Geschichten aus Nian

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Z serii: NIAN-ZYKLUS #3
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Geschichten aus Nian
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Inhaltsverzeichnis

Atalan

Die Ankunft

Vision

Kippstadt

Die Kneipe

Galdauer Land

Kachler

Auf ins Ungewisse

Neuer Kamerad

Erster Kontakt

Orkusritt

Ein Hinweis

Offenlegung

Der zweite Teil der Botschaft

Im Galopp

Die große Frage

Erntekommando

Arndthausen

Über die Grenze

Nachtlicht

Die Teefrau

Eingeholt

Das Geheimnis

Die Nachbarin

Urlich

Flucht

Am Ziel

Im Lichte der Zeit

Ins Mittelland

Flussabwärts

Wassermeditation

Abgefangen

Reiter

Das Leben danach

Geschwister

Die Gemeinschaft des Waldes

Neubeginn

Ausblicke

Rückblick

Geschichten aus Nian

Atalan

Paul M. Belt




Atalan


© Copyright 2019 Hunter Verlag

Verlagsauflage 1

Lektorat: Cornelia Schrudde, Kreuztal

Grafische Innengestaltung: Marion Marchewka

Umschlaggestaltung: Hunter Verlag

Satz & Layout: Hunter Verlag

Verlag: Hunter Verlag, Kiel, Deliusstr.

Printed in Germany

ISBN: 978-3-947086-58-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Reihe:

»Geschichten aus Nian«

Band 1:

Lindenreiter

Band 2:

Landwandlerin

Band 3:

Atalan

Band 4:

Erzbrenner

Band 5:

Der Keysor

Band 6:

Selinqua Baruka

Band 7:

Licht


Allen Kleinen und Großen,

Kämpfern und Träumern

sowie allen Wesen,

die ihren inneren Reichtum kennen

oder erkennen wollen


Nicht nur der Schreiber ist ein Künstler.

Beim Lesen malt jedermann Bilder in seiner Vorstellung,

die schöner sein können als Gemälde aus Farbe.

Beide, Leser und Schriftschaffer,

haben in gleicher Weise am Werk teil.

(Dila Jalobak, Erste Wandlerin und Märensammlerin aus Bursiga)

Atalan

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Vorwort

„Unsere Gesellschaft basiert auf dem Versuch des Verstandes, die Angst vor Pein und dem Verschwinden der Existenz zu überwinden. Dies ist aber nicht möglich, da diese Angst aus ebendemselben entspringt, denn er vergeht zusammen mit dem Körper. Abhilfe schafft nur, hinter die Illusion der Knappheit, des Mangels zu blicken, sich seines innewohnenden Reichtums bewusst zu werden. Anders kann keine Gesellschaft bestehen.“

(K. N. Murthy, atalanischer Philosoph aus Feste des Lichts, 512 n.Z.)


Die Ankunft

Gelangweilt saß der Fischer am Pier, schwang seine Angel und schaute hinaus aufs Meer. Gähnend langsam tröpfelte die Zeit dahin, das Knurren seines Magens wurde allmählich unerträglich. Während er auf einen anbeißenden Fisch wartete, ließ er seine Gedanken schweifen. Einst hatten hier prachtvolle Schiffe gelegen, die Waren aus aller Welt herbeigebracht hatten. Reichtümer waren aus vielen Ländern hereingeströmt, und „Feste des Lichts“, wie die Stadt einst genannt worden war, war das Zentrum atalanischer Kultur gewesen. Nun aber war alles verfallen. Keine goldenen Abzeichen prangten mehr an den Piers der verschiedenen Hafenbecken, die prachtvollen Wachttürme an den Flanken des Seehafens waren bereits seit Jahrzehnten eingestürzt.

