Süßer Tee

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Süßer Tee
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Nuran Joerißen

SÜSSER TEE

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Danksagung

Süßer Tee

Was noch zu sagen wäre …

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zweite überarbeitete Auflage

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

En güzel söz henüz söylenmemis olandir.

(Aziz Nesin)

Das schönste Wort ist das noch nicht gesagte …

… sagte einst Aziz Nesin und er hat Recht.

Es gibt immer ein Wort mehr, das schöner ist als das gesagte Wort zuvor. Nach dem Erscheinen der ersten Auflage des Buches „Süßer Tee“ bis zur dieser Ausgabe standen wir vielen Ereignissen gegenüber, die mich und meine Kernfamilie bereichert und uns zugleich vor großen Herausforderungen gestellt haben.

Die Entscheidung für eine zweite Ausgabe war keine leichte. Meine Dankbarkeit gegenüber meinem Mann Andreas und meinen beiden Söhnen ist unermesslich groß. Die Herangehensweise an unsere Geschichte, die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Ereignissen hat mir vor Augen gehalten, was für eine Tragweite „Zwangsverheiratung“ nach sich zieht und wie schmerzlich die Verarbeitung für alle Betroffenen ist.

In den letzten Jahren ist mir bewusst geworden, wie viel Kraft, Reflexionsfähigkeit und Mut meine Kernfamilie aufbringen musste bzw. aufgebracht hat, um mit mir diesen Weg – unsere Geschichte zu veröffentlichen – zu gehen.

Ich bin sehr dankbar, dass ich Euch habe!

Darüber hinaus geht mein ganz besonderer Dank an zwei Menschen. Zum einen an Dr. Claudia Kleinert, die sowohl dieses Buch „Süßer Tee“ als auch mein zweites Buch „Das Schweigen im Koffer“ in einer bemerkenswerten Ruhe und Gelassenheit lektoriert hat. Zum anderen geht mein herzlicher Dank an Karl-Heinz Hamacher, der mich schon seit Jahren mit seinen Fotografien begleitet. Was Karl-Heinz Hamacher ausmacht ist, dass er so wertvoll authentisch ist, er eine klare Haltung hat und immer das Wesentliche, was das Leben ausmacht, im Blick behält.

DANKE!

Ich sitze auf unserer vor kurzem in Bangkirai ausgerichteten Gartenterrasse und genieße die Sonnenstrahlen, die mich verwöhnen. Auf dem Tisch steht ein Glas süßen türkischen Tees, aus dem ich genießend schlürfe, und ich lausche der Musik, die aus unserem Haus ertönt. Heute ist mir eher nach richtig türkischer Herz-Schmerz- Musik.

Wir haben vor einiger Zeit hier in diesem Dorf, das wir uns vorher ausgesucht hatten, gebaut und fühlen uns an diesem Ort, vor allem in unseren eigenen vier Wänden, ein Stückchen weit im Leben angekommen. Wir, das sind mein Ehemann Andreas, Dr. Watson, unsere Katze, und ich.

Von außen ist unser Haus eher etwas Unscheinbares, dennoch eröffnet sich mit der Haustür unseres Hauses ein kleines Reich des Orients. Das liegt auch an der Tatsache, dass ich aus der Türkei stamme und mein deutscher Ehemann sich durch sein handwerkliches Geschick in die Kunst des Orients einarbeitet hat und wir gemeinsam in bilateralem Kulturaustausch mit unserem Bau wachsen durften.

Meine beiden Söhne Berkan, der in diesem Jahr ganze 24 Jahre werden soll, und Orkan, der 21 Jahre alt ist, sind bereits ausgezogen und leben sehr selbstständig in ihren eigenen Wohnungen. Berkan hat bereits vor einem Jahr seine Berufsausbildung zum Industriekaufmann beendet und wurde anschließend übernommen. Orkan ist in seiner Berufsausbildung zum Verkäufer, aber will im Anschluss bis zum Abi weitermachen.

Als ich nach kurzer Zeit aufstehe, um mir nochmals Tee einzuschenken, schaue ich mich sehr bewusst um und mir wird klar, dass ich ein richtiger Spießer geworden bin. Der Vorgarten, die Garage und die Terrasse, die in den hinteren Teil des Gartens führt, bezeugen das. Wenn ich mir das überlege, ist es ein gutes Gefühl, ein Spießer zu sein!

