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Paul Stefan Wolff

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(12 liebe und witzige Kurzgeschichten ergeben einen Liebesroman)

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Inhaltsverzeichnis

Titel

(1) Das Wunder in der Fürther Straße

(2) Hannah

(3) Dürer, die Socken und das Provinzieren

(4) Gozo

(5) Von Rosen und Kartoffeln

(6) Die These

(7) Der Ball hinter dem Tresen

(8) Nur eine kurze Geschichte

(9) Verschwende dein Leben

(10) Vier Weihnachtsfeiern

(11) Rezept zum Glücklichsein

(12) Die Hochzeitszerstörerin

Impressum neobooks

(1) Das Wunder in der Fürther Straße

Ein Liebesroman, humorig oder nicht, sollte mit einer lieben Geschichte beginnen...

Es gibt so viele Wunder auf dieser Welt. Es kommt nur darauf an, sie zu sehen.

Es war wie an dem Tag, als ich mit Ohrhörer und einem Musikplayer spazieren gegangen war und dann kam mir eine Frau entgegen, und sie hatte auch Kopfhörer in den Ohren. Und dann auf einmal fängt sie halblaut an, ein Lied zu singen, dass ich auch gehört habe. Und zwar genau an der gleichen Stelle. Ich stutzte und blieb stehen und hörte genau hin. Und sie blieb auch stehen und sah mich an und sie lächelte, nein, nicht einfach lächeln, sie schenkte mir das umwerfendste Lächeln des noch jungen Jahres im Singen und ging hoch, weil sie offenbar vor ihrer Haustür angekommen war und ging hoch und für mich ist das wie ein Wunder. Ich habe mich nicht getraut, sie anzusprechen, war sowieso auf dem Weg in ein schnuckliges kleines Restaurant.

Was diese Begebenheit angeht, so wird sich sicher einer finden der sagt, das ist kein Wunder. Ich hatte nämlich einen Radioempfangsgerät und sie vielleicht auch hörte den gleichen Sender wie die Frau, die gesungen hat. Aber für mich ist das ein Wunder.

In dieses Restaurant kam ich immer von meiner Arbeit bei der Programmierung. Was ist öder, als die Steuererklärung zu machen? Nun? Es ist die Programmierung für die Steuererklärung! Das ist mein Job. Ich programmiere Computer für Steuersoftware. Den ganzen Tag habe ich dieses Logo der Firma vor mir. Und ich kann es nicht mehr sehen.

Wenn ich einen Job in der Schreibgeräteindustrie hätte! Ein Freund entwickelt da Schreibgeräte. Das wäre mal ein interessanter Job, Schreibgeräte zu entwickeln für Liebende, die sich Briefe schreiben. Oder wenn ich Kindersitz-Verkäufer wäre. Kinder in die Sitze heben und sehen, wie sie sich freuen, wenn der Sitz passt. Aber stattdessen habe ich Nachkommastellenprobleme für die Steuererklärung.

Und nach der Arbeit noch was essen, ich wollte besser essen als nur einen Döner. Und so landete ich immer in dieser Kneipe, jeden Mittwoch.

Mittwoch ist Mitte der Woche, da kriege ich immer meine Angst vor einem weiteren Wochenende ohne eine Freundin. Ein Gefühl, als würde man mit einem Billigticket in eine fremde Kleinstadt gefahren ist, nur um umzusteigen. Und dann steht man alleine am Bahnhof und muss eine Stunde warten und man wird das Gefühl nicht los, wenn jetzt etwas Dummes passiert, hocke ich hier mitten im Nirgendwo und komme die nächsten sieben Jahre nicht mehr fort. Dieses Mittwoch-Gefühl ist der Grund, warum die Leute ausgehungert am Donnerstag schon wie die Wilden herum baggern.

Mittwoch, das ist aber auch der Tag vor dem Donnerstag, und Donnerstag kommen die neuen Filme ins Kino. Also kommt noch die Angst dazu, dass der Film vielleicht abgesetzt wird, den man unbedingt noch sehen wollte. Diese Kombination habe ich dann gemacht, der „schlechter Film“-Mittwoch wird zum Film-Mittwoch.