Verächtlich spuckte der Fischer ins Wasser. Was für eine Ironie! In Hülle und Fülle war das Leben einst mit Musikdarbietungen, poetischen Lesungen und Theatervorführungen durch die Stadt geschwappt. Eitel Sonnenschein hätte es bleiben können, doch dann hatte es begonnen. Was genau, hatte wohl niemand so richtig verstanden, nur als es fortgeschritten war, waren nach und nach die fröhlichen Klänge verschwunden. Mehr und mehr andere Mieter waren in die bunt geschmückten Kunstläden und Ausstellungsgebäude am Hafenkai gekommen, innerhalb weniger Jahre hatten sich hier eine Spelunke an die andere und ein Vergnügungslokal an das nächste gereiht. Man hatte immer mehr für benötigte Dinge bezahlen müssen, denn „von nichts kommt nichts“, so war bereits kleinen Kindern erzählt worden. Weniger und weniger hatte man für seine Yoros, die Währung dieser Zeit, bekommen. Und nun saß er hier im Hafen von Kippstadt, wie sie nun genannt wurde, und war dazu gezwungen, im einstigen Zentrum der Kultur und des Reichtums sein kärgliches Mahl aus dem Meer zu ziehen, wie es vor Tausenden von Jahren schon seine Vorfahren getan hatten.

Erneut warf er seine Angel aus und verfolgte, wie der Köder mit dem Haken und dem Schwimmer in hohem Bogen weit hinaus ins ehemalige Hafenbecken flog. Langsam senkte er sich hinab und landete platschend auf dem Wasser. Gerade wollte der Fischer seine Augen abwenden, als er plötzlich stutzte.

Etwas kam über das Meer. Klein, wackelig und behelfsmäßig aus dünnen Stämmen zusammengezimmert trieb es auf der Wasseroberfläche, die trotz des leichten Windes wie üblich kaum Wellen schlug. Ein kleines Segel, kaum einen Meter hoch, an einem kurzen, notdürftig befestigten Mast war der einzige Antrieb dieses winzigen Floßes. Und darauf saß ein einzelner, in eine verschlissene Kampfuniform gehüllter Mann.


Der Fischer erhob sich, kniff die Augen zusammen und musterte das Floß, bis es ein wenig näher an den ehemaligen Pier herangetrieben war. Dann fing er an zu lachen. Er lachte dermaßen, dass er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte und fast vom Pier gefallen wäre. Er lachte ein lautes, höhnisches, schadenfrohes Lachen, welches weithin hörbar von den Kaimauern widerhallte. Als er sich einige Zeit später wieder gefangen hatte, stieß er spöttisch und mit lauter Stimme hervor: „So also sieht der Stolz der siegreichen Armee von Urgalan aus! Darf ich mich vor Ihnen verneigen, Heerführer?“

 

Der Krieger auf dem Floß indes sah den Fischer an und verzog keine Miene. Das ging ja schneller als erwartet. Das, genau das war die Ursache für ziemlich alles, was er in seinem Leben erlebt hatte, bevor seine letzte Fahrt abrupt geendet hatte.

Der Westwind hatte sein Floß über das Meer zurück zu dem Hafen geführt, von welchem aus die Flotte vor einigen Tagen gestartet war. Es war zwischen den Wracks Hunderter Invasionsschiffe hindurchgeschlüpft, über denen ein unaussprechlich stilles Schweigen gelegen hatte. Was für ein Unterschied zu dem Gebrüll und dem vorzeitigen Siegestaumel der Armee, als deren Mitglied er aufgebrochen war, um eine „todsichere Aufgabe“ zu erledigen. Von blühenden Landschaften war die Rede gewesen, die man problemlos einnehmen könne, da von den dort lebenden Zwergen kein Widerstand zu erwarten sei. Wesentlich leichter als die Einnahme Atalans habe es werden sollen. Die entsandten Späher und Herolde hatten ohne Schwierigkeiten ihre Aufgabe verrichtet, rechtlich gesehen gehörte das Land bereits Kraton dem Edlen, Urgalans König.

War er, der Speerschleuderer und Keulenkämpfer Martin Darian Kalder, wirklich der Einzige gewesen, der die leisen Zweifel an diesem Vorhaben nicht aus seinem Sinn hatte verbannen können? Auf Schiffen waren Hunderte ebenso ungehobelte und grobschlächtige Kerle, wie er einst selbst einer gewesen war, gen Westen gezogen. Sie hatten geprahlt, um den Titel des Stärksten gewetteifert, sich betrunken und sich den Wanst vollgeschlagen. Auf seinem Schiff war er allein damit gewesen, auf der kurzen nächtlichen Überfahrt an der Reling zu stehen, nach den Sternen aufzusehen und sich zu fragen, wohin das alles führe. Solch eine Zurschaustellung von Rohheit wegen eines kleinen Landes mit mittelmäßigem Holzertrag, von dem die Alten berichtet hatten!