Dass ich das einmal sagen würde, hätte ich mir nicht träumen lassen. Ich gehe von der Gartenterrasse durch das Wohnzimmer gerade auf die Kochinsel unseres Hauses zu, wo der Teekessel vor sich hin köchelt, und schenke mir nach.

Das Haus war von Andreas und mir gemeinsam entworfen worden. Wir waren uns sicher, dass sich einiges mit der Zeit einfach so entwickeln würde und es hatte sich entwickelt. Es ist ein Ort der Ruhe geworden. Im Laufe unserer Beziehung hatten wir allerlei Symbole und Kunstgegenstände aus verschiedenen Kulturen gesammelt, die jetzt in diesem Haus ihre Plätze gefunden haben.

In diesem Jahr werde ich 40 Jahre alt. Da ich im August Geburtstag habe und es in diesem Sommer besonders heiß ist, wollen wir das in unserem Spießergarten feiern. Während ich mir die Besucherliste für meinen Geburtstag vornehme und zu meinem Schreck sehe, wie viele Freunde und Bekannte eingeladen werden sollten – Feiern, Essen und Tanzen waren unsere Hobbys und Gründe dafür hatten wir immer - klingelt das Telefon.

Meine Mutter, die in diesem Jahr wieder zurück in die Heimat/​in ihre Heimat gezogen ist, ist am Telefon und wir unterhalten uns eine Zeit.

Sie teilt mir die aktuellsten Nachrichten aus der Straße, in der sie wohnt, der restlichen Familienangehörigen und von Verwandten mit und vor allem von meinem Bruder Ahmet, dessen Ehe vor kurzem in die Brüche gegangen ist.

Nachdem wir uns herzlichst verabschiedet haben, rühre ich noch nachdenklich in meinem Teeglas und versinke in vergangene Zeiten.

Vor der Wohnungstür hörte ich die Stimme meiner Mutter, wie sie mit unserer Nachbarin von nebenan sprach. Es schien etwas Wichtiges zu sein, denn als ich die Wohnungstür aufschloss, hörten sie auf zu reden.

Nachdem ich meine Schultasche im Kinderzimmer, das ich mit meinen zwei Schwestern teilte, abgelegt hatte, ging ich direkt in die Küche. Unser ganzes Leben spielte sich in dieser Küche ab, als sei sie das Zentrum von allem: von Entscheidungen, Glück und Trauer. Ich fühlte mich immer sehr wohl in der Küche. Es ging etwas Besonderes von diesem Ort aus.

Wenn ich vor der Küche stand und geradeaus sah, sah ich durch das Küchenfenster den blauen Himmel, da wir in der vierten Etage eines Mehrfamilienhauses wohnten. An der rechten Wandseite der Küche stand unser Esstisch, immer mit einer geblümten Plastiktischdecke bedeckt. An den beiden Kopfseiten und an der linken Tischseite standen die Stühle angelehnt, die immer sehr unterschiedlich waren. Vor der linken Wandseite unserer Küche war unsere selbst zusammengestellte Küchenzeile, die wie zusammengewürfelt diese Wand bedeckte.

Wir begrüßten uns jedes Mal sehr herzlich. Schon damals empfand ich die Begrüßungen untereinander als etwas Besonderes.

Nachdem ich bei einer Tasse Tee den beiden Frauen eine Zeit lang zugehört hatte - sie redeten über Alltägliches, schien mir -, ging ich in das Kinderzimmer.

An der Türschwelle stehend sah ich mich unwillkürlich im Zimmer um, betrachtete das Etagenbett, worin meine 4 Jahre jüngere Schwester Elke und ich schliefen. Es stand unmittelbar links im Raum, dahinter befand sich noch das Einzelbett meiner 5 Jahre älteren Schwester Nurtel. Gegenüber dem Etagenbett war ein Schreibtisch, an dem wir drei abwechselnd unsere Hausaufgaben machten. Meine Schwester Nurtel besuchte die Hauptschule, Elke die Grundschule und ich die fünfte Klasse der Hauptschule.

Ich war dabei meinen Vater – man nannte ihn auch H., den Koch, weil er in seiner Militärzeit in der Türkei für die Küche und das Kochen zuständig gewesen war - davon zu überzeugen, dass das Gymnasium für mich das Richtige wäre. Das war ein nervenaufreibender Kampf, denn ich konnte mit meinem Vater nicht über Schule und Bildung reden, da er absolut nichts davon hielt. Er meinte, dass man es nur durch körperliche Arbeit zu etwas bringen könne. Körperliche Arbeit war für ihn natürlich die Fabrikarbeit.

