Czytaj książkę: «Sohn der Monde - OCIA»
Patricia Rieger
Sohn der Monde OCIA
Erlösung kommt von innen, nicht von außen,
und wird erworben nur und nicht geschenkt.
Sie ist die Kraft des Inneren, die von draußen rückstrahlend deines Schicksals Ströme lenkt.
Was fürchtest du?
Es kann dir nur begegnen,
was dir gemäß und was dir dienlich ist.
Ich weiß den Tag, da du dein Leid wirst segnen,
das dich gelehrt, zu werden was du bist.
Ephides
Für meine beiden Töchter,
die mich gnadenlos von Kapitel zu Kapitel
gehetzt haben, um endlich weiterlesen zu können …
Prolog
Die Erschütterung der Weltengrenzen traf ihn völlig unvorbereitet und riss ihn grob aus seinen Gedanken. Mit einem Knurren fuhr er in die Höhe. Sein Puls raste, sein Mund fühlte sich mit einem Schlag an wie ausgetrocknet und auf seiner Haut spürte er ein unangenehmes Prickeln.
Er würde sich wohl nie daran gewöhnen, egal, wie oft er es in seiner Bestimmung als Wachender noch erleben musste.
Ganz langsam ebbte der merkwürdige Schwindel ab. Zurück blieb ein Gefühl äußerster Dringlichkeit.
Lautlos legte er den Waffengurt um, hüllte sich in seinen Umhang und glitt geschmeidig durch den engen Gang der Gastgrotte an die dunkle Oberfläche dieser kalten Welt. Mit einem schnellen Griff in eine der vielen Taschen seines Umhangs vergewisserte er sich, dass er den für die kommende Aufgabe passenden Übergangsstein bei sich trug.
Verärgert runzelte er die Stirn, was seinem finsteren Gesicht einen noch grimmigeren Ausdruck verlieh. Natürlich hatte dieser Übergang genau in dem Moment stattfinden müssen, in dem er der einzige Wachende war, der zum Schutz dieser Welt abgestellt war. Er musste sich seinen Gegnern also alleine stellen und konnte nur hoffen, dass es sich diesmal um ein entsprechend kleines Rudel handelte.
Er war nun am Ende des Ganges angekommen und eilte durch die Felsspalte in das violette Dämmerlicht, das hier bei Tage herrschte. Seine Schritte verlängerten sich, bis er wie ein riesiger, finsterer Schatten zwischen den tiefschwarzen Baumstämmen hindurchflog. Nach wie vor verursachte er dabei nicht das geringste Geräusch.
Dann hatte er die Lichtung des Mondenkreises erreicht. Der matte Schein der großen, blutroten Sonne spiegelte sich in seinen gelben Augen wider und brachte sie zum Erglühen.
Ohne zu zögern, glitt er zwischen zwei der hohen Steinsäulen hindurch und stellte sich in die Mitte des Kreises. Der Übergangsstein in seiner Hand begann bereits zu vibrieren.
Höchste Eile war geboten. Von seinem Einschreiten hingen Leben ab.
Nie wieder durfte es zu solchen Gräueltaten wie in der Vergangenheit kommen.
1
Es war ein verdammter Fehler gewesen, die Abkürzung durch das Industriegebiet zu nehmen!
Hannah biss die Zähne zusammen und trat kräftiger in die Pedale. Mit durchdringendem Quietschen beschwerte sich das alte Fahrrad ihrer Cousine über diese ungewohnte Behandlung. Das schrille Geräusch brachte Hannahs ohnehin schon angespannte Nerven zum Vibrieren. Und der Umstand, dass jetzt schräg hinter ihr auch noch aufgebrachtes Hundegebell ertönte, trug ebenfalls nicht dazu bei, dass sie sich besser fühlte. Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, was wohl der Grund für das Gebell war. Es war sicher sinnvoller, sich voll und ganz auf ihren Heimweg zu konzentrieren. Sie war hier erst ein einziges Mal zu Beginn ihres Praktikums vor knapp vier Wochen durchgefahren – und im Gegensatz zu heute war es damals hell gewesen.
Nach diesem einen Versuch, ihren täglichen Anfahrtsweg zur Tierklinik ein wenig zu verkürzen, hatte Hannah sich dann entschlossen, das Industriegebiet in Zukunft doch lieber zu meiden und den längeren Weg in Kauf zu nehmen. Schon bei Tage wirkte die Gegend mit ihren unförmigen, hässlichen Gebäuden ziemlich bedrückend auf sie. Doch jetzt in der Nacht fühlte Hannah sich auf unheimliche Weise bedroht – so als werde sie, seit sie in das Industriegebiet eingebogen war, von unsichtbaren Augen verfolgt.