Nachdem sie das fremde Ufer erreicht hatten, hatten sich alle Krieger der üblichen ekelhaften Protzerei des Heerführers gegenüber Gegnern anschließen müssen. Sie hatten Lärm gemacht, dass einem die Ohren wehtaten. Dabei hatten dort nur Zwerge am Ufer gestanden. Was für eine niederträchtige Aktion, zweihundertzweiundsiebzig Schiffe gegen diese „Feinde“ zu entsenden! Selbst ein Angriff auf die wenigen schwachen Widerstandsnester in Atalan wäre ehrenhafter gewesen als eine derartige Barbarei. Wie erstaunlich, dass die Zwerge zu Tausenden gekommen waren und laut verkündet hatten, nicht klein beigeben zu wollen! Ein einziger seiner Tritte hätte fünf von ihnen zerschmettern können. Sie hatten immense Furchtlosigkeit bewiesen.

Daraufhin war etwas vollkommen Unerwartetes geschehen. Gellende Schreckensschreie hatten sich hinter ihm erhoben, und während er herumgefahren war, war ihr Schiff bereits dabei gewesen, sich zwanzig Meter weit senkrecht in die Luft zu erheben und sich zu überschlagen. Er war fortgeschleudert worden und durch eine unglaublich riesige Welle hindurchgetaucht. Vermutlich hatte ihn danach eine Ohnmacht ereilt, denn als er wieder zu sich gekommen war, hatte er in flachem Wasser schwer verletzt am fremden Strand gelegen. Zwei Zwerginnen waren gekommen und er hatte befürchtet, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte. Stattdessen war er in einer ihm unbekannten Weise versorgt worden und hatte sich binnen weniger Tage regeneriert. Während dieser Zeit hatten ihm die beiden die Augen geöffnet. Er hatte zugehört, in sein Inneres gesehen und erkannt, wodurch seine Zweifel die ganze Zeit genährt worden waren.

Die Zwerginnen waren sehr um das Wohl des Baumwaldes bemüht gewesen, aus dessen Bruchstämmen er das Floß notdürftig zusammengeschustert hatte. Sie hatten die Bäume sogar gefragt, ob sie das Holz verwenden dürften. Zuerst war er darüber verwundert gewesen, dann aber hatte er gelernt, in sich hineinzufühlen, und verstanden, warum sie dies und anderes taten. Er hatte auch begriffen, warum in Urgalan geschah, was dort geschah. Nun war er auf dem Floß nach einigen Tagen Irrfahrt auf dem Meer wieder zurückgekehrt, um seine Botschaft zu überbringen, selbst wenn es seinen Tod bedeuten würde.

Mit leichtem Knarren des Mastes trieb das Floß am Pier vorbei. Martin lächelte in sich hinein. Wozu sollte er sich mit dem Spott dieses Fischers abgeben? Jedes solche Gespräch wäre unfruchtbar gewesen und hätte die Art von Handlungen genährt, aufgrund derer Urgalan „groß geworden“ war. Diese sogenannte Größe bedeutete aber letztlich nur Unterjochung Anderer und beinhaltete den Zwang, noch größer zu werden. „Was nicht wächst, stirbt“ – nach diesem Motto handelten der König und nahezu alle Menschen in Urgalan. Zu sterben war nicht wünschenswert, die meisten fürchteten sich zumindest unterschwellig davor, daher wurde dieses Prinzip im Kleinen wie im Großen gelebt. Alle hatten sie vergessen, dass Wachstum nichts mit Wegnehmen zu tun hatte, dass nichts ewig wachsen konnte und dass das Sterben ebenso wie das Lieben zum Leben dazugehörte. Dies war der Kern seiner Botschaft. Mit Dankbarkeit und Frieden im Herzen dachte er an die beiden Zwerginnen zurück.

Sein Floß stieß gegen den Hafenkai. Endlich konnte er es verlassen, um wieder fest auf seinen eigenen Beinen zu stehen.