Kino. Kino, das sind große Bilder, große Emotionen, ganz große Entscheidungen. Kino ist „Casablanca“, King Kong oder Hannibal Lecter oder der ultimative Kuss im Regen am Ende einer Liebeskomödie. Der Siegeszug des Kinos, der Filme allgemein, hat meiner Meinung nach seinen Grund im Siegeszug des Fließbands. Öde Arbeit gegen Unterhaltsamkeit.

Nach dem Essen also ins Kino, und da sah ich sie. An der Schlange vor der Kasse hätte ich sie dann ansprechen können, habe ich aber nicht. Ich sah immer nur ihren Nacken. Hab sie dann verloren und bin ins Kino rein. Und freute mich auf den Film und das große Sich-Verlieren in der Spannung, und das alles passiert, wenn es dunkel wird. Und da sah ich sie wieder. Ich konnte nur ihren wunderschönen Nacken betrachten. In der Reihe vor mir hatte ein Pärchen angefangen zu fummeln. Naja, und diese aufgeheizte Situation rechts vorne und sie links davon, ich wurde fast wahnsinnig.

Den Nacken betrachten, das ist das Symbol für den Schüchternen. Der sich nicht traut, vor die Frau zu treten, ihr ins Gesicht zu sehen. Nacken betrachten ist der Blick des Feiglings. Aber nicht nur. Denn mit das Schönste am Nackenblick ist der, dass er unverstellt ist. Die Frau verstellt sich nicht und man kann ihr Körpergefühl am Nackenblick erkennen. Sind es eher plötzliche, ungelenke Bewegungen? Oder ist da eine Feinheit, eine Zartfühligkeit, sind das gleitende Bewegungen? Wenn man den voyeuristischen Blick vertieft, ist der Nacken rasiert? Wenn sie lange Haare hat, dann kann man an der Art, wie sie ab und zu die Haare zurückwirft das Gleiche erkennen. Wie sie sich durch die Haare fährt. Oder wie sie sich das Oberteil zurechtrückt. Wie die Haltung ist, wenn sie vielleicht ihre Arme vorne verschränkt. Man erhält einen unverstellten Blick auf ihre Neugier – was erregt sie, wie reagiert sie darauf – wenn sie zur Seite schaut, weil etwas ihre Aufmerksamkeit erregt hat.

Und dann passierte das, weswegen ich eigentlich ins Kino gekommen war: der Film packte mich. Ich war wie benebelt, weil sie sich doch ebenfalls diesen Film ausgesucht hatte – und was für ein Film! Ich war gleich doppelt verliebt, in ihren Geschmack und in ihren Nacken.

Für mich war das ein Wunder, das Wunder im Kino. Ja, Zyniker werden sagen, sie haben noch ganz andere Frauen NICHT gekriegt und dass es manchmal normal ist, dass man sich in jede verliebt, die den Weg entlang kommt. Aber ich denke, das ist ein Wunder.

Ich habe, als die Lichter wieder angingen, mit dem Handy ein Foto geschossen, von ihrem Nacken. Ich entschuldige mich dafür, aber vom Nacken kann man ja kaum auf die Person schließen. Was die Pointe ist für das, was im Folgenden passieren sollte. Das habe ich dann in meiner Arbeit auf den PC hochgeladen und es immer wieder angesehen. Und dann mailt ein Kerl aus der EDV-Abteilung mein Nacken-Foto an alle im Haus, an mehr als fünftausend Mitarbeiter, mit der Frage: Wer kennt diesen Nacken?

Ich bin der Gag der Woche. Ich bin im Eimer. Ich bin inmitten eines schlechten Films und in diesem Film sagt mir King Kong, ich hätte sie mir einfach schnappen sollen und küssen. Und Bogart sagt nichts, er trinkt nur und raucht.