Einige der kastenförmigen Bauten wurden mit grellem, hartem Licht angestrahlt und warfen verzerrte Schatten. Wimpel flatterten leicht im Nachtwind und klapperten gegen ihre Masten. Alles wirkte verlassen und tot. Bei der Vorstellung, sich heute Nacht auch noch in diesem Gewirr aus Hallen und Fabrikgebäuden zu verirren, liefen Hannah eisige Schauer über den Rücken.
Sie kam sich vor, als sei sie die einzige Überlebende in einer trostlosen Welt aus Stahl und Beton. Umso unerklärlicher war daher dieses hartnäckige Gefühl, beobachtet zu werden. Je schneller sie hier durchkam, desto besser.
Wie bin ich bloß auf diese Schnapsidee mit der Abkürzung gekommen? Nach so einem Tag wie heute konnte das ja nur mies laufen!
Sie hatte seit neun Uhr morgens fast pausenlos in der Tierklinik gearbeitet. Eigentlich hätte sie schon vier Stunden früher gehen können, doch dann waren mehrere Notfälle eingeliefert worden und sie hatte es nicht übers Herz gebracht, die Kollegen allein zu lassen. Als einfache Praktikantin konnte sie zwar keine Tiere verarzten, aber wenn es schnell gehen musste, waren die Tierärzte froh darüber, wenn genügend Hilfskräfte zur Hand waren, um die Instrumente zu reichen, sie anschließend zu desinfizieren und die Reste aus Speichel, Blut und Fäkalien wegzuwischen, die bei der Behandlung der Tiere anfielen.
Und jetzt war es beinahe 23:00 Uhr, stockdunkel, und sie war todmüde. So müde, dass sie sich ganz gegen ihren Vorsatz für die Abkürzung durch diese öde Gegend entschieden hatte, nur um zwanzig Minuten früher ins Bett zu kommen.
Um sich etwas von ihrem Unbehagen abzulenken, beschäftigte Hannah sich in Gedanken mit dem kommenden Tag, während sie dem armen Fahrrad weiterhin Höchstleistungen abverlangte.
Da sie das ganze Wochenende durchgearbeitet hatte, hatte sie morgen einen freien Tag. Sie wollte ihn nutzen und erst einmal so richtig ausschlafen – sofern Kilroy das zuließ, was sie stark bezweifelte. Ein schiefes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.
Kilroy war der fette, verwöhnte und sehr selbstbewusste Kater ihrer Cousine, um den Hannah sich für die Dauer ihres Aufenthalts im Haus der Verwandten kümmerte. Er bestand darauf, spätestens um acht Uhr morgens sein Frühstück zu bekommen.
Kilroy war extrem übergewichtig, extrem streitlustig und die meisten Nächte damit beschäftigt, mit allen Katzen im Umkreis von mehreren Kilometern zu raufen. Selbst die Kastration hatte an seiner Vorliebe für Streitereien nichts ändern können. Aus diesem Grund waren Hannahs Verwandte sehr froh darüber, dass sie sich während ihres Urlaubs um den Monsterkater kümmerte, schließlich arbeitete sie in der Tierklinik, wo sie ihn im Notfall problemlos behandeln lassen konnte.
Also hatten sie ein Abkommen getroffen, mit dem alle Beteiligten sehr zufrieden waren. Hannah wohnte in den sechs Wochen ihrer Sommerferien kostenlos in der kleinen Einliegerwohnung im Haus der Verwandten und konnte auf diese Weise ein ausgedehntes Praktikum in der nahe gelegenen Tierklinik machen. Das würde sich für ihre weiteren Zukunftspläne als sehr hilfreich erweisen, denn Hannah wollte im nächsten Jahr nach ihrem Abitur eventuell Tiermedizin studieren. Ihre Cousine konnte währenddessen mit ihrer Familie einen längeren Urlaub genießen, ohne sich allzu große Sorgen um das Wohlbefinden ihres vierbeinigen Lieblings zu machen.
Neues Hundegebell erklang, doch diesmal von vorne, und riss Hannah erneut aus ihren Gedanken. Es steigerte sich jetzt zu einem wahren Höllenlärm. Alarmiert runzelte sie die Stirn. Das hörte sich nicht so an, als würden sich die Hunde nur über eine vorbeistreichende Katze ärgern.
