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Oscar Wilde
Des Menschen Seele im Sozialismus
Aus dem Englischen neu übersetzt und mit Anmerkungen sowie einem Vorwort versehen von Jörg W. Rademacher.
Mit einem Nachwort von Michael Szczekalla
INHALT
Vorwort (Jörg W. Rademacher)
Des Menschen Seele im Sozialismus
Aphorismen zur Literatur
Bibliographie
Danksagung
Anmerkungen
Nachwort: Oscar Wilde, «Des Menschen Seele im Sozialismus» (Michael Szczekalla)
Bibliographie
Anmerkungen
Namens- und Begriffsregister
Kurzbiographie
VORWORT
«Wenngleich […] Wilde […] in diesem Essay von der Thematik her ‹enfant de mon siècle› bleibt, wie er in ‹De Profundis› sagt, so ist doch sein Beitrag an gedanklicher und sprachlicher Schärfe allem überlegen, was Schriftsteller der Zeit an Zukunftsperspektiven entwickelten.»1
So pointiert kann man die Dialektik von persönlicher wie politischer Orientierung des Essays «Des Menschen Seele im Sozialismus» formulieren. Es gibt jedoch sowohl literarische und historische als auch philosophische und ideengeschichtliche Zugänge. Diese erörtert Michael Szczekalla im Nachwort. Jene finden sich im Vorwort sowie in den Anmerkungen zum Text wieder.2 Schon Johann Wolfgang Goethe schrieb in einer seiner Maximen: «Jede große Idee, die als ein Evangelium in die Welt tritt, wird dem stockenden pedantischen Volke ein Ärgernis und einem Vielaber Leichtgebildeten eine Torheit.»3 Rückblickend hat Goethe damit auch Glanz und Elend des Sozialismus in wenigen Worten ausgedrückt.
Glanz und Elend des Oscar Wilde sind nicht nur, aber auch in den fünf Monaten des Jahres 1895 zusammengefaßt, als er zunächst als Komödienautor im Januar/Februar den Gipfel seines literarischen Ruhms erklomm, um dann von März bis Ende Mai vor Gericht den immer rasanteren Absturz zum Paria zu erleben. Diese Tragödie wurzelt jedoch in den Ereignissen von 1891. Wer sich in diesem Jahr in Leben und Werk Oscar Wildes orientieren will, tut gut daran, die vier damals veröffentlichten Bücher zur Kenntnis zu nehmen:4 im April The Picture of Dorian Gray in Buchform und aus zwanzig Kapiteln bestehend, von Wilde durchgesehen, ergänzt und der Selbstzensur unterzogen, nachdem im Juni 1890 die amerikanische Zeitschrift Lippincott’s Monthly Magazine den Roman in dreizehn Kapiteln publiziert hatte; im Mai Intentions, ein Band mit vier literarischen Essays; im Juli Lord Arthur Savile’s Crime and other Stories; sowie im November The House of Pomegranates. Die letztgenannten Bände vereinen jeweils Geschichten oder Erzählungen, die wie die theoretischen Schriften der Essays zuvor in Zeitschriften erschienen waren. Im Jahr 1891 etabliert sich Wilde endgültig, so scheint es, auch als Buchautor.
Tatsächlich ist er damit höchstens als Name auf dem Buchmarkt seiner Zeit eine Art Marke, nicht jedoch bezogen auf den finanziellen Erlös. Weiterhin bleibt er auf andere Quellen angewiesen, etwa Honorare für Zeitschriftenbeiträge und, noch wichtiger, Bühnentantiemen, die ihm jedoch erst mit der Komödie Lady Windermere’s Fan zufließen werden, die 1892 Premiere hat. In solch einer Zeitschrift, nämlich The Fortnightly Review, herausgegeben von Frank Harris, einem Freund und späteren Biographen Wildes, erscheinen im Februar/März 1891 zwei wesentliche Beiträge: als zweites das The Picture of Dorian Gray in Buchform beigegebene Vorwort, das nur aus Aphorismen besteht und das diesen Band beschließt. Zuvor jedoch war schon ein Essay erschienen mit dem vielsagenden Titel «The Soul of Man under Socialism».5 Auch dieser enthält zahllose Aphorismen, die zeigen, wie sehr Wilde, der Plauderer und Causeur, danach strebte, sich den Ruf des professionellen Wortschmieds auch in der Schriftform zu erarbeiten und zu erhalten. Nur mochte er wohl, wie schon als Student in Dublin und Oxford, nicht öffentlich preisgeben, wie lange und ausgiebig er an den Werken feilte.