Und ich hasse das Rauchen, aber wann immer ich aufhören will, fragt mich Bogart, was willst du dann in diesen Situationen machen, die Gott zwischen Mann und Frau hinein GEPFROPFT hat, in denen man einfach trinken und rauchen muss – oder irgendwas.

Mist! Ich hätte damals Popcorn kaufen sollen und mich wie zufällig zu ihr setzen, ihr davon anbieten. Warum fallen einem die guten Ideen immer erst hinterher ein? Warum? Ich hätte im Büro sagen sollen, ich betrachte lieber Nacken, weil ein weibliches Gesicht nur lächelnd wirklich schön ist. Einmal Bogie sein, einmal nur schlagfertig. Einmal King Kong sein, nur einmal ein richtiger Mann.

Und dann bin ich wieder in dieses Restaurant, ich hatte mal wieder Kinoabend gemacht, und da stand sie. Sie war hier Bedienung, ich fragte, wo die andere sei und sie antwortete, sie musste einspringen. Ich war ganz begeistert, trank mehr Bier als üblich, ich wartete und es wurde später und später. Bei dem vierten Bier fiel mir auf, dass der voyeuristische Blick auf eine Bedienung ähnlich der auf dem Nacken ist. Nur mit dem Unterschied, dass die Frau im Restaurant das weiß. Der Nackenblick ist von daher unfairer. Auch weil der Blick auf die Vorderseite in ihrer Kontrolle liegt, sie kann den Anblick selber prüfen und gestalten. Der Blick auf den Rücken gar, wird von Modemachern bislang nur sehr stiefmütterlich behandelt, allenfalls ein paar T-Shirts gibt es, wie der mit der Vorderseite: „Jesus loves you“ und dann auf der Rückseite „But for everybody else you’re an asshole.“ Was den Hinterrücks-Gedanken auf die Spitze treibt. Beim fünften Bier überlegte ich mir Sprüche für T-Shirts. Vorderseite ein Bandname, vielleicht Linkin Park. Und auf der Rückseite: „That’s a band. Music, you understand?“ Oder auch Vorderseite: „Das ist die Rückseite des T-Shirts“ und die Rückseite: „Der Morgen war net so toll.“ Vielleicht noch Vorderseite: „Party hard“, Rückseite: „Morning hard“.

 

Oder für die Leute, die von hinten einen zuerst sehen. Rückseite: „Ich habe es mir verdient, vor dir zu sein.“ Und dann die Vorderseite: „Ich kann es mir auch leisten, dich vorzulassen.“ Oder für Frauen, Rückseite: „Erinnere dich, mir zuerst in die Augen zu sehen.“ Und dann Vorderseite: „So vergesslich?“

So verging der Abend und ich hatte etwas Beschäftigung gefunden, um nicht zu viel zu trinken. Bis wir dann alleine waren und sie legte schließlich Salsa-Musik auf und ich, heiter von dem Bier, ging mit dem Kopf immer wieder mit. Und dann lächelte sie mich an. Ich bin, einem inneren Impuls folgend, sofort aufgestanden und bin zu ihr und habe sie zum Tanz aufgefordert, ich kannte zufällig ein paar Schritte. Und da haben wir auf den kleinen paar Quadratmetern Salsa getanzt, zwei Lieder lang. Und am Ende des Salsas, ich hatte bereits gezahlt, habe ich mich bedankt und bin zur Tür hinaus nach Hause.

Und zwar ganz beglückt, denn für mich ist das ein Wunder gewesen, das Wunder in der Fürther Straße. Es wird sich sicher jemand finden, der sagt, dass die Bedienung an jenem Abend wohl einfach für den nächsten Salsa-Tanzkurstermin üben wollte und sicher ihr Tanzpartner krank war, was im Nachhinein richtig ist. Aber für mich ist das ein Wunder.