Eine dicke Gänsehaut lief ihr über den Rücken.
Verdammt, genau dort vorne muss ich vorbei. Oder soll ich vielleicht doch lieber wieder umdrehen und den längeren Weg in Kauf nehmen?
In diesem Augenblick verstummte das Gebell schlagartig. Die folgende Stille war fast noch beängstigender.
Okay. Vielleicht ist das ja das Zeichen, dass ich weiterfahren soll, versuchte Hannah, sich selbst Mut zuzusprechen.
Bestimmt war es doch nur eine besonders freche Katze, der die Hunde nachgebellt haben.
So schnell es das alte, klapprige Rad zuließ, radelte Hannah die Straße entlang. Nur noch die nächste Kurve, dann hatte sie das Industriegebiet passiert, das sich direkt an das Wohngebiet anschloss, in dem das Haus ihrer Verwandten stand.
Sie wusste, sie fuhr zu schnell und sie hatte keinen Helm auf, doch der Wunsch, endlich diese unheimliche Gegend zu verlassen, ließ Hannah ganz gegen ihre übliche vernünftige Art jede Vorsicht vergessen. Zu allem Übel erinnerte sie sich ausgerechnet jetzt auch wieder verschwommen an etwas, das ihre Cousine ihr erzählt hatte. Da war es um eine junge Frau gegangen, die vor einigen Jahren in dieser Gegend auf unerklärliche Weise verschwunden war. Bis heute hatte man keine Spur von ihr gefunden.
Dieser Gedanke gab Hannah den Rest. Riskant legte sie sich in die Kurve, als ein kleiner, dunkler Schatten direkt vor ihr über die Straße flitzte. Sie bremste so scharf ab, dass das Hinterrad unter ihr wegdriftete - und landete mit einem unsanften Schlag auf dem Boden.
Benommen richtete sie sich auf. Sie hatte Glück gehabt, denn bis auf ein aufgeschürftes Knie und eine ordentliche Prellung am Steiß schien sie mit einem Schrecken davongekommen zu sein. Als sie sich allerdings das Fahrrad genauer ansah, verzog sie unwillig das Gesicht. Sie war mit dem Hinterrad an den Randstein geprallt und hatte jetzt einen fetten Achter in der Felge.
»So ein Mist! Jetzt kann ich das letzte Stück auch noch schieben!«, fluchte Hannah, während sie das Rad aufrichtete und den völlig verrutschen Rucksack auf dem Gepäckträger wieder geraderückte.
»Von wegen, Moped fahren ist zu gefährlich! Jetzt sollte Paps mal hier sein und sich den Schlamassel ansehen, in dem ich stecke. Im Stockdunkeln mit einem blöden, kaputten Fahr-rad, und keine Menschenseele weit und breit. Na, dem werde ich was erzählen, wenn er mir wieder davon anfängt, dass ich auf den Autoführerschein warten soll!«
Immer noch murrend schob Hannah das quietschende Rad weiter, als sie einen kalten Luftzug spürte, bei dem sich unwillkürlich ihre Nackenhärchen aufrichteten. Es fühlte sich an, als wäre sie plötzlich mitten in eine eisige Nebelfront geraten. Die nächtlichen Geräusche drangen nur noch gedämpft an ihr Ohr und ein stechender, fremdartiger Geruch lag in der Luft. Sie wollte ihre Schritte beschleunigen, um so schnell wie möglich von hier fortzukommen, doch ihre Beine fühlten sich an wie gelähmt. Völlig erstarrt stand sie da. Ihr Herz begann zu rasen, das Blut rauschte in ihren Ohren wie ein Wasserfall.
»Was zum Teufel ist hier los?«
Der stechende Geruch verstärkte sich und plötzlich wusste Hannah wieder, woran er sie erinnerte. Es war der typische scharfe Geruch, den sie von den Gehegen fleischfressender Wildtiere kannte.
Sie begann zu zittern - die instinktive Reaktion der Beute, welche die Nähe des Raubtieres spürte.
Eine leise Bewegung im Schatten der hinter ihr liegenden Halle ließ ihr Herz noch schneller schlagen und löste einen Teil ihrer Erstarrung. Vorsichtig drehte Hannah den Kopf. Ihr stockte der Atem.
Eine hohe, schmale Gestalt bewegte sich unheimlich gleitend auf sie zu.
