie es das französische und englische Bürgertum getan hatte. Während der gesamten Existenz des kaiserlichen Deutschlands blieben die alten aristokratischen Kreise an der Macht. Im Kampf um den Erhalt ihrer Position erhielten sie Unterstützung von den großen vorbürgerlichen Schichten zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft, die die deutsche Soziologie gewöhnlich als den alten Mittelstand bezeichnet. Die alten aristokratischen Machthaber und der alte Mittelstand teilten eine Antipathie gegen den vom Bürgertum geförderten Liberalismus, und alle diese Schichten zusammen teilten die Angst vor dem Aufstieg der Arbeiterschaft. Der Antisemitismus wurde Teil der daraus resultierenden gesellschaftspolitischen Konstellation.
In der Geschichte des Antisemitismus in Deutschland vermischen sich daher auf merkwürdige Weise Elemente der Reaktion im herkömmlichen Sinne des Wortes mit Elementen der sozialen Rebellion. Die nationalistische Verherrlichung der deutschen Vergangenheit und die Ablehnung der „erwerbsorientierten“ oft als jüdisch stigmatisierten westlichen Gesellschaft1 sind mit dem Antisemitismus als Manifestation des gesellschaftlichen Protests verbunden. Bereits in der Zeit der preußischen ‚Befreiungskriege' gegen Napoleon wurde der Judenhass mit Idealen von Freiheit und Unabhängigkeit verbunden. Mit der demokratischen Revolution von 1848 kam es zum Aufflammen eines populären Antisemitismus.2 Ein Flugblatt, das damals in Baden kursierte, verkündete als Ziele der Revolution die Vernichtung der Aristokratie, die Vertreibung der Juden aus Deutschland, die Absetzung aller Könige, Herzöge und Fürsten und die Ermordung aller Regierungsbeamten. Es erklärte, dass „Deutschland ein Freistaat wie Amerika werden“ muss.3
Nicht selten fanden die Einebnung von Schlössern und die Plünderung von jüdischen Häusern gemeinsam statt. In den 1880er Jahren organisierte ein Sozialreformer die hessischen Bauern auf der Basis von Antisemitismus und ländlichen Genossenschaften, und in den 1890er Jahren trugen antisemitische Agitatoren den Kampf gegen den Landadel in das Territorium der Junker.
Die doppelte Natur des Antisemitismus als politisches Mittel und als verworrener Ausdruck sozialen Protests mag einige der populären Missverständnisse über seine Rolle in der modernen deutschen Geschichte erklären. Die herrschenden Gruppen haben das Instrument nicht ununterbrochen eingesetzt. Es gab Zeiten, in denen sie, und mit ihnen die Mehrheit des deutschen Volkes, die Judenhetze als unverantwortlich und ungehobelt ansahen und ihren Protest gegen die Verfolgung der Juden in anderen europäischen Ländern zum Ausdruck brachten. In den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg war der organisierte Antisemitismus in Deutschland auf dem Rückzug. Die Erinnerung an diese Jahre hat den Irrglauben begünstigt, dass der deutsche Antisemitismus vor dem Aufstieg der NS-Bewegung vernachlässigbar war. Tatsache ist, dass es in Deutschland Bewegungen gab, die den Kampf gegen Juden zum Hauptbestandteil ihrer Aktivitäten machten, lange bevor Hitler an die Macht kam. Gemessen an der Zahl ihrer Anhänger, ihrer organisatorischen Stärke oder ihrer politischen Vertretung erreichten die Antisemiten vor Hitler jedoch nie den Status großer politischer Parteien. Aber ihre Bedeutung kann nicht allein nach solchen Kriterien beurteilt werden. Sie hielten den Antisemitismus in der deutschen Kultur lebendig und verbreiteten ihn. Sie formulierten die rassistische Ideologie lange vor der Entstehung des Nationalsozialismus und halfen, den Weg für eine politische Allianz gesellschaftlicher Kräfte zu ebnen, die sich als tödlich für die deutsche Republik und katastrophal für die Welt erwies.
Dass der Antisemitismus zeitweise so unverkennbar eine Manifestation des sozialen Protests war, führte zu einer weiteren falschen Einschätzung seiner möglichen Funktion. Noch im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts waren liberale Historiker und sozialistische Autoren davon überzeugt, dass antisemitische Agitation nichts anders könne, als die politischen Interessen schlummernder gesellschaftlicher Gruppen zu wecken, die sich, einmal zum politischen Denken erweckt, bald den Kräften des Fortschritts anschließen würden. Die Auswirkungen der jüngsten Geschichte sollten die letzten Reste solcher Illusionen vertrieben haben.