Es ist wie mit den zwei Weingläsern. Die Sache ist die, dass wenn man zwei Gläser Wein hat, einen Rotwein und einen Weißwein mit genau der gleichen Menge Inhalt. Und wenn man nun von, sagen wir, Rotwein eine bestimmte Menge, in das Weißweinglas gibt und umrührt, dann ergibt das eine bestimmte Rosemischung. Und wenn man nun von dieser Rosemischung nun genau die gleiche Menge wie zuvor in das Rotweinglas zurückkippt, dann stellt sich die Frage, von welchem Wein ist in welchem Glas mehr drin. Ist mehr Rotwein in dem Weißweinglas drin oder mehr Weißwein in dem Rotweinglas? Die Antwort ist, genau die gleiche Mischung. Es ist genauso viel Weißwein im Rotweinglas, wie Rotwein im Weißweinglas. Das ist ein Mischungsgesetz, wird einer von euch sagen. Aber für mich ist das ein Wunder.

Denn ich denke, das alles sind Wunder. Ich bin halt mehr der Typ, der sagt, das sind Wunder. Und ich denke, dass solche Wunder überall passieren und dass sie das Leben schöner machen, wenn man sie denn als solche wahrnimmt.

So habe ich Hannah kennen gelernt.

(2) Hannah

Das Leben ist der Ernstfall, sagt man. Jeder Tag sei wertvoll, jede Sekunde hätte das Potenzial zu einer großen Stunde. Das hört sich gut an, hat nur einen Haken, für die meisten Tage trifft es schlicht nicht zu. Ich sitze in einer Bar, ich habe mich in die Bedienung namens Hannah verguckt und rein theoretisch könnte heute der Wendepunkt sein, aber weil ich außer dem „Hallo“ nichts sage, stehen die Chancen schlecht. Wir haben einen guten Anfang gehabt, aber der ist abgeflacht, besser: ich habe ihn abflachen lassen.

Ich glaube, im Leben gibt es nur zwei Arten von Liebesgeschichten. Diejenigen, bei denen man auf dem Sterbebett denkt, die Geschichte war ein Fehler. Und die, bei denen man denkt, nicht mehr daraus gemacht zu haben war der Fehler. Ich muss an einen Freund denken, der vor einer Prüfung an seinem Schreibtisch Zettel angebracht hatte in der Art von: „Du schaffst es!“ und „Lernen ist die Erfolgsformel jeder Prüfung!“ und er beklagte sich, dass ein Zettel fehlte, der mit der Aufschrift: „Fang endlich an!“

Es fing vor zwei Monaten an, ich habe einer Frau, deren Foto ich auf einer Partnervermittlungsseite im Internet gesehen habe, eine Mail geschrieben, sie indes hat nicht geantwortet. Vor einem Monat dann ging mein Computer kaputt und ich vermisste meine Musik, meine Geschichten, meine Emails, ich vermisste mein Leben. Wenn dein Leben weg ist, suche dir ein Neues also ging ich ins Restaurant und da kam die Geschichte ins Rollen. Tausend Sonnen gingen auf, tausend Stürme erstarben, tausend Blumen sprossen, tausend Tauben flogen auf, tausend Herzen lächelten, ich war überwältigt von fünftausend Gründen, die Klappe zu halten. Aber auch jetzt war es nicht besser, denn was sollte ich groß sagen? Was ist ein guter Anmachspruch für eine Bedienung? Darf ich mal dein Tablett tragen?

Als ich am nächsten Tag einen neuen Computer hatte, war er mir völlig gleich.

Mittlerweile haben wir schon geredet und ich weiß viel und nichts über sie, aber ganz sicher weiß ich, dass es mir gefallen würde, um die vier Mal die Woche ihr Lächeln zu sehen. Und noch eines weiß ich, es würde mir gefallen, jeden Mittwoch in der Kneipe darauf zu warten, dass sie mit dem Arbeiten fertig ist.