Oh bitte nicht! Nicht so was!
Ein entsetztes Stöhnen entfuhr ihr. Das durfte nicht wahr sein. So etwas konnte ihr nicht passieren. So etwas geschah in irgendwelchen blöden Krimis – und sie hasste Krimis. Sie hatte Krimis schon immer gehasst und nie verstanden, wie man sich freiwillig irgendwelche widerlichen Verbrechen ansehen konnte.
Zu Tode erschrocken starrte sie weiter in die Dunkelheit. Die Gestalt kam langsam, aber unabwendbar näher. Irgend-etwas stimmte nicht mit ihr. Sie wirkte irgendwie nicht normal, ihre Bewegungen hatten nichts Vertrautes an sich, ja, sie wirkten nicht einmal menschlich.
Sie war nicht in einem Krimi gelandet, sondern im reinsten Albtraum!
Als Hannah dieser Gedanke durch den Kopf schoss, kehrte die Beweglichkeit in ihre Beine zurück. Mit einem unterdrückten Stöhnen schwang sie sich auf das kaputte Rad. Jetzt war wirklich nicht die Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, ob der verdammte Achter danach noch zu reparieren war. Jetzt zählte nur noch eins. Abhauen, so schnell wie möglich, weg von der schleichenden Gestalt, raus aus diesem Albtraum!
Wie eine Wahnsinnige trat Hannah in die Pedale, ohne auf das durchdringende Schleifgeräusch der Felge zu achten. Stattdessen glaubte sie, ein leises Knurren zu hören, das irgendwo aus der Richtung vor ihr kam.
Los, nur schnell weiter! Hör jetzt bloß nicht auf und fall, um Himmels willen, nicht noch mal um!
Voller Panik versuchte sie, sich selbst anzuspornen. Ein kurzer Blick über die Schulter zeigte ihr, dass der Verfolger noch im gleichen Abstand hinter ihr war. Er sah aus, als würde er sich nicht sonderlich anstrengen, um sie einzuholen. Und noch während sie sich fragte, was er wohl im Sinn hatte, kam ihr ein Verdacht, bei dem ihr speiübel wurde.
Er will mich gar nicht einholen, er treibt mich geduldig vor sich her. Wie ein Wolf, der die Beute in Richtung seines Rudels treibt.
Bei diesem Gedanken verlangsamte Hannah die rasante Fahrt. Angestrengt starrte sie in die Dunkelheit vor sich, die von bizarren Schattenbildern durchbrochen wurde, welche die Sicherheitsbeleuchtung einer Firma auf die Straße warf. Wieder vernahm sie das heisere Knurren, das sie vorhin schon einmal kurz zu hören geglaubt hatte.
Es sind mehrere und sie haben Hunde!
Tatsächlich glitten nun zwei weitere, unglaublich hohe Gestalten wenige Meter vor ihr aus dem Schatten in das diffuse Licht. Hannah machte eine Vollbremsung, die sie beinahe erneut das Gleichgewicht kostete. Das Fahrrad glitt aus ihren kraftlosen Händen.
Das hier war kein Traum, sondern bitterer, lebensbedrohender Ernst.
Fieberhaft suchte Hannah nach einer Fluchtmöglichkeit – doch es gab keine. Hinter ihr glaubte sie, schleichende Schritte zu hören, und sie wusste, dass sich jetzt auch ihr erster Verfolger in unmittelbarer Nähe befand. Ihre Hand fuhr suchend in die Jackentasche, wo der Hausschlüssel steckte. Es war lächerlich, aber das war der einzige Gegenstand, den sie bei sich hatte und der auch nur annähernd als Waffe zu gebrauchen war. Sie trug keine Schuhe mit spitzen Absätzen und hatte gerade auch keinen Kugelschreiber zur Hand, den sie ihren Angreifern ins Auge stechen konnte.
Schon damals, als Hannah nicht besonders erfolgreich an einem Selbstverteidigungskurs teilgenommen hatte, hatte sie stark daran gezweifelt, dass sie irgendeine dieser seltsamen Techniken, die der Trainer ihnen vorgeführt hatte, im Ernstfall auch tatsächlich umsetzen könnte. Und jetzt musste sie feststellen, dass ihre Zweifel völlig berechtigt gewesen waren. Sie hatte nicht die geringste Chance gegen ihre Verfolger.