Vision

Ama sah noch lange hinaus aufs Meer, nachdem das Segel bereits weit hinter den metallenen Wracks und dem Horizont verschwunden war. In ihrem Herzen fühlte sie das Licht, welches sie mit diesem empfindsamen Mann geteilt hatte. Wie verzweifelt mussten die Mächtigen der Riesen sein, wenn selbst solche dazu gebracht wurden, für ihr Land und ihren König die Waffen zu erheben! Dieser war von seinem Ursprung her kein Kämpfer gewesen. Ama hatte bereits gefühlt, dass etwas ganz anderes in ihm steckte, als er dem Tode nahe an Land gespült worden war.

Sus trat zu ihr. „Nun ist es geschehen und unsere Botschaft ist auf dem Weg“, sagte sie mit leiser Stimme.

„So ist es, Schwester. Und wir können uns nun um die Angelegenheiten kümmern, die die neue Zeit mit sich bringt“, antwortete Ama sanft.

„Hattest du einen Traum oder eine Vision?“, fragte Sus.

„Beides. Und ich glaube, du teilst sie mit mir. Der Traum zeigte mir zweierlei. Zum einen erscheinen zurzeit Andere überall im Lande: Gleiter, Wandler, unser Federer, womöglich weitere … und auch solche von unserer Art. Zum anderen fürchten viele Menschen das, wofür gerade wir stehen. Ich erkenne diese Furcht vor dem Andersartigen, denn sie ist auch in mir, sonst hätte ich mich nicht Dekazyklen lang zurückgezogen.“

Sus runzelte die Stirn. „Du sagst, dass du Furcht in dir trägst, Schwester? Ich habe seit Zyklen keine in dir erkannt!“

Nun blickte Ama Sus fest in die Augen. „Wir sind alle Lernende. Unsere Furcht darf noch aufgelöst werden. Was uns ansonsten droht, hast du vor wenigen Tagen hier erlebt.“

„Du meinst, wir könnten so handeln wie sie?“, wunderte sich Sus und zeigte nach Osten.

„Wir sind nur in der Größe unserer Körper verschieden“, sagte Ama betont. „Unser Verstand funktioniert auf dieselbe Weise. Denke nur an das, was wir über die Reiter erfahren haben. Sie behaupten, dass nur sie mit Bäumen reden könnten, und hüten viele Geheimnisse, die gar keine sein müssten. Viele haben ihre Wurzeln einem Kult geopfert, der das Herz hinter der Rangfolge verbirgt. Und dieses Verhalten geht auf ihren Nachwuchs über. Aber es basiert nicht etwa auf Ehre, wie gern vorgegeben wird, sondern auf Furcht. Immer wenn sich irgendwo eine Kultur entwickelt, dabei die Existenz von Furcht aber verleugnet oder überdeckt wird, so wird sich diese tarnen und hinter Begriffen wie Disziplin oder Geltung verstecken, bis es irgendwo zu Konflikten kommt und sich das Aufgestaute entlädt.“ Mit Blick nach Osten ergänzte sie: „Und dagegen waren weder die Bewohner Gigantias gefeit, noch sind wir es. Es hat seinen Grund, dass man unsere Ahnen überall im Lande gefürchtet hat.“

Ama machte eine lange Pause. Dies gab Sus die Gelegenheit, das Gehörte noch einmal zu verarbeiten. Oft hatte sie sich mit ihr in den vergangenen Zyklen über solche Dinge unterhalten, jedoch war die neue Zeit da noch nicht angebrochen und vieles hatte Theorie bleiben müssen – bis zum jüngsten Ereignis, durch welches Klarheit in diese Welt hineingebrochen war wie wohl niemals zuvor. Voll Hochachtung sah sie ihre Begleiterin an. Ama war die Ältere, und auch wenn sie sich gegenseitig als gleichgestellte Schwestern wahrnahmen, so hatte Sus doch einen großen Respekt vor ihrer Empfindsamkeit und ihrem Weitblick.