Ein Mann spricht mich an und fragt, warum ich die Bedienung anstarre. Ich habe keine Freundin, antworte ich. Wie lange, fragt er. Zwei Jahre. Dummkopf, sagt er, pass bloß auf, dass dir Hannah nicht zum Füllwort für deine unerfüllten Wünsche wird. Ich nicke, und wieso Dummkopf? Weil du aus Dummheit auf die schönen Seiten von Beziehungen verzichtest. Mich hat keine genommen, sage ich. Und wie viele hast du nicht genommen, fragt er. Was? Meine Exfreundin hat mir etwas beigebracht, sagt er, sie nahm immer den besten, der sich für sie interessiert hat. Und was ist der beste, frage ich. Der Versuch, mich in ein philosophisches Gespräch zu verwickeln klappt nicht, beschied er mir. Du sollst dich lediglich an deinem realistischen Marktwert orientieren, nicht an Hätte-gern-Puzzle-Frauen. Frauen kann man nicht backen, aber lieben kann man sie schon, wird er nun doch philosophisch. Die Bedienung ist reine Wunschprojektion. Du bist der Eingeborene, der über ihre kleinen Gaben, ihren Glasperlen, furchtbar in Aufregung gerät und es wird der Anfang einer Eroberung sein, die in Armut und Depression endet.

Sag mir, sagte er, bist du depressiv über diese Geschichte. Ich schluckte trocken und er wandte sich ab. Und dann dreht er sich noch einmal um und sagte: ich hatte große Probleme, weil ich meine Idealfrau gesucht habe für den, der ich hätte sein wollen. Jetzt habe ich die Frau für den, der ich wirklich realistisch geworden bin.

Er geht und ich überlege. Es ist nicht nur ihr atemberaubendes Aussehen. Es sind die Zwischentöne, die ein Kunststück schreiben; es sind die Untertöne, die ein Meisterwerk vollbringen. Hannah ist am meisten Hannah, wenn sie nicht funktioniert. Es ist ihr stummes Fluchen, wenn die Gäste im Weg stehen, das mich an ihr fasziniert. Hannah, würde ich dein Bier erkennen, wenn man mir während eines Stromausfalls drei frisch Gezapfte hinstellen würde? Wenn man mir drei Schmerzmittel hinstellen würde, würde ich Hannah Plus C erkennen? Die Antwort ist Ja. Denn ja, ich habe im letzten Monat drei Frauen kennen gelernt und ja, Hannah, bei Stromausfall bist du mein Schmerzmittel Nr. 1.

Mit wachsendem Alter sieht man die Dinge nicht mehr unvoreingenommen. Wie viel Platz habe ich Hannah für ihre Persönlichkeit übrig gelassen und wie viel ist Projektion? Und wie viel davon Bier? Und vor allem, wie viel von dem Bier ist negativ? Ich habe mal gelesen, dass ein Magier einem Samen den zukünftigen Baum ansieht; wie viel von meinem Bier könnte Hannah sein und noch werden, wenn sie selber noch nicht von ihrem erreichten Alter voreingenommen wäre? Trinken wir uns jemanden nur schön, weil wir zu alt geworden sind, ihn schön zu sehen? Man sagt, Besoffene und Kinder haben einen Schutzengel, warum eigentlich? Ein Sturzbesoffener hört sich an wie ein Kind, fühlt sich unschlagbar und wirft sich neugierig jedem sofort an den Hals oder, je nach dem wie die Kindheit war, er wird aggressiv. Die Antwort ist einfach, wir trinken uns jung, wir trinken uns unvoreingenommen und neugierig, wir trinken die Verantwortung des Alters weg. Ich ging nach Hause und murmelte lange vor mich hin in Babysprache: Ata, ata, Hannah.

Am nächsten Mittwoch war ich sehr nervös. Das Leben ist der Ernstfall, sagte ich mir immer wieder, denn heute ist der große Tag, heute werde ich ihr meine Gefühle gestehen. Zum Konzentrieren ohrfeigte ich mich kurz vor dem Rausgehen drei Mal. Das erste Mal war zaghaft, das zweite Mal schon besser. Die dritte Ohrfeige schallte wie der Gong zur ersten Kampfrunde. Nur wie? Das Bier ist halb leer, ich winke sie zu mir und versuche es mit Ehrlichkeit: Ich will dich sofort, hier! Sie lächelt mich an, nickt und antwortet durch den großen Lärm: Ok, noch ein Bier.