Zweifellos gilt dieser Umstand für diesen, den einzigen ausdrücklich politisch sich verstehenden Essay Wildes. Daher ist dessen Übersetzung in heute verständliches Deutsch, das zugleich ein Fenster in Wildes Gegenwart öffnet, alles andere als ein Kinderspiel. Die Auswahl einiger Aphorismen für den Oscar Wilde Kalender 2018/oscar wilde calendar 2018 war ein erster Schritt. Die dort dann im Kontext von Ulrich Hoepfners Collagenwerk zur Wirkung kommen sollenden Kurztexte jeweils passend zum englischen Original möglichst kurz und prägnant zu gestalten, war eine weitere ganz anders geartete Übung. Etliche Male galt es, die dort endlich in Form gebrachte Sentenz in die längst vorher für abgeschlossen gehaltene Übersetzung des gesamten Textes zurückzuführen.
Auf diese Weise erlebt der Übersetzer in zweiter Reihe mit, was bei einem Werk wie The Picture of Dorian Gray auf Grund der erhaltenen Dokumentation durch Handschrift und Typoskript eine Reihe von Herausgebern haben augenfällig machen können: Wilde hatte sehr wohl recht, wenn er einräumte, das Schreiben bereite ihm Mühe. Sofern Papiere erhalten sind, läßt sich dies minuziös nachweisen. Sofern dies nicht der Fall ist, können die Mühen, die es den Übersetzer kostet, einen Prosatext im Deutschen annähernd so lang zu gestalten wie das englische Original, um auch dessen Duktus zu erhalten, ein Hinweis auf den von Wilde selbst geleisteten Einsatz sein. Dies ist um so bedeutsamer, als mit «The Soul of Man under Socialism» kein historisches Relikt aus dem 19. Jahrhundert in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts gerettet wird. Vielmehr ist der Text von beispielloser Aktualität und das sowohl bezogen auf die Ursprungskultur – ein Vereinigtes Königreich, das damals wie heute vor kaum vorhersagbaren soziopolitischen Umwälzungen steht – als auch bezogen auf die empfangende Kultur, deren Sicherheit ökonomisch wie politisch ebenso in Frage gestellt ist wie zu Wildes Lebzeiten.6 Im Zweiten Deutschen Kaiserreich wiederum hat Wildes Schreiben unmittelbar nach seiner Verurteilung und Ächtung im Vereinigten Königreich sowie nach seinem Tod 1900 zu einer sehr lebendigen Rezeption geführt, die um so erstaunlicher erscheint, als dies in einem Land geschah, das Homosexualität unter Strafe stellte, was nach der Entschärfung des Paragraphen 175 des Strafgesetzbuches im Jahr 1969 bis zu dessen endgültiger Aufhebung 1994 noch lange Jahrzehnte so blieb.7
Da Oscar Wilde ja auch in den Vereinigten Staaten große Wirkung entfaltet hat, blickte er ohnehin mit einem Auge stets über den Atlantik. Dies erlaubt es uns heute, geschult durch Wildes Scharfblick, auch dort auszumachen, wie treffend er die Situation erkannt und benannt hatte. Zu Lebzeiten Wildes entfaltete dieser Essay zunächst keine Wirkung, und als er am 30. Mai 1895, mithin fünf Tage nach Wildes Verurteilung zu zwei Jahren Haft mit Zwangsarbeit, als Privatdruck «und nicht zum Verkauf bestimmt» erschien, geschah dies unter dem gekürzten Titel The Soul of Man, der erst in der Ausgabe von 1912, versehen mit einem Vorwort von Robert Ross, dem Freund und Nachlaßverwalter Wildes, wieder um den Zusatz Under Socialism erweitert wurde.8
Im 19. Jahrhundert war Wilde allerorten eher ein Rufer in der Wüste und ist als solcher sogar zu eigenem Schaden prophetisch wirksam geworden. Heute könnte kluges Denken in Analogien mit Hilfe von Phantasie à la Oscar Wilde helfen, ähnliche Fehlschlüsse wie vor gut hundert Jahren zu vermeiden.9
Jörg W. Rademacher, Leer, Ostfriesland, November 2017 – Februar 2018
«Die Kunst ist die intensivste Form des Individualismus, welche die Welt kennt.» (Seite 39)
Des Menschen Seele im Sozialismus
Etablierte sich der Sozialismus, wäre der Hauptvorteil zweifellos die Tatsache, daß er uns der schmutzigen Notwendigkeit, für andere zu leben, enthöbe, die bei der gegenwärtigen Lage der Dinge fast jeden derartigen Pressionen aussetzt. Tatsächlich entkommt ihr fast niemand.