Der strenge Geruch wurde intensiver, je näher die Gestalten an sie heranschlichen, und die knurrenden Laute nahmen zu. Entsetzt erkannte Hannah, dass ihre Verfolger keine Hunde bei sich hatten. Das hatten sie überhaupt nicht nötig. Auf eine grauenhafte und völlig fremdartige Weise waren sie wie Hunde – nein, eher wie Wölfe. Die beiden Gestalten vor ihr waren mittlerweile so nah herangekommen, dass sie undeutlich ihre Gesichtszüge erkennen konnte. Allein dieser Anblick genügte, um Hannah an den Rand einer Ohnmacht zu bringen. Nichts, was sie je zuvor gesehen hatte, hätte sie auf ein solches Grauen vorbereiten können.
Hannah blickte in schmale Wolfsaugen, die gelb aufleuchteten, sobald ein Lichtschein auf sie fiel. Sie glühten in hageren, sehr dunklen Gesichtern unter dichten, schwarzen Augenbrauen. Auch die schulterlangen Haare waren tiefschwarz und drahtig wie eine Mähne. Abgesehen von den wilden Augen, war es aber die Mund- und Nasenpartie dieser Wesen, die ihnen ein ganz und gar unmenschliches Aussehen verlieh. Sie war stark ausgeprägt, und als einer von ihnen die schmalen Lippen zu einem fiesen Lächeln verzog, konnte Hannah ein Gebiss aufleuchten sehen, das jedem Raubtier Ehre gemacht hätte.
Fassungslos schüttelte Hannah den Kopf.
»Nein, bitte nicht! Lass es bitte nicht wahr sein!«
Doch die Fremden hatten sie bereits eng umkreist und Hannah hegte keinen Zweifel mehr an ihren Absichten. Ihre Hand, die den Schlüssel umklammert hielt, verkrampfte sich, während sich die Welt vor ihren Augen zu drehen begann. Sie spürte ein Knacken in den Ohren und der Boden unter ihren Füßen begann zu beben. Verzweifelt schnappte sie nach Luft. Sie durfte jetzt auf keinen Fall das Bewusstsein verlieren!
Etwas wie ein schwarz glühender Blitz schlug direkt hinter einem der Angreifer in den Boden ein und Hannah zuckte entsetzt zurück.
Noch bevor sie verstehen konnte, was das alles zu bedeuten hatte, erschien plötzlich eine weitere finstere, riesenhafte Gestalt wie aus dem Nichts. Sie hielt ein Schwert in der Hand.
Hannah sah die Waffe silbern aufblitzen – und einer ihrer drei Angreifer sackte lautlos in sich zusammen.
Viel schneller als es ihre Augen erfassen konnten, wirbelten die beiden anderen Fremden zu dem Neuankömmling herum. Sie hielten plötzlich ebenfalls Waffen in den Händen. Es handelte sich dabei um etwas kürzere, dolchartige Klingen, die sie mit unglaublicher Geschwindigkeit einsetzten.
Der Kampf, der nun zwischen dem Neuankömmling und Hannahs beiden verbliebenen Angreifern entbrannte, lief so rasant ab, dass sie ihm nicht folgen konnte. Ihre Augen begannen zu tränen, als sie versuchte, die unmenschlich schnelle Folge aus Tritten und Sprüngen wahrzunehmen. Es wirkte wie ein wilder, wirbelnder, absolut tödlicher Tanz.
Hannah wusste nicht, wie lange sie das unglaubliche Geschehen verfolgte, bis sie bemerkte, dass der später aufgetauchte Fremde ganz allmählich zurückwich und seine beiden Gegner dabei Schritt für Schritt aus ihrer unmittelbaren Nähe hinausmanövrierte.
Völlig hilflos stand sie da und beobachtete diese tödliche Auseinandersetzung, als sie den Blick ihres Verteidigers auffing. Sie sah glühende Augen unter finster zusammengezogenen Brauen. Eine heisere Stimme ertönte.
»Mach, dass du wegkommst, Mädchen! Ich kann sie vielleicht nicht länger aufhalten.«
Hannah blinzelte verwirrt, während die rauen Worte in ihr nachklangen. Er hatte zu ihr gesprochen. Er war hier, um ihr zu helfen. Dieser Gedanke gab ihr neuen Mut. Sie sah, wie die beiden Angreifer den Gegner in die Zange nahmen und noch heftiger auf ihn eindrangen.
Ich muss irgendetwas tun, irgendwas muss mir einfallen, sofort!
Ohne groß nachzudenken, lief Hannah zu dem auf dem Boden liegenden Körper des Fremden und kniete neben ihm nieder.