Das war natürlich nur leichter Delirium.

Ich gehe zur Bar mit der festen Überzeugung, mich theatralisch auf die Theke zu schwingen und drei oder vier Salti zu schlagen, um dann direkt vor ihr mit einer Rose zwischen den Zähnen zu landen und dann oscarreif zu sagen: Diese Rose geht an dich, für die schönste Bedienung nördlich der Pegnitz und östlich des Mississippi. Sie überreicht mir ein Bier, setzt ihr schönstes Trinkgeldlächeln auf, ich schmelze dahin und denke mir oscarreif: Diesen Preis verdanke ich meinen Eltern, meinem Agenten und meiner Produktionsfirma, die mich allesamt immer und zu jeder Zeit - in den Alkoholismus hineingetrieben haben.

Ich setze mich wieder hin und gieße dieses zarte Pflänzchen, das bei aufopferungsvoller Pflege und steter Hingabe in nicht allzu ferner Zeit ein stattlicher Suff werden soll. Ich bin auf dem besten Wege, denn ich ertappe mich dabei, dass ich meine Nasenhaare rupfe, um das „Sie liebt mich - Sie liebt mich nicht“ - Spiel zu spielen. Ich bin gerade bei der zuversichtlichen Etappe, als sie mich dabei ertappt, ich ziehe so abrupt die Hand aus der Nase, dass ich dabei das Bierglas umschmeiße. Aber ich bin schnell genug, es aufzufangen und dann sehe ich zum ersten Mal Hannahs Version eines anerkennenden Gesichtsausdrucks.

Hannah ist Leben. Ich sehe sie an und frage mich, wie viele Anläufe die Welt gebraucht hat, um so ein perfektes Wesen zu erschaffen. In diesem Moment dreht sie sich um, schenkt mir ein Lächeln und ich finde, es muss ein glückliches Universum sein, so einen Menschen zu beherbergen. Wie schwer ist es für das Universum, Atome so zu ballen, dass Materie entsteht? Nicht schwer, es ist Anziehungskraft. Aber wie selten passiert es, dass ein Sonnensystem entsteht, wo im günstigen Abstand zur Sonne Wasser nicht verdampft und nicht zu Eis wird, sondern den flüssigen Aggregatszustand beibehält und so sich bewegende Mehrzeller ermöglicht, die dann das Wasser verlassen, das bewusste Denken lernen und als Spitze der Evolution schließlich zu lieben lernen. Es fing alles mit der Anziehungskraft an, alles fängt mit der Anziehungskraft an und geht den beschwerlichen Weg der Rückschläge und endet nur äußerst manchmal in Liebe.

Dieser Gedanke raubte mir Verständnis für Zeit und Raum und plötzlich fand ich mich am Stammtisch der Bedienungen wieder. Hannah hatte einen Ramazotti Sour, während Tina einen Wein trank und mich aufforderte, etwas zu sagen. Ich fragte: Lust auf ein Wortspiel? Sie nickten und ich legte los: Welche kanadische Stadt möchte man zum Fünf-Uhr-Tee nicht missen? Die Antwort ist: Quebec. Sie grinsten und für einen Moment gehörte ich zur Mannschaft dazu. Ich hätte platzen können vor Stolz. Und dann sagte Hannah, der wäre so lala.

Eine Freundin von mir, sagte nun Hannah, hatte eine typisch weibliche Erbkrankheit, nämlich Gluten-Unverträglichkeit. Gluten, das ist eine Eiweiß-Sorte, die in Getreide vorkommt. Da vieles mit Zutaten daraus gemacht wird, artet das übel aus, man kann auswärts fast nichts essen. Und dann hat sie einen Typen kennen gelernt und war unsicher, ob er sie wirklich möge. Sie bezeichnete ihn als Pizza, die ihr sehr schmecke, ihr aber nicht gut tun würde. Und dann überrascht er sie, er wusste, dass sie Pizza mag, mit einer aus Pizzateig ohne Gluten. Auf die Idee war noch keiner ihrer Exfreunde gekommen und so war sie von da an richtig von ihm begeistert. Hannah sieht uns an, dieser Typ hatte sich ernsthaft Gedanken gemacht und ihr einen Herzenswunsch erfüllt. Das ist toll an Männern, sagte Tina nickend und Hannah nickte mit.