Dann und wann ist es im Jahrhundertlauf einem großen Naturwissenschaftler wie Darwin10, einem großem Dichter wie Keats11, einem feinfühligen kritischen Geist wie M. Renan12, einem unüberbietbaren Künstler wie Flaubert13 gelungen, sich zu vereinzeln, sich außer Reichweite der lautstarken Ansprüche anderer zu halten, «im Schutze der Wand» zu stehen, wie es Platon14 sagt, und so die Vollkommenheit dessen zu erreichen, was in ihm steckte, zum eigenen unvergleichlichen Gewinn wie zum unvergleichlichen und dauerhaften Gewinn der ganzen Welt. Diese jedoch sind Ausnahmen. Die meisten Menschen verderben sich ihr Leben durch ungesunde, übertriebene Selbstlosigkeit – sind gar dazu gezwungen, es so zu verderben. Sie finden sich umgeben von ebenso scheußlicher Armut wie Häßlichkeit und entsprechendem Hunger. Unweigerlich werden sie dadurch stark bewegt. Des Menschen Gefühle werden rascher erhitzt als sein Hirn; und wie ich vor einiger Zeit in einem Artikel über die Funktion der Kritik ausführte, ist es viel leichter, die Leiden mitzufühlen als die Gedanken.15 Passenderweise machen die Menschen sich mit bewundernswerten, jedoch fehlgeleiteten Absichten so ernsthaft wie sentimental die Aufgabe zu eigen, den Übeln abzuhelfen, welche sie sehen. Diese Abhilfe jedoch kuriert nicht die Krankheit: sie verlängert sie nur. Tatsächlich ist ihre Abhilfe Teil der Krankheit.
So suchen sie etwa das Problem der Armut zu lösen, indem sie die Armen am Leben halten, oder auch, sehr fortschrittlich gedacht, indem sie diese unterhalten.
Doch das ist keine Lösung: Die Lage wird vielmehr erschwert. Indes sollte es das rechte Ziel sein, die Gesellschaft dergestalt umzubauen, daß Armut unmöglich wird. Und in Wirklichkeit haben die selbstlosen Tugenden bislang die Umsetzung dieses Zieles verhindert. Ganz wie die schlimmsten Sklavenhalter ihre Sklaven nett behandelten und so verhinderten, daß das Grauen des Systems von den Leidtragenden begriffen und verstanden wurde von denen, die darüber nachdachten, so schaden bei der gegenwärtigen Lage der Dinge in England jene Leute am meisten, die am meisten Gutes tun wollen. In jüngster Zeit konnte man den Auftritt derer beobachten, die das Problem wirklich studiert haben und das Leben kennen – Gebildete, im East End16 wohnhaft –, die öffentlich die Gemeinschaft anflehen, ihre selbstlosen Impulse wie Wohltätigkeit, Gutwilligkeit und dergleichen zu zügeln. Das tun sie deshalb, weil solche Wohltätigkeit degradiert und demoralisiert. Sie haben vollkommen recht. Wohltätigkeit schafft eine Vielzahl an Sünden.