Er war einer von denen, bestimmt hat er auch so eine Waffe bei sich gehabt. Los, Hannah, es geht um dein Leben, sei jetzt bloß nicht zimperlich.
Entschlossen drängte sie das würgende Gefühl zurück, das in ihr aufstieg, und drehte den reglosen Körper mit aller Kraft auf den Rücken. Krampfhaft bemühte sie sich, nicht auf die klaffende Wunde in seiner Brust zu achten. Das Schwert des Fremden hatte ihren Angreifer vollständig durchbohrt.
Der beißende Geruch, der von dem Toten ausging, war unerträglich. Mit angehaltenem Atem konzentrierte Hannah sich auf die Ausrüstung des Fremden. Sie stöhnte erleichtert auf, als sie eine der dolchartigen Waffen entdeckte, die an einem Gurt um seine Hüfte hing. Verbissen kämpfte sie gegen ihre Übelkeit an, streckte eine Hand aus und zog den Dolch hervor. Jetzt war keine Zeit für Skrupel, sie benötigte eine Waffe.
Als sie sich wieder aufrichtete, bemerkte sie, dass der erbitterte Kampf mittlerweile eine neue Wendung genommen hatte. Soweit Hannah erkennen konnte, kämpfte ihr Verteidiger nur noch gegen einen ihrer Angreifer, den er immer weiter in die Enge trieb. Der andere Angreifer zog sich währenddessen langsam zurück. Dann, schneller, als Hannah auch nur blinzeln konnte, war dieser Fremde bei ihr und packte sie mit schmerzhaftem Griff am linken Arm. Seine Nägel gruben sich dabei tief in ihr Fleisch. Er beugte sich zu ihr hinunter und knurrte ihr etwas ins Ohr.
Erst jetzt wurde Hannah bewusst, wie riesig die Fremden tatsächlich waren. Durch ihre schmale und sehnige Figur hatten sie nur wie sehr große Männer gewirkt, doch nun erkannte sie, dass ihr Angreifer weit über zwei Meter maß. Sein heißer, stechender Atem streifte ihr Gesicht, während die gelben Augen sie förmlich zu hypnotisieren schienen. Dann griff er in eine Tasche an seinem Gurt.
Hannah reagierte instinktiv, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken. Mit einem verzweifelten Aufschrei holte sie mit ihrem rechten Arm aus und stieß dem Fremden den Dolch in den Bauch. Entsetzt sah sie, wie ein Zucken über sein Gesicht lief. Sein eiserner Griff löste sich von ihrem Arm und wie in Zeitlupe glitt er zu Boden, die Hände jetzt fest um den aus seinem Leib ragenden Griff der Waffe geklammert. Noch während er fiel, bohrte sich sein Blick voller Hass in Hannahs Augen und ließ sie nicht mehr los.
Um Himmels willen, was hab ich getan?
Wie aus weiter Ferne hörte sie ihr eigenes Wimmern. Sie zitterte am ganzen Körper und nahm kaum wahr, dass sie von dem zuletzt aufgetauchten Fremden an den Schultern gepackt und zur Seite geschoben wurde.
Er hatte den erbitterten Zweikampf gewonnen und kniete nun so vor dem am Boden liegenden Angreifer, dass er Hannah mit seinem Rücken die Sicht auf den schwer verletzten Angreifer verdeckte. Hannah nahm nur eine blitzschnelle Bewegung wahr, den Anflug eines Röchelns – und tödliche Stille kehrte ein.
Der Fremde verharrte kurz mit gesenktem Kopf bei dem Toten, dann erhob er sich mit einer geschmeidigen Bewegung, steckte einen schmalen Dolch zurück in die Scheide an seinem Gürtel und wandte sich dem Mädchen zu.
Hannah konnte nur dastehen und ihn aus weit aufgerissenen Augen anstarren.
Ein finsterer Blick aus schmalen Augen, die nicht ganz so gelb leuchteten wie die der drei anderen Fremden, traf sie. »Du hättest verschwinden sollen, als ich es dir gesagt habe.«
Wieder musste Hannah dem Klang der heiseren Stimme nachlauschen, um die Worte zu verstehen. Sie waren kaum mehr als ein raues Flüstern.
»Tritt einige Schritte zurück, wenn du die Nacht doch noch überleben möchtest!«
Hannah stand völlig erstarrt vor ihm.