Zum Schluss war ich sehr glücklich darüber, als er sagte: „Mach doch, was Du willst. Belki birgün basimiza Professor olursun – Vielleicht wirst du mal ein Prof.“ Er grinste abscheulich dabei. Ich mochte nicht, wenn er so spöttisch mit uns redete. Ich bin mir sicher, dass er schon damals dachte, dass ich nicht ganz dicht wäre. Aber das war mir egal. Es war das erste Mal, dass ich mich durchsetzen konnte. Zu dieser Zeit konnte ich natürlich noch nicht wissen, wie sich alles wenden würde.

Unsere Möbel waren alt und gebraucht. Der Kleiderschrank, der direkt gegenüber unserer Zimmertür stand, war ebenfalls alt. Jedes Mal, wenn wir ihn öffneten, drohte die Tür aus den Angeln zu springen und quietschte dabei.

 

Ich trat in das Zimmer ein und machte die Tür hinter mir zu, setzte mich an den Schreibtisch, um Aufgaben für die Schule zu erledigen.

Einige Minuten später kamen auch schon mein Bruder Bülent und meine beiden Schwestern nach Hause. Die Wohnung war voller Leben.

Wir Kinder harmonierten sehr gut miteinander, auch wenn es öfters Meinungsverschiedenheiten zwischen uns gab. Mit meinem Bruder Bülent verstand ich mich besonders gut. Er war ein Jahr älter als ich und besuchte auch die Hauptschule, wie meine Schwester und ich.

Aus irgendwelchen Gründen, die ich damals nicht verstand, konnte Vater unseren älteren Bruder Ahmet in der gemeinsamen Wohnung nicht mehr dulden. Die Streitigkeiten zwischen den beiden wurden immer heftiger, und es kam zu Handgreiflichkeiten. Einige Jahre später zog er dann zu seiner damaligen Freundin Frauke nach Bielefeld und bereitete sich auf ein Studium vor.

Er kam mehr schlecht als recht durchs Leben und besuchte uns hin und wieder heimlich, da Vater uns den Kontakt zu ihm verboten hatte.

Ich erinnere mich noch, dass mein Bruder und seine Freundin uns wieder einmal heimlich besuchen wollten. Die beiden hatten auf einer Nebenstraße unseres Wohnblocks geparkt und so lange gewartet, bis Vater das Haus verlassen hatte. Einige Minuten später klingelte es zweimal direkt hintereinander an der Haustür. Das war das Zeichen, unser Zeichen! Unser Bruder Ahmet und Frauke waren gekommen und die Freude war groß. Jedes Mal hielt einer von uns Jüngeren Wache am Fenster für den Fall, dass Vater nach Hause käme.

Aber diesmal meinte Mutter, dass er doch gerade erst das Haus verlassen hätte, daher wäre es nicht möglich, dass er so schnell wieder zurückkommen würde. Mutter müsste es ja wissen, dachten wir.

Unser Bruder Ahmet und Frauke hatten uns immer etwas Spannendes zu erzählen. Wir Jüngeren hörten den beiden immer mit großem Interesse zu.

Mir schien, als kämen sie aus einer anderen Welt. Das waren die Momente, in denen ich aus meinem Alltag ausbrechen und mich erholen konnte.

Unsere angeregte Unterhaltung wurde von süß duftendem Gebäck und frischem Tee untermalt. Doch der Schrecken ließ nicht lange auf sich warten. Meine Schwester Nurtel kam schreiend aus der Küche und kündigte an, dass sie Vater ins Haus hatte kommen sehen. Die Panik war groß. Mein Bruder Ahmet und Frauke mussten auf dem Speicher versteckt werden, ansonsten würden sich die beiden Feinde über den Weg laufen.

In der letzten Minute fiel Mutter auf, dass auf dem Tisch zwei Teegläser und Kuchenteller zu viel waren. Schnell packte ich das Geschirr zusammen und rannte in die Küche, vor lauter Aufregung wusste ich nicht mehr, wo ich die Sachen abstellen sollte und wo sie unbemerkt blieben, jeden Moment würde Vater durch die Wohnungstür kommen und mich mit dem Geschirr in der Hand erwischen. Kurzerhand packte ich das Geschirr in den Backofen und raste anschließend ins Wohnzimmer.