Dann fuhr Ama fort: „Wir können die Unseren finden, selbst wenn sie weithin über das Land verstreut sind und es zunächst nur wenige sein dürften. Wenn wir aber den alten Klan wiedererstehen lassen wollen – und darum ging es in meiner Vision –, so wird dies nur funktionieren, wenn wir unsere Furcht überwinden. Die Zeit ist gekommen, die Hütte zu verlassen und unseren Ängsten ins Angesicht zu blicken. Nur dadurch können sie in allen Menschen aufgelöst werden.“

Sus rieb sich am Kinn. Ihr Gefühl sagte ihr, dass Ama mit jedem einzelnen Wort recht hatte. Die Zeit war also da. Ihr Aufbruch würde viele Vorbereitungen erfordern. Der Osled war kein geeignetes Vehikel, um eine lange Reise quer durch Nian zu unternehmen. Feld- und auch Stein-Ogons gehörten an die Küste und nicht ins Mittel- oder Gebirgsland. Selbst wenn sie sich in den letzten Zyklen stark vermehrt hatten, da die Worger sich aus den nebligen Wiesen der Küste zurückgezogen hatten, wäre es nicht natürlich gewesen, sie als Zugtiere für weite Reisen zu nutzen und aus ihrem Lebensraum zu entfernen. Es musste also ein Wagen beschafft oder gebaut werden, der von einem Lasttier gezogen werden und in welchem man auch übernachten konnte.

Ama lächelte, als sie erspürte, wie praktisch ihre Vertraute das Vorhaben anging. „Schön, dass du bereits planst. Ich werde dir gern dabei helfen, aber verwende nicht zu viel Zeit dafür, über ein fahrendes Heim nachzudenken. In dieser Richtung habe ich bereits etwas im Auge. Als ich neulich im Graswald und auf der Randwiese war, um Kargelkraut und Hailabel-Beeren für unseren großen Gast zu ernten, habe ich etwas gefunden, was unsere Freunde dort offenbar zurücklassen sollten. Für sie war es vermutlich wertlos, weshalb die Große Mutter sie ohne es abreisen ließ. Und sie hat dann meinen Weg dorthin gelenkt.“

„Wovon sprichst du, Schwester?“, fragte Sus mit hochgezogener Augenbraue.

„Folge mir“, erwiderte Ama mit ihrem vielsagenden und zufriedenen Lächeln, welches sie in letzter Zeit so oft zeigen durfte.

Sie schritt mit Sus landeinwärts durch den Küstenwald, dessen herrlicher Pinienduft ihr Herz jedes Mal mit Freude erfüllte. Dies waren wirklich großartige Zeiten. Der Aufbruch aller Seelen im Lande hin zu neuem Bewusstsein hatte begonnen, die alten Regeln und Verhaltensweisen würden hinweggespült werden wie die Riesenschiffe auf dem Meer. Dennoch würde es kein Spaziergang werden. Jedes bedeutende Geschehnis barg die Aussicht, Licht in den Herzen zu erwecken, das zur Erkenntnis und zum Leuchten der Liebe führen, aber ebenso auch die dunklen Bereiche im Innern schonungslos offenlegen konnte. Jeder würde für sich entscheiden dürfen, welchem Weg er folgen wollte. Ganz besonders schwierig würde diese Entscheidung für diejenigen werden, die besondere Fähigkeiten in sich entdeckten. Der Federer war jung gewesen und hatte sich noch nicht tief in das Verstandesgebäude aus Macht, Angst und Schmerz verstrickt, in welchem so viele Wesen gefangen waren. Sein Licht war rein, das eines würdigen Ersten, der diese Bezeichnung nicht als Berechtigung dafür missbrauchen würde, sich über andere zu erheben. Hoffentlich würde auch er die Seinen finden, wenn die Zeit gekommen sein würde, den Klan neu zu gründen.

„Du bist ebenso freudig wie nachdenklich“, ließ sich Sus wieder vernehmen, nachdem sie den Küstenwald verlassen hatten und nun durch den Graswald gingen. „Schön, dass du mich gelehrt hast, in großen Veränderungen immer eine Entwicklungschance und niemals eine Katastrophe zu sehen. Doch bitte teile nun mit mir, wovon du vorhin gesprochen hast. Wohin führst du mich, Schwester?“

 

Statt einer Antwort hielt Ama inne und wies mit dem Arm in die Richtung eines Grasbuschs. Und als Sus ihre Augen zusammenkniff, erkannte sie dahinter die Überreste einer zertrümmerten klassischen nianianischen Fahrhütte.