Ein ungeduldiges Knurren erklang, als er sah, dass sie keine Anstalten machte, seine Anweisung zu befolgen, sondern ihn weiterhin nur reglos anstarrte. Mit zwei gleitenden Schritten war er bei ihr und schob sie recht unsanft mehrere Meter vom Ort des Geschehens fort.
Sie ließ es teilnahmslos mit sich geschehen.
Das ist alles nur ein Traum, Hannah, nur ein Traum. Gleich wachst du auf und liegst gemütlich in deinem Bett. Alles wird gut.
Verständnislos beobachtete sie, wie der Fremde zu den toten Angreifern trat, ein rundes Gefäß aus einer Tasche seines dunklen Umhangs holte und ihre Körper sorgfältig mit einer Flüssigkeit beträufelte. Dann holte er ein weiteres Gefäß hervor, in dem sich so etwas wie ein glühender Stein befand, entzündete daran einen schmalen Holzspan und hielt ihn an die Toten. Eine kleine Stichflamme loderte auf. Mit einem unangenehm zischenden Geräusch verbrannten die Körper im Bruchteil weniger Sekunden. Sie hinterließen keinerlei Spuren, nur eine dünne Ascheschicht, die innerhalb kürzester Zeit vom leichten Nachtwind verweht wurde.
Entsetzt fuhr Hannah aus ihrem tranceartigen Zustand hoch. Ihr Herz raste und ihr linker Arm brannte wie Feuer. Der Schmerz war zu real, es konnte einfach kein Traum sein. Voller Panik sah sie zu dem Fremden auf, der nun langsam mit grimmiger Miene auf sie zukam. Er überragte sie um gut zwei Köpfe. Als er diesmal sprach, hatte sie kaum noch Schwierigkeiten, ihn zu verstehen.
»Bist du verletzt? Hat dich einer von ihnen erwischt?«
Langsam schüttelte Hannah den Kopf. Sie musste erst einmal schlucken, bevor sie sich ihrer Stimme sicher war. »Nein, nur mein Arm tut weh, dort, wo mich der eine gepackt hat.« Unwillkürlich strich sie mit der rechten Hand über den brennenden Arm.
Seine finstere Miene wurde noch düsterer. Vorsichtig nahm er ihren Arm und schob den zerrissenen Ärmel ihrer Jacke zurück. Seine Bewegungen waren so schnell, dass er die blutigen Kratzspuren bereits betrachtete, noch bevor Hannah entsetzt zusammenzuckte. Als er ihre panische Reaktion bemerkte, ließ er den Arm sofort los und trat einen Schritt zurück.
Schön blöd, schimpfte Hannah mit sich selbst. Ich benehme mich wirklich schön blöd. Vielleicht wäre ja eher ein wenig Dankbarkeit angesagt.
Entschuldigend sah sie zu ihm auf. Was auch immer er war, er hatte ihr das Leben gerettet. Wenn er ihr irgendetwas antun wollte, hätte er es schon längst tun können. Stattdessen sorgte er sich um ihre Verletzung und sie stieß ihn vor den Kopf.
Doch noch bevor sie den Mund aufmachen konnte, hatte er bereits einen kleinen Tiegel aus seinem Umhang geholt, den er ihr hinhielt. »Du musst diese Heilpaste unbedingt auf die Verletzungen auftragen. Sie sind mit einem Gift infiziert, das für euch Menschen üble Folgen hat, wenn es nicht entzogen wird. Trage die Paste morgens und abends auf, bis wirklich keine Spuren der Verletzung mehr zu sehen sind. Hast du das verstanden?«
Als er Hannahs verständnislosen Blick sah, seufzte er ungeduldig auf, öffnete den Tiegel und entnahm daraus eine klebrige, grüne Paste. Vorsichtig fasste er wieder nach Hannahs Arm, während er sie forschend betrachtete. Als er kein weiteres Zurückzucken bemerkte, verstrich er die Paste sorgfältig auf den Wunden, die von den scharfen Nägeln des Angreifers stammten. Fasziniert beobachtete Hannah die langen, schlanken Hände des Fremden, die sanft die Salbe auftrugen. Dieselben Hände, mit denen er vor wenigen Minuten, ohne zu zögern, drei Leben ausgelöscht hatte. Sie sahen absolut menschlich aus, allerdings fühlte sich ihre Berührung anders an als die Berührung einer Menschenhand. Es ging eine unglaubliche Wärme von ihnen aus, die sich wohltuend in ihrem erstarrten Körper ausbreitete. Hannah fühlte sich auf einmal unsäglich müde. Sie hätte alles dafür gegeben, jetzt einfach ihre Augen schließen und einschlafen zu können.