Als wir hörten, wie Vater die Wohnungstür öffnete, saßen wir alle wie angewachsen oder gar angekettet auf der Couch und starrten den Fernseher so intensiv an, als würde es uns brennend interessieren, was da gerade lief.

Irgendwie hatte das Ganze einen sehr erdrückenden Beigeschmack. Vater kam mir vor wie die Gestapo, wir trauten uns nicht zu atmen, denn würde er dahinterkommen, dass wir hinter seinem Rücken gegen seine Verbote verstießen, dann würden wir, besonders unsere Mutter, geradezu um Gnade betteln müssen und … - er durfte das noch nicht einmal ahnen.

Allerdings war Vater sehr berechnend und ein guter Beobachter, so dass er unsere Unsicherheit bemerkt hatte, aber nicht zuzuordnen wusste. Davon abgesehen hatte er nur etwas vergessen und war in Eile. Nach einer sehr kurzen Zeit nahm er das Vergessene an sich und schlug die Wohnungstür hinter sich zu.

Ich ging schnell ans Küchenfenster, um mich zu vergewissern, dass er das Gebäude auch tatsächlich verlassen würde. Er trat aber nicht aus der Haustür. Der jüngere Bruder Bülent hatte sich den Türspion vorgenommen und versuchte ihn zu beobachten. Vater stand im Flur und schaute sich um. Bülent und ich guckten uns an. Vor lauter Angst drohten wir zu erstarren. Würde er nochmals kehrtmachen und anfangen uns auszufragen? Ihm gegenüber waren wir schwach und hilflos. Doch er verließ das Gebäude, stieg in seinen Wagen, den ich genau so wenig mochte wie den Besitzer selbst, und fuhr ab. Einer von uns ging zum Speicher und holte die beiden. Wir machten uns Tee und hatten einen schönen Nachmittag.

Wir redeten über nahe vergangene Ereignisse und ich erinnerte mich noch sehr gut an unsere Reisen in die Türkei. Nach einer Zeit lief alles wie ein Film vor meinem inneren Auge ab.

Damals hatten wir einen VW Bus mit seitlichen Fenstern, die mit kleinen bunten Vorhängen behängt waren. Wir fuhren fast jedes Jahr in die Türkei, wie auch in jenem Jahr mit dem VW Bus mit den bunten Gardinen. Übrigens galt es als sehr schick, wenn man einen Bus mit Gardinen hatte.

Jedes Mal wurde der Bus so voll bepackt, dass wir selber kaum Platz für uns hatten. Die gesamte Strecke nach Adana saßen wir eingequetscht zwischen Koffern und Säcken, die zum größten Teil mit Geschenken für die Verwandtschaft vollgestopft waren.

Die Fahrt war anstrengend und aufregend zugleich. Anstrengend, weil Vater anstrengend war und wir seine Allüren, die er während der Fahrt hin und wieder bekam, ausstehen mussten. Aufregend, weil jede Stunde uns unserem Ziel näherbrachte. Weil sogar die Fahrt selbst etwas Geheimnisvolles in sich trug. Wenn wir abends über die Autobahnen, Straßen oder Gassen fuhren, ich die Lichter aus den Häusern schimmern sah, versuchte ich mir in Gedanken all die Menschen vorzustellen, die in ihren Häusern und Wohnungen saßen, vielleicht vor ihren Fernsehern, vielleicht glücklich, vielleicht unglücklich. Ob ich wollte oder nicht, stellte ich mir die Frage, wie viele Frauen wohl von ihren Männern misshandelt werden, und warum wir …

Je näher wir uns dem Süden näherten, desto größer wurde die Freude und unsere Stimmung erreichte den Höhepunkt. Wenn wir dann auf einer Tafel „Adana 500 km“ lesen konnten, dachte keiner mehr im Geringsten daran, in dieser Nacht zu schlafen. Wir sehnten uns nach dieser Tafel mit der weißen Aufschrift auf dem blauen Hintergrund, wo groß „Adana“ draufstand und unterhalb klein gedruckt die Einwohnerzahl, die natürlich nie stimmte.

Die Urlaubstage vergingen wie jedes Jahr viel zu schnell. Die gesamte Urlaubszeit verbrachte ich mit den Kindern auf unserer Straße. Ich habe immer dazugehört – dachte ich – war eines der Kinder, die aus dem Wenigen, was die Straße bot, und mit viel Phantasie Spielsachen bastelten.