„Nun benötigen wir nur noch Material für die Reparatur und ein paar Tage Zeit“, meinte Ama l.

Kippstadt

Lange wollte sich Martin hier nicht aufhalten. Außer Ruinen war nicht viel geblieben. Es herrschte Gesetzlosigkeit und die Leute, die nun auf der Suche nach einem besseren Leben im Stadtkern durch die Straßen streiften, waren normalerweise Betrüger, Diebe oder Bandenmitglieder. Da er nichts außer seiner Kleidung mit der Notausrüstung und seinem Leben mit zurückgebracht hatte, brauchte er nichts mitzuschleppen und verließ auf schnellstem Wege den Hafen. Zum Glück war so früh am Morgen auf den trümmerbedeckten Straßen noch nichts los. Urgalanische Krieger waren hier nicht besonders beliebt und wurden, wenn sie nicht in Horden auftraten, gern von den Stadtmeuten als Ziel von Überfällen ausgewählt, und sei es nur, damit deren Mitglieder ihren inneren Hass irgendwohin abladen konnten.

Die zerstörte Ausfallstraße bot einen traurigen Anblick, als Martin sich schnell auf ihr entlangbewegte. Sein Magenknurren war mittlerweile so laut, dass es wahrscheinlich alle Einwohner der Vorstadt hören konnten. Wenn er nicht bald etwas zu essen bekam, würde es ihm schlecht ergehen. Zu trinken gab es in fast allen alten Wasserführungen noch genug. Man musste sich bloß jedes Mal vor den oft in der Nähe ansässigen Meuten in Acht nehmen, die nicht selten ein Paar Stiefel für einen Schluck Wasser verlangten. Zu essen aber würde er nur an einem ihm bekannten Ort in Kippstadt bekommen: in Oskars ehemaligem Gasthaus am Ortsrand in Richtung Galdau. Ehemaliges Gasthaus deshalb, weil es sich inzwischen um nicht mehr als eine heruntergekommene Klitsche handelte, die von seinen verwahrlosten Besuchern beschönigend „Kneipe“ genannt wurde. Sollte er diese ungeschoren erreichen, würde er für eine Mahlzeit allerdings etwas bezahlen müssen.

Gerade hatte er den zweiten Stadtring überquert und lief mit wachen Sinnen im Schatten der Häuser weiter stadtauswärts, als jemand aus einem Hauseingang sprang und sich ihm in den Weg stellte. Es war ein hochgewachsener, schlaksiger Kerl mit wirren roten Haaren in einer abgenutzten Jeanshose und einem löchrigen Pullover, der ihn mit in die Hüften gestemmten Armen grinsend anstarrte. „Wohin soll’s denn so schnell gehen, Urgalane? Hast du deine Kameraden verloren?“ Der drohende Unterton in der Stimme war unüberhörbar, Martin musste also davon ausgehen, dass sich weitere Menschen, möglicherweise mit Bögen oder Steinschleudern bewaffnet, in den umliegenden Ruinen verbargen und nur darauf warteten, dass er etwas Falsches sagte. Er zog es daher vor, zunächst stehen zu bleiben und die Umgebung aufmerksam aus den Augenwinkeln heraus zu beobachten. „Was willst du?“, fragte er kurz und ruhig.

Das Grinsen wurde breiter. „Nun, wie wäre es mit ein paar Münzen oder vielleicht mit etwas zu essen für einen armen, einsamen Mann?“

„Wie du siehst, habe ich nichts dabei“, erwiderte Martin, breitete seine Hände aus und machte vorsichtig zwei Schritte auf den dünnen Burschen zu, dessen Gesicht sich nun verfinsterte.

„So ein Unsinn. Du bist wohlgenährt. Alle urgalanischen Krieger sind das, und alle haben Proviant dabei. Du willst mir doch nicht erzählen, dass dein Offizier dich auf Diät gesetzt hat?“

„Hat er nicht“, sagte Martin immer noch ruhig. Erneut trat er näher an den Dünnen heran.