In all den Zeiten, in denen ich Single war und bin und mich fragte, was ich alles tun müsste, um eine Freundin zu bekommen, wäre ich nie darauf gekommen, dass alles, was mich in den Augen einer Frau zu etwas Besonderen machen könnte unter Umständen nichts anderes sei, als der Kauf eines Pizzabodens. Vergiss den täglichen Blumenstrauß, sagte ich mir, das wöchentliche Liebesgedicht ist es nicht, nicht die spontanen Einkaufsausflüge nach London. Der Kauf eines Pizzabodens, nicht mehr. Hannah, was ist für Dich besonders? Ich würde dir ganze glutenfreie Tortenböden kaufen, cholesterinfreie Margarine und zuckerfreie Bonbons. Noch mehr, ich würde dir sogar holzfreies Papier und filterlose Zigaretten kaufen und ja, mein Herz, ich würde es wirklich tun, sogar koffeinfreies Cola light. Du Hannah, du Spitze der Nahrungskette, du.

 

Tina geht Gläser einsammeln und ich weiß, jetzt ist der Moment. Ich atme drei Mal tief durch, ich checke gedanklich die 7 besten Varianten, entscheide mich für die Überraschung, ich hole tief Luft und springe auf. Da kommt Tina mit dem vollen Tablett vorbei, sie reißt das Tablett nach oben und schreit laut auf.

Das Tablett kracht auf den Boden, Tina kniet sich instinktiv hin und versucht, sich den linken Arm mit dem Rechten zu schützen. Hannah sieht sich den Arm an und fragt, ob das schon öfters passiert sei. Ja, ächzt Tina, sie habe eine zu flache Gelenkpfanne. Hannah geht hinter den Tresen, sie holt ein paar Putzlappen darauf wird der Arm aufgestützt und mit gekonnten Griffen wieder eingerenkt. Zerknirscht beschließe ich zu gehen. Ich höre noch, dass sich Hannah für ihre Tat mit einer Extraportion Erdbeereis belohnen wird und dann ist alles klar.

Beim Bezahlen fällt mir ein Zettel aus der Brieftasche heraus, es ist meine „Ich liebe dich“-Sammlung. „Aischte imasu“ Japanisch, das geht einem doch recht schnell über die Lippen. Wobei „Neo reul sa rang hae“ südkoreanisch und „Lei lei tirk sika palalo“ auf philippinisch einen doch subtil daran erinnern, es nicht allzu beiläufig auszusprechen. Und - wir reden immer noch von einer zärtlichen Ansprache bei Kerzenschein und sanfter Musik, auf Finnisch: „Minä rakastan sinua“. Ich denke mir, wenn sie „Ich liebe dich“ so aussprechen, dann möchte ich nicht wissen, wie sie ein Todesurteil aussprechen. Bei: „Haluatko vaimokseni“, immer noch finnisch, wird es ernst, gerade muss ich daran denken, denn es ist ein Heiratsantrag und eine Frau, die sogar einen Arm wieder einrenken kann, wollte ich immer schon haben. Ich wollte schon immer eine Frau, die vor nichts außer Erdbeereis in die Knie geht.