In den späteren Jahren bin ich dann doch noch von einem der damaligen Kinder aufgeklärt worden. Eigentlich habe ich nie dazugehört. Für die Kinder dort war es nur exotisch mit jemandem aus dem Ausland zu spielen. Seither wusste ich, dass man uns die „Deutschländer“ oder „Almancilar“ nannte.

Es ist auch illusorisch zu denken, dass man intensive Freundschaften nur für diese Ferienzeit aufbauen kann, ohne dass dies in die Oberflächlichkeit abdriftet, auch wenn ich mir das so sehr gewünscht hätte.

Diese Erfahrung haben nicht nur wir Kinder gemacht, sondern auch unsere Eltern haben immer zu spüren bekommen, dass nichts mehr so war, wie sie es einmal hinterließen. Dennoch werden sie dies nie so richtig wahrhaben wollen. Das bisschen an Hoffnung, dass nicht alles umsonst gewesen war, wie die Trennung von der Heimat, den Eltern, Geschwistern und Verwandten für eine bessere Zukunft, sollten sie sich immer erhalten.

Abgesehen davon, dass ich jetzt in diesem Moment die Sonnenstrahlen, den süßen Tee und meine langen Ferien sehr genieße, quäle ich Schüler und Schülerinnen mit BWL, VWL und anderen super spannenden Themen an unserem Berufskolleg. In diesem Jahr habe ich eine Weiterbildung in der systemischen Familien- und Einzeltherapie abgeschlossen. Das Erlernte kann ich äußerst gut im Schulleben einbringen. Wenn zum Beispiel ein Schüler mit einer geladenen Kanone vor mir steht, frage ich ihn, wie er sich dabei fühlt, wenn er seinen Aggressionen solch einen beeindruckenden Rahmen gibt. Oder wenn sich zwei schlagen wollen, dann messe ich vorher die Zeit ab und sage: „Bitte schlagt Euch jetzt und so, dass es blutet!“ oder ein anderes Beispiel: „Wenn Ihr Euch schlagen wollt, dann geht doch bitte auf die andere Straßenseite, damit ich nicht eingreifen muss, und stellt Euch bitte so hin, dass wir alle sehen können, wie Eure Lösung des Problems dann in Eurem Gesicht geschrieben steht.“ Natürlich übertreibe ich maßlos, ist ja wohl klar.

Während ich immer noch an unserem Kochfeld auf einem der Hocker sitze und gemütlich aus dem Küchenfenster zum Hauseingangsbereich sehe, klopft es an der Scheibe. Ich gehe zum Hauseingang, der durch ein hohes Fachwerk von der Küche getrennt ist, und mache die Tür auf. Es ist unser Nachbar. Er übergibt mir irgendwelches Werkzeug, das er sich zuvor von Andreas ausgeliehen hatte, wieder zurück und entschuldigt sich höflich, dass er so lange dafür gebraucht hat. Auch ich bin ihm gegenüber höflich und antworte: „Das macht doch nichts, das ist ja kein Halsbruch“, irgendwie sieht er mich merkwürdig fragend an. Hatte ich vielleicht wieder einmal etwas durcheinander gebracht wie so oft mit meinen eigens kreierten deutschen Redewendungen wie „das ist doch kalter Kakao“, „es ist alles Rauch und Schlauch“ und vielen anderen?

Jedenfalls nickt der Nachbar sehr herzlich und geht. An der Türschwelle stehend atme ich tief durch und genieße den Augenblick. Ich mag das schöne Wetter nicht nur, nein, ich liebe es und beschließe, mich auf die Stufe vor dem Eingang zu setzen und die Kinder auf der Straße zu beobachten, bevor ich in Gedanken versinke.

„An meiner Technik wird es liegen“, dachte ich und sah dabei die an meinen Füßen eng geschnürten Rollschuhe an, mit denen ich versuchte, wenigstens einige Schritte zu machen. Meine Freundin Gülden konnte das schon sehr gut und wir lachten über meine Tollpatschigkeit.