„Das ist nahe genug“, sagte dieser nun und winkte mit den Händen. Daraufhin sprang aus einem weiteren Hauseingang ein drahtiger, bärtiger Kerl hervor, der einen Stock mit einer daran befestigten Metallkugel schwang. Diesem folgte ein kleiner, gedrungener und kahlköpfiger Typ mit wildem Blick, welcher aussah, als hätte er sein Leben mit ungenehmigten Freistil-Kämpfen zugebracht. Er schlug eine Keule herausfordernd mit dem rechten Arm in seine linke Hand.

Martins Kriegerinstinkte wollten erwachen. Drei Burschen, mehr hatten sie nicht auf dem Kasten? Hätte er seinen Speer noch gehabt, so hätte der Kampf nicht einmal fünf Sekunden gedauert und er wäre über ihre Körper hinweg weiter stadtauswärts geschritten. Aber da war noch etwas anderes. Eine neue Stimme, die in ihm erwacht war und die Kampflust wie auch die nervös gespannten Muskeln beruhigte.

„Es hat keinen Sinn, sich mit mir anzulegen“, sagte Martin ohne ein Anzeichen von Erregung in der Stimme. „Eure Kraft wird sich nur gegen euch selbst richten.“ Damit tat er zwei weitere Schritte auf den Dünnen zu. Dieser schien zu erschrecken, trat einen Schritt zurück, sagte halblaut: „Wie du willst …“ und winkte seinen Kumpanen mit der Hand.

Darauf hatte Martin gewartet. Während er die Gruppe genau beobachtete, sprang er einen Augenblick später unvermittelt nach vorn, so dass er zwischen die beiden Waffenträger geriet, und ging direkt danach in die Hocke. Der Erfolg dieser Strategie blieb nicht aus: Beide hatten sofort mit ihren Waffen ausgeholt, um nach seinem Kopf und Oberkörper zu schlagen. Da dieser aber nicht dort war, wo er hätte sein sollen, trafen Martin weder die Metallkugel noch die Keule, sondern erwischten stattdessen den jeweils gegenüberstehenden Mann. Ächzend gingen die beiden zu Boden. Martin hatte keine Lust, darauf zu warten, bis sich einer von ihnen wieder aufgerappelt hatte. Er stürmte an dem verdatterten Dünnen vorbei, der ihm mit aufgerissenen Augen nachstarrte und murmelte: „So hat man euch das Kämpfen aber nicht beigebracht …“

Nachdem Martin etwa einen halben Kilometer schnell gelaufen war, hielt er inne und kehrte zu seinem alten Bewegungsmuster zurück, vorsichtig und wachsam voranzueilen. Offenbar folgte ihm die kleine Meute nicht, somit war es wahrscheinlich, dass dieses Gebiet bereits von einer anderen Bande beansprucht wurde. Dort hinter der zerstörten Straßenquerung konnte sich jemand verstecken, ebenso wie in dem Kellerloch dort vorn rechts … Martin hoffte, dass er sich nicht überraschen lassen und weiterhin durch Aufmerksamkeit und Wachsamkeit die Kontrolle über seine Reaktionen behalten würde. Vielleicht würde er Glück haben und ohne weiteren Zwischenfall den Ortsrand erreichen.

Auf jeden Fall war schon der erste Versuch, seine Beweglichkeit und seine Reflexe anders einzusetzen als bisher, von Erfolg gekrönt gewesen. Wie hatte die ältere der beiden Zwerginnen, Ama, doch gleich zu ihm gesagt? „Man kann mit Schnelligkeit und Kraft verletzen und Leid bringen, man kann sie aber auch nutzen, um dem anderen die Unsinnigkeit eines Angriffs zu demonstrieren. Der andere spürt dann nur seinen eigenen Schmerz. Wenn noch eine Spur Licht in ihm ist, hat er somit nicht die Gelegenheit, sich gedemütigt zu fühlen und dadurch weitere Angriffe zu rechtfertigen.“ Martin wünschte sich, dass noch eine Spur Licht in allen Menschen sei, während er weiterhin leicht gebückt um Mauerreste und andere Trümmer herum auf dem ehemaligen Bürgersteig lief. Dort vorn, weniger als einen Kilometer entfernt, begannen hinter dem äußeren Ring die Randbezirke Kippstadts, wo es keine Wasserführungen mehr gab und daher auch kaum Meuten hausten. Es würde dann nicht mehr weit bis zu Oskar sein.