Auch das muß gesagt werden. Es ist so unmoralisch wie unfair, mit dem Privateigentum die grauenhaften Übel abzumildern, die aus der Institution des Privateigentums resultieren.
Im Sozialismus wird all das natürlich geändert. Niemand wird mehr in stinkenden Hütten und Lumpen leben und ungesunde, von Hunger geplagte Kinder in einem unmöglichen und absolut abstoßenden Umfeld aufziehen. Die Sicherheit der Gesellschaft wird nicht wie heute vom Wetter abhängen. Im Frostfall werden wir nicht hunderttausend Beschäftigungslose haben, die in einem Zustand abscheulichen Elends die Straßen durchstreifen oder bei den Nachbarn um Almosen wimmern oder sich an den Türen widerlicher Unterkünfte drängen, um einen Kanten Brot und ein unsauberes Nachtquartier zu ergattern. Jedes einzelne Gesellschaftsglied wird am allgemeinen Wohlstand und der Glückseligkeit teilhaben, und im Frostfall wird praktisch niemand schlechter dran sein.
Andererseits wird der Sozialismus allein deshalb wertvoll sein, weil er zum Individualismus führt.
Ob er Sozialismus oder Kommunismus heißt, er wird durch die Verwandlung von Privateigentum in öffentlichen Wohlstand und durch Zusammenarbeit statt Wettstreit die Gesellschaft in den rechtmäßigen Zustand eines ganz gesunden Organismus zurückführen und jedem in der Gemeinschaft das materielle Wohlergehen sichern. Tatsächlich wird er dem Leben seinen rechtmäßigen Grund und eine ebensolche Umwelt verschaffen. Doch für die volle Entwicklung des Lebens bis zum höchsten Grad an Vollkommenheit ist noch mehr vonnöten. Vonnöten ist der Individualismus. Falls der Sozialismus autoritär ist; falls Regierungen wirtschaftlich gerüstet sind, wie sie heute mit politischer Macht gerüstet sind; falls wir, in einem Wort, Beispiele industrieller Tyrannei erleben sollten, dann wird der letzte Zustand des Menschen schlimmer sein als sein erster. Gegenwärtig können viele Menschen infolge des Privateigentums eine gewisse begrenzte Form des Individualismus entwickeln. Entweder müssen sie nicht arbeiten, um zu leben, oder sie können den Bereich wählen, der ihnen wirklich gemäß ist und ihnen Vergnügen bereitet. Diese Menschen sind Dichter, Philosophen, Naturwissenschaftler, kultivierte Menschen – in einem Wort die echten Menschen, die sich selbst verwirklicht haben und in denen die gesamte Menschheit teilweise Verwirklichung findet. Andererseits gibt es eine sehr große Anzahl Menschen, die ohne Privateigentum stets am Rande des Hungertods leben und daher genötigt sind, als Lasttiere zu arbeiten, ein ganz unangemessenes Los, wozu sie gezwungen sind durch die gebieterische, unvernünftige, degradierende Tyrannei der Not. Diese Menschen sind die Armen, und unter ihnen gibt es keine anmutigen Manieren, keine reizvolle Rede, weder Zivilisation noch Kultur oder Verfeinerung der Vergnügungen oder Lebensfreude. Aus ihrer kollektiven Kraft gewinnt die Menschheit viel an materiellem Wohlstand. Doch gewinnt sie nur materiell, und der arme Mensch ist in und an sich bedeutungslos. Vielmehr ist er das infinitesimale Atom einer Kraft, die ihn zermalmt, statt ihn zu beachten: tatsächlich sieht sie ihn lieber zermalmt, da er in diesem Falle weit gehorsamer ist.