Allerdings könnte das Pendel wieder zu weit ausgeschlagen haben. Die Ereignisse des letzten Jahrzehnts haben den Glauben bestärkt, Deutschland sei ein Einzelfall. Das war es sicherlich. Aber wir würden die Theorien der Nationalsozialisten über den deutschen ‚Volksgeist‘ ernster nehmen, als diese es selbst taten, wenn wir den Antisemitismus auf einen angeborenen deutschen Charakter zurückführen würden. Die Nationalsozialisten sahen an dem ‚einheimischen‘ Produkt genügend Möglichkeiten es zu exportieren.
Genauso wie der Antisemitismus eines Individuums komplexeste psychologische Funktionen haben kann, kann der politische Antisemitismus in einer Vielzahl von Konfliktsituationen dienen. Die Geschichte zeigt, wie er in der einen oder anderen Zeit von klerikal-feudalen Interessen gegen den säkularen Liberalismus, von Regierungen gegen die Opposition, von der Reaktion gegen die Arbeiterschaft, von imperialistischen Kräften gegen die Völker begehrter Gebiete oder auch vom nationalistischen Widerstand gegen ausländische Interventionen eingesetzt wurde. Aber die Geschichte zeigt auch die Kräfte, die sich ihm widersetzten, und die Umstände, die sein Wachstum behinderten. Jede fruchtbare Analyse des Phänomens muss daher konkret und sensibel für seine vielfältigen und oft widersprüchlichen Erscheinungsformen sein.
Das vorliegende Buch habe ich als Mitglied des Institute of Social Research, New York, geschrieben, und ich bin dem Direktor des Instituts, Dr. Max Horkheimer, zu großem Dank verpflichtet, der die Idee dazu hatte und mich während der gesamten Zeit des Schreibens beriet. Andere Mitglieder des Instituts, Dr. Leo Löwenthal, Dr. Friedrich Pollock, Dr. Felix J. Weil und Dr. Karl A. Wittfogel, haben das Manuskript in verschiedenen Stadien der Fertigstellung gelesen, und ich habe mich frei auf ihr Wissen und ihre Erfahrung gestützt. Dr. A. R. L. Gurland hat mir mit seiner strengen und konstruktiven Kritik sehr geholfen. Mit einem besonderen Gefühl der Verpflichtung danke ich Herrn Georg Fuchs für seine unermüdliche Hilfe. Seine Kenntnisse der deutschen Gesellschaft und Politik und seine Leidenschaft für das Verständnis der Entwicklung der jüngsten deutschen Geschichte waren eine ständige Quelle der Inspiration. Dr. John Slawson, Executive Vice-President des American Jewish Committee, und Dr. Samuel H. Flowerman, Direktor der wissenschaftlichen Abteilung des Komitees, bin ich dankbar, dass sie viel Geduld mit dem Zaudern des Autors gezeigt haben. Es ist mir ein Anliegen, auch Frau Lore Kapp und Frau Nina Rubinstein für die Unterstützung bei der Recherche und Frau Edith Kriss für die Vorbereitung des Manuskripts meinen Dank auszusprechen. Die Herren Herbert und William Poster bearbeiteten das Manuskript. Herr John I. Shields erstellte den Index. Herr Heinz Norden übersetzte die Dokumente I-XI und Frau Fiorella Haas vom American Jewish Committee das Dokument XII. Ich möchte ihnen allen für ihre Hilfe danken.
Paul W. Massing
Rutgers University
New Brunswick, New Jersey
15. September 1949
Aus dem Amerikanischen
von Ulrich Wyrwa
1Johann Gottlieb Fichte, Der geschlossene Handelsstaat, Tübingen 1800, S. 286: „Sie erfreut mehr die List des Erstrebens, als die Sicherheit des Besitzes. Diese sind es, die unablässig nach Freiheit rufen, nach Freiheit des Handels und Erwerbes, Freiheit von Aufsicht und Polizei, Freiheit von aller Ordnung und Sitte.“
2Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte, 12 Bde., Berlin 1920–1922, Bd. 10, S. 481.
3Veit Valentin, Geschichte des Deutschen Revolution von 1848–1849, 2 Bde., Berlin 1930, Bd. 1, S. 344–5.