Das war nicht immer so. Früher wollte ich gebraucht werden, aber mittlerweile bin ich selbstbewusster, weil reifer. Das Pochen auf Halbwissen ist ein Symptom, das man nur hat, wenn man das Wesentliche des Menschen nicht erkannt hat, nämlich die Beschränktheit, die Unvollkommenheit, die Verurteilung zum langsamen Verfall, kurz: die Krankheit. Und deshalb glaube ich, dass man den inneren Reifungsprozess ganz einfach messen kann, und zwar an der Anzahl der Ärzte, die man schon gesehen hat. Zweifelsohne ist Krankheit und sind Ärzte eine alterstypische Erscheinung. Kieferorthopäden zum Beispiel sind typische Teenager-Ärzte, während Schönheitschirurgen vorwiegend im mittleren Alter vorkommen und Angiologen, also Gefäßchirurgen und Rheumatologen erst viel später kommen, von Gerontologen ganz zu schweigen.

Während ich diesen Gedanken nachhänge, suche ich gerade eine Wohnung und ich muss verblüfft feststellen, dass Wohnungen ähnlich sind. Vorgestern betrat ich eine, die eindeutig einen Phonetiker benötigte, die Technosounds vom Nachbarn war nicht mehr normal. Es folgte eine Dachwohnung, die einen Orthopäden bräuchte, die Stützwände waren morsch und eine, die ob der Ungeziefer einen Tierarzt bräuchte, wenn nicht gar einen Seuchenexperten vom Institut für tropische Krankheiten. Mit dem Besuch einer Wohnung, die geradezu um einen Urologen bettelte, beendete ich meine Suche einstweilen und sah ein, dass ich so bald kein Glück haben sollte.

Ich hatte am nächsten Mittwoch mein Kommen in die Kneipe bei Hannah bereits am Nachmittag angekündigt, ich hielt das Speiseeis in der Tasche umklammert, während ich mit dem Plastiklöffelchen spielte. Als ich am Eingang plötzlich meine Exfreundin Andrea anstarrte.

Nun ja, ich habe es versucht, aber die Andrea, die ich jetzt in den Armen hielt, bestand selbst nach drei Wangenküssen und zwei In-die-Luft-Hebern darauf, Gudrun zu heißen. Ich ging zum Tresen weiter, ich versuchte, mich die restlichen zwei Meter über zu normalisieren, da stürmte auch schon eine Frau mit einem breiten Lächeln auf mich zu, klopfte mir auf die Schulter und verkündete hoch erfreut, dass sie sich tierisch freue, mich zu sehen und dass ich sie doch habe anrufen sollen, ich Schelm.

Ich bin die Katrin, sagte sie und als wir uns die Hände schüttelten, sollte ich noch mehr stutzen, denn da kam Hannah, die mir mit einem „Du Schuft“ ein Glas Wasser über den Kopf schüttete, ehe sie wieder hinter dem Tresen ging. Das ist einer der Momente, da hätte ich gern ein Foto von meinem Gesichtsausdruck. Die Frauen lachten laut los, was mein Verdutzen noch verstärkte und dann sagte ich zu Hannah, dass sie mir glauben müsse, zwischen uns sei nie etwas gelaufen. Ich kannte Katrin bis heute gar nicht, sagte ich eilig. Und dass sie die Einzige wäre, die ich haben wolle.

Schlagartig hörten beide auf zu lachen, Hannah schaute mich überrascht und ernst an und sagte, dass sie einen Freund hätte. Katrin störte eilig die Schweigepause und klärte mich auf, Hannah habe ihr erzählt, dass ich eine Wohnung suche und nun wollte sie mich kennen lernen, da sie einen Mitbewohner suche. Sie hätten sich gerade über Männer unterhalten und über Sachen, die selten vorkommen, als ich hereinkam und die falsche Andrea umarmte. Das habe sie total albern gefunden und sogleich beschlossen, mich so auf die Probe zu stellen, ob wir zusammenpassen würden.

In diesem Moment sieht sie zu ihrer Hose herunter. Ich tue das gleiche und entdecke, dass die Umarmungen das Eis zerdrückt haben, Katrin fragt, was das sei und ich antworte niedergeschlagen, es sei Erdbeereis. Hannah kommt zum Tisch, sie legt mir ein Bier hin und lächelt mich an, das sei ausgegeben.