Abrupt schreckte sie hoch, als sie das Gleichgewicht verlor und gegen die Brust des Fremden taumelte. Verlegen blickte sie zu ihm hoch. Sie glaubte zu erkennen, dass sein dunkles, fremdartiges Gesicht jetzt weniger finster wirkte, sondern einen besorgten Ausdruck angenommen hatte.
»Du bist völlig am Ende, nicht wahr?« Die raue Stimme klang nun auch viel weicher. »Wie weit hast du es noch in dein Heim? Wirst du es schaffen?«
Zweifelnd sah er sie an, als Hannah entschlossen nickte. »Ich komme schon klar. Es ist wirklich nicht mehr weit.« Sie machte eine möglichst zuversichtliche Miene. »Ich nehme an, du musst auch wieder dorthin, woher du gekommen bist?«
Ein feines Lächeln erhellte sein Gesicht, als er den neugierigen Unterton in Hannahs Stimme hörte. Das Lächeln verwandelte seine ungewohnten Gesichtszüge auf unfassbare Weise und ließ ihn beinahe menschlich erscheinen. Mit einem Mal kam er ihr überhaupt nicht mehr beängstigend vor, nur sehr geheimnisvoll und ziemlich exotisch.
»Ja, für mich ist es höchste Zeit. Ich sollte so kurz wie möglich in deiner Welt verweilen, obwohl sie wirklich faszinierend ist. Pass in Zukunft besser auf dich auf und laufe nachts nicht mehr durch einsame Gegenden!« Mit diesen Worten glitt er etwas zurück in den Schatten und griff dabei in eine Tasche an seiner Hüfte.
Hannah sah, dass er einen faustgroßen Stein herauszog. Sie machte schnell einen Schritt auf ihn zu. »Halt, warte, du kannst jetzt doch nicht einfach so ohne Erklärung verschwinden! Wer bist du? Außerdem habe ich dir noch gar nicht gedankt.«
Sie hörte ein leises, heiseres Lachen. »Es gibt nichts zu danken. Ich habe lediglich das Gleichgewicht wiederhergestellt. Und es ist besser für dich, nichts zu wissen. Vergiss dieses Erlebnis. Vergiss, dass du mich je gesehen hast, dir würde sowieso niemand glauben. Also sprich zu deinem eigenen Schutz mit niemandem über dieses Ereignis! Bald wird dir alles nur noch wie ein böser Traum vorkommen. Aber vergiss nicht, die Heilpaste aufzutragen!«
Hannah sah, wie er nach seinen Worten die Hand, in der er den Stein hielt, an die Brust legte. Die Luft um ihn herum begann zu flimmern.
Das kann doch alles gar nicht wahr sein!
Gebannt starrte sie auf den Fremden, der sich in einer wabernden, dunklen Luftglocke zu befinden schien. Sie sah, wie sich sein Gesicht plötzlich verfinsterte und schließlich einen schmerzerfüllten Ausdruck annahm. Dann beruhigte sich der Luftwirbel, der ihn umgab. Der Fremde schwankte keuchend auf der Stelle. Besorgt lief Hannah zu ihm. Irgendetwas war hier ziemlich schiefgegangen, soviel war klar.
»Fjantalor!«, entfuhr es ihm. Sein Atem rasselte und gab seiner Stimme einen noch raueren Klang.
»Was ist passiert? Bist du verletzt?«, fragte Hannah besorgt.
Als sie seinem Blick begegnete, wurde Hannah unruhig. Er sah ziemlich fassungslos, wenn nicht sogar verstört aus. Fragend blickte sie zu ihm auf.
Der Fremde nahm einen tiefen Atemzug. »Ich weiß selbst nicht, was geschehen ist. Der Übergang in meine Welt scheint auf irgendeine Weise blockiert zu sein. So etwas ist mir noch nie passiert und ich kenne auch keinen Fall, bei dem sich Derartiges ereignet hätte.«
Hannah schluckte. »Du meinst, du kannst nicht mehr nach Hause zurück, du sitzt hier fest?«
Ein feines Lächeln ließ seinen Mundwinkel zucken, als er das echte Entsetzen in ihrer Stimme hörte. Hannah beobachtete fasziniert das schnell wechselnde Mienenspiel ihres ungewöhnlichen Retters.