Natürlich könnte man einwenden, der unter den Bedingungen des Privateigentums erzeugte Individualismus sei nicht immer oder gar in der Regel von schönem oder wunderbarem Typus und die Armen, wenn sie schon weder Kultur noch Charme haben, besäßen dennoch viele Tugenden. Beide Aussagen wären recht zutreffend. Der Besitz von Privateigentum ist sehr oft extrem demoralisierend, und das ist natürlich einer der Gründe, warum der Sozialismus diese Institution loswerden will. Tatsächlich ist das Eigentum wirklich eine Plage. Vor einigen Jahren zogen Leute mit der Botschaft, Eigentum verpflichte, durch das Land. Sie wiederholten sie so oft und so ermüdend, daß am Ende die Kirche ebenfalls davon anfing. Jetzt hört man es von jeder Kanzel. Es ist vollkommen wahr. Eigentum verpflichtet nicht nur, sondern es verpflichtet sogar so sehr, daß sein Besitz in größerem Umfang sehr lästig ist. Es verwickelt einen in endlose Ansprüche, endlose Aufmerksamkeit gegen das Geschäft, endlosen Ärger. Als Quell reinen Vergnügens könnten wir Eigentum aushalten; durch seine Verpflichtungen wird es untragbar. Im Interesse der Reichen müssen wir es loswerden. Die Tugenden der Armen können ohne weiteres zugestanden werden und sind auch sehr zu beklagen. Man sagt oft, die Armen seien für Wohltätigkeit dankbar. Manche sind es ohne Zweifel, doch die besten unter den Armen sind niemals dankbar. Sie sind undankbar, unzufrieden, ungehorsam und rebellisch. Sie haben jedes Recht dazu. Sie empfinden Wohltätigkeit als lächerlich unangemessene anteilige Rückerstattung oder als sentimentales Arbeitslosengeld, gewöhnlich begleitet von so manch impertinentem Versuch des Sentimentalen, ihr Privatleben zu tyrannisieren. Warum sollten sie für die Krümel danken, die von des reichen Mannes Tisch abfallen? Sie sollten selbst an der Tafel sitzen und wissen ansatzweise Bescheid. In puncto Unzufriedenheit wäre ein Mensch, der in solcher Umgebung und bei solch niederer Lebensart nicht unzufrieden wäre, vollkommen viehisch. Vielmehr ist Ungehorsam in den Augen eines jeden in der Geschichte Belesenen eine Urtugend des Menschen. Durch Ungehorsam ist Fortschritt entstanden, durch Ungehorsam und durch Rebellion. Manchmal werden die Armen für ihre Sparsamkeit gelobt. Doch den Armen das Sparen zu empfehlen, das ist sowohl grotesk als auch beleidigend. Es gleicht der Empfehlung an einen Hungernden, weniger zu essen. Es wäre absolut unmoralisch für einen Stadt- oder Landarbeiter, Sparsamkeit zu praktizieren. Der Mensch sollte nicht bereitwillig zeigen, daß er wie ein unterernährtes Tier leben kann. Das sollte er verweigern und entweder stehlen oder sich der Fürsorge anvertrauen, was vielen als eine Art Diebstahl gilt. In puncto Betteln ist es sicherer zu betteln als zu nehmen, doch ist es schöner zu nehmen als zu betteln. Nein: Ein armer Mensch, der undankbar, unsparsam, unzufrieden und rebellisch ist, stellt wahrscheinlich eine echte Persönlichkeit dar, in der viel steckt. Auf jeden Fall stellt er einen gesunden Protest dar. In puncto tugendhafter Armer kann man diese natürlich bemitleiden, sie aber unmöglich bewundern. Sie haben sich privat mit dem Feind arrangiert und ihr Geburtsrecht für ein sehr schlechtes Linsengericht verkauft.17 Sie müssen auch außerordentlich dumm sein. Ich kann einen Menschen gut verstehen, der Gesetze zum Schutz und zur Mehrung des Privateigentums akzeptiert, solange er selbst unter jenen Bedingungen eine gewisse Form des schönen und geistigen Lebens verwirklicht. Doch für mich ist es kaum glaubhaft, daß ein Mensch, dessen Leben durch solche Gesetze gezeichnet und abscheulich gemacht wird, überhaupt ihrer Fortdauer zustimmt.
Doch eine Erklärung fällt nicht weiter schwer. Sie lautet wie folgt: Elend und Armut sind so absolut degradierend und üben eine solch lähmende Wirkung auf der Menschen Wesen aus, daß keine Klasse sich ihres Leidens je wirklich bewußt ist. Sie müssen es von anderen Leuten erfahren, und oft schenken sie diesen gar keinen Glauben. Was große Arbeitgeber gegen Agitatoren sagen, ist fraglos wahr. Letztere sind eine Gruppe störender und aufdringlicher Leute, die zu einer vollkommen zufriedenen Klasse der Gemeinschaft stoßen und unter ihnen die Saat der Unzufriedenheit säen. Deshalb sind Agitatoren auch so absolut notwendig. Ohne sie gäbe es in unserem unvollständigen Staat keinen Schritt voran gen Zivilisation. Die Sklaverei wurde in Amerika weder nach Aktionen der Sklaven niedergeschlagen, noch auf ausdrücklichen Wunsch ihrerseits, frei zu sein. Sie wurde gänzlich durch das grob rechtswidrige Verhalten gewisser Agitatoren in Boston und anderswo niedergeschlagen, die weder selbst Sklaven noch Sklavenbesitzer waren oder auch sonst etwas mit der Frage zu tun hatten. Ohne Zweifel entflammten die Abolitionisten18 die Fackel und begannen die ganze Sache. Und es ist sonderbar zu vermerken, daß sie von den Sklaven nicht nur sehr wenig Hilfe erhielten, sondern überhaupt auch kaum Mitgefühl; und als sich die Sklaven am Kriegsende in Freiheit fanden, in der Tat so sehr in Freiheit, daß es ihnen frei stand zu verhungern, da beklagten viele von ihnen bitter den neuen Stand der Dinge.19 Für den Denker ist das tragischste Faktum der gesamten Französischen Revolution nicht, daß Marie Antoinette20 getötet wurde, weil sie Königin war, sondern daß der verhungerte Bauer aus der Vendée sich aufmachte, für die abscheuliche Sache des Feudalismus zu sterben.
Es ist also klar, daß autoritärer Sozialismus nicht funktioniert. Denn während im aktuellen System zahlreiche Menschen ihr Leben mit einem gewissen Maß an Freiheit, Ausdruck ihrer selbst und Glückseligkeit führen können, existierte in einem System von Industriekasernen oder einem solchen ökonomischer Tyrannei für niemanden irgendeine Freiheit dieser Art. Es ist beklagenswert, daß ein Teil unserer Gemeinschaft praktisch in Sklaverei lebt, doch ist der Vorschlag kindisch, das Problem durch Versklavung der ganzen Gemeinschaft zu lösen. Jeder Mensch muß in der Wahl der eigenen Arbeit ganz frei sein. Ihm darf keine Form des Zwanges auferlegt sein. In dem Fall wird seine Arbeit für ihn nicht gut sein, sie wird weder an sich gut sein noch auch für andere. Und mit Arbeit meine ich einfach Aktivität jeder Art.
Ich kann mir kaum vorstellen, daß ein Sozialist heutzutage ernsthaft vorschlüge, jeden Morgen solle ein Inspektor an jedes Haus klopfen, damit jeder Bürger aufsteht und Handarbeit verrichtet. Über dieses Stadium ist die Menschheit hinaus und sieht solche Lebensform für Leute vor, die sie sehr willkürlich Verbrecher nennt.21 Doch bekenne ich, daß viele der sozialistischen Ansichten, denen ich begegnet bin, mit Vorstellungen von Autorität, wenn nicht tatsächlichem Zwang befleckt sind. Natürlich kommen Autorität und Zwang nicht in Frage. Jede Vereinigung muß ganz freiwillig sein. Nur in freiwilligen Vereinigungen geht der Mensch ganz auf.
Doch kann gefragt werden, wie der Individualismus, der jetzt für seine Entwicklung mehr oder minder vom Privateigentum abhängt, von der Abschaffung desselben profitieren wird. Die Antwort fällt ganz leicht. Zwar konnten unter den gegebenen Bedingungen einige Männer mit eigenen Finanzmitteln wie etwa Byron22, Shelley23, Browning24, Victor Hugo25, Baudelaire26 und andere ihre Persönlichkeit mehr oder minder vollständig entfalten. Aber keiner dieser Männer hat je einen einzigen Tag Lohnarbeit verrichtet. Sie waren von Armut befreit. Sie genossen einen immensen Vorteil. Die Frage ist, ob es dem Individualismus gut täte, beseitigte man solch einen Vorteil. Das einmal angenommen, was geschieht mit dem Individualismus? Welchen Nutzen bringt ihm das?
Ihm nützt es wie folgt. Unter den neuen Bedingungen wird der Individualismus weit freier, schöner und intensiver sein als jetzt. Ich spreche nicht von dem großen in der Phantasie verwirklichten Individualismus der genannten Dichter, sondern vom großen tatsächlichen Individualismus, welcher der Menschheit latent und potentiell eigen ist. Denn die Anerkennung des Privateigentums hat den Individualismus wirklich geschädigt und verdunkelt, indem durch sie der Mensch mit seinem Besitztum verwechselt wird. Das hat den Individualismus ganz vom Weg abgebracht. Nun ist sein Ziel Gewinn statt Wachstum. So meinte der Mensch, zu haben sei bedeutend, ohne zu bedenken, daß zu sein bedeutend ist. Die wahre Vollkommenheit des Menschen liegt nicht in dem, was er hat, sondern in dem, was er ist. Das Privateigentum hat den wahren Individualismus zermalmt und an seine Stelle einen falschen Individualismus gesetzt. Es hat einen Teil der Gemeinschaft davon ausgeschlossen, individuell zu sein, indem es diese Menschen verhungern läßt. Es hat den anderen Teil der Gemeinschaft davon ausgeschlossen, individuell zu sein, indem es diese Menschen auf den falschen Pfad setzte und übermäßig belastete. Tatsächlich ist des Menschen Persönlichkeit so vollständig durch seine Besitztümer absorbiert, daß das englische Recht stets Verstöße gegen eines Mannes Eigentum schärfer ahndet als Verstöße gegen dessen Person, und noch heute bemessen sich die Bürgerrechte nach dem Eigentum.27 Der zum Geldverdienen nötige Fleiß ist ebenfalls sehr demoralisierend. In einer Gemeinschaft wie der unseren, darin Eigentum immense Auszeichnung, soziale Position, Ehre, Achtung, Titel und andere Annehmlichkeiten verheißt, setzt sich der Mensch als von Natur aus ehrgeiziges Wesen das Ziel, Eigentum anzuhäufen, und läßt nicht locker, auch lange, nachdem er weit mehr besitzt, als er braucht oder nutzen oder genießen oder womöglich überschauen kann. Der Mensch tötet sich durch Überarbeitung, um Eigentum zu sichern, und angesichts der enormen Vorteile, welche Eigentum bringt, ist das wirklich kaum überraschend. Man kann beklagen, daß die Gesellschaft auf solchem Grund gebaut ist, daß der Mensch in eine Furche gezwungen wurde, in welcher er nicht frei entwickeln kann, was in ihm wunderbar, faszinierend und ergötzlich ist – wo er tatsächlich die wahren Vergnügen und Freuden des Lebens verpaßt. Unter den bestehenden Bedingungen ist er zudem sehr unsicher. Ein äußerst wohlhabender Kaufmann ist womöglich und oft tatsächlich in jedem Moment seines Lebens unkontrollierbaren Dingen ausgesetzt. Bläst der Wind eine zehntel Stärke mehr oder ein klein wenig stärker, oder schlägt das Wetter plötzlich um, oder geschieht etwas Belangloses, kann sein Schiff kentern, können seine Spekulationen scheitern, und er ist ein armer Mensch, bar jeder sozialen Position.28 Jetzt sollte nichts einem Menschen schaden können außer ihm selbst. Überhaupt sollte nichts einen Menschen ausrauben können. Was ein Mensch hat, steckt in ihm. Was außerhalb von ihm ist, sollte nicht von Bedeutung sein.
Mit der Abschaffung des Privateigentums werden wir dann den wahren, schönen, gesunden Individualismus bekommen. Niemand wird sein Leben mit der Anhäufung von Dingen und Symbolen für Dinge vergeuden. Man wird leben. Nichts ist seltener auf der Welt als zu leben. Die meisten Menschen existieren, sonst nichts.
Es ist eine Frage, ob wir jenseits der Vorstellungsebene der Kunst je den vollen Ausdruck einer Persönlichkeit gesehen haben. Im Handeln jedenfalls nie. Cäsar war laut Mommsen29 als Mensch vollständig und vollkommen. Doch wie tragisch unsicher war Cäsar! Wo ein Mensch Autorität ausübt, widersteht stets jemand dieser Autorität. Cäsar war sehr vollkommen, doch in dieser Vollkommenheit in zu gefährlichem Gelände unterwegs. Mark Aurel war laut Renan als Mensch vollkommen.30 Ja: Der große Kaiser war ein vollkommener Mensch. Doch wie unerträglich waren die endlosen Ansprüche an ihn! Er wankte unter der Last des Kaiserreichs. Ihm war bewußt, wie unzulänglich ein einzelner Mensch ausgestattet war, um das Gewicht dieses titanischen, zu gewaltigen Weltkreises zu tragen. Ich verstehe unter einem vollkommenen Menschen jemanden, der sich unter vollkommenen Bedingungen entwickelt; jemanden, der nicht verwundet oder besorgt oder verstümmelt oder in Gefahr ist. Die meisten Persönlichkeiten wurden zur Rebellion gezwungen. Eine Hälfte ihrer Stärke ward sinnlos aufgerieben. Byrons Persönlichkeit etwa wurde schrecklich vergeudet in ihrer Schlacht mit der Dummheit, der Heuchelei und dem Philistertum der Engländer. In solchen Schlachten werden Stärken nicht immer hervorgehoben, vielmehr werden Schwächen übertrieben. Byron gelang es nie, uns zu geben, was er hätte geben können. Shelley kam besser davon. Wie Byron verließ er England so bald als möglich. Doch war er nicht so bekannt. Hätten die Engländer nur geahnt, welch großer Dichter er wirklich war, so hätten sie ihn mit Stumpf und Stiel verspeist und ihm das Leben so unerträglich wie möglich gemacht. Doch war er in der Gesellschaft keine nennenswerte Figur, und folglich kam er in gewissem Maße davon. Dennoch ist selbst bei Shelley das Rebellentum mitunter zu stark. Das Merkmal einer vollkommenen Persönlichkeit ist Frieden, nicht Rebellion.
Es wird ein Wunderding sein – des Menschen wahre Persönlichkeit –, sobald wir sie erkennen. Sie wird natürlich und einfach wachsen, einer Blume oder einem Baum gleich. Sie wird nicht im Zwiespalt sein. Sie wird nie argumentieren oder diskutieren. Sie wird keine Dinge beweisen. Sie wird alles wissen. Und dennoch wird sie sich nicht um Wissen kümmern. Sie wird Weisheit haben. Ihr Wert wird nicht an stofflichen Dingen bemessen werden. Sie wird nichts besitzen. Und dennoch wird sie alles besitzen, und was man ihr auch nimmt, sie wird es noch immer besitzen, so reich wird sie sein. Sie wird sich nicht immer bei anderen Leuten einmischen oder sie bitten, wie sie selbst zu sein. Sie wird sie lieben, weil sie anders sind. Und während sie sich ja bei anderen nicht einmischt, wird sie allen helfen, wie ein schönes Ding uns allen hilft, indem es so ist, wie es ist. Sie wird so wunderbar sein wie eines Kindes Persönlichkeit.
In ihrer Entwicklung wird ihr das Christentum helfen, falls die Menschen das wünschen; doch falls die Menschen es nicht wünschen, wird die Persönlichkeit sich genauso gewiß entwickeln. Denn sie wird sich weder um die Vergangenheit sorgen, noch fragen, ob Dinge geschehen sind oder nicht. Weder wird sie andere als die eigenen Gesetze zulassen noch eine andere als die eigene Autorität. Dennoch wird sie jene lieben, die suchten, sie zu stärken, und oftmals von ihnen sprechen. Und Christus war einer von diesen.
Darmowy fragment się skończył.