Nachdem Gülden und ich uns getrennt hatten, traf ich auf dem Heimweg Reiner an. Reiner fand ich sehr nett und ich glaubte, er mich auch. Es war die Zeit, als die Jungs anfingen, interessant zu werden, die Zeit, als ich merkte, dass man auch ganz tolle Dinge mit ihnen unternehmen konnte, außer sich mit ihnen zu schlagen und ihnen das Nasenbein zu zerdeppern, denn von hauchzarter Weiblichkeit war ich sehr weit entfernt. Ich raufte und schlug mich mit Jungs, hatte auch nicht unbedingt - abgesehen von meinen langen Haaren - viel Weibliches an mir.

Nun, Reiner gefiel mir. Er war schon 15 Jahre alt und in einigen Monaten würde er 16 werden. Den ganzen Weg nach Hause versuchte ich mich ununterbrochen mit ihm zu unterhalten. Zwei Straßen vor unserem Häuserblock trennte ich mich von Reiner mit der Ausrede, dass ich noch eine Freundin besuchen wollte.

Ich wollte vermeiden, dass man uns sah. Denn dass es Probleme nach sich zöge, wenn man uns gemeinsam sehen würde, wusste ich. Auch, wenn ich versucht hätte, ihm die Situation zu erklären, hätte er sie nicht verstanden. So beschloss ich, ihm etwas vorzulügen. Ich definierte es als Notlüge.

Ich bog in eine Seitenstraße und wartete bis Reiner nicht mehr zu sehen war, da er nicht weit weg von uns wohnte. Zu Hause angekommen, fragte mich Mutter, wo ich gewesen wäre, und versuchte, mögliche Neuigkeiten herauszuhören. Ihre größte Angst waren die Jungs und dass ich durch sie meine Unschuld verlieren könnte.

Irgendetwas Ungeheures lag in der Luft. Mutter sah sehr nachdenklich und traurig aus. Nach unserer kurzen Unterhaltung ging sie in die Küche und setzte die Teekanne auf den Herd. Ich sah ihr dabei zu und traute mich nicht zu fragen, ob sie etwas bedrückte.

Mit unseren Eltern offen über Sorgen und Probleme zu reden, war schon immer schwierig.

Für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke, während sie auf der Anrichte etwas zu suchen schien und dabei einen Eindruck von Hilflosigkeit hinterließ. Nach einer Weile rief sie meine anderen Geschwister in die Küche. Nun saßen wir alle – Nurtel, Bülent, Elke und ich - beisammen und sahen uns stumm an, bis Mutter die Stille brach.

In einem Satz sagte sie uns, dass uns Vater für immer verlassen würde. Aus unerklärlichen Gründen breitete sich ein Glücksgefühl in mir aus, sodass ich es nicht zuließ, dass der hilflose Klang ihrer Stimme in mein Bewusstsein drang. Dass Vater unserer Mutter nie treu gewesen war und sie regelmäßig schlug, war seit langem kein Geheimnis mehr. Unsere jüngere Schwester bekam nach ihrer Geburt sogar den Namen der damaligen Liebhaberin unseres Vaters, weil er es so haben wollte.

 

Mutter widersetzte sich seinen Wünschen nicht. Sie tat so, als wäre es auch ihr Wunsch gewesen. Denn niemals ließ sie sich die Demütigungen anmerken.

Trotz allem hatte sie versucht, diese Dinge all die Jahre zu verdrängen.

Ich musste mich mit meinem Glücksgefühl zurückhalten, um Mutter dadurch nicht zu kränken. Immerhin war sie diejenige, die verlassen wurde. Im Trösten waren wir alle, wie wir dasaßen, sehr unerfahren und starrten Mutter einfach nur an.

In diesem Moment ging mir ein Ereignis durch den Kopf, dass schon etwas länger zurücklag: Es war mitten in der Nacht, als ich durch mir unerklärliche Geräusche wach wurde, aufstand und den Geräuschen folgte. Sie kamen aus unserem Badezimmer. Als ich durch den offen stehenden Türschlitz sah, was passierte, konnte ich mich nicht mehr bewegen und blieb wie erstarrt stehen.

Die Badewanne war mit Badewasser gefüllt, ich sah die Füße meiner Mutter halb über der Badewanne herausschauen. Sie schlug mit ihren Händen hin und her. Vater hatte seine Hände um ihren Hals geschlungen und drückte ihren Kopf unter das Badewasser. Er bemerkte mich nicht, weil er mit dem Rücken zur Tür stand. Mutter kämpfte um ihr Leben, und ich erstarrte an der Tür, konnte mich nicht bewegen. Ich wollte so laut schreien, dass die ganze Welt mich hören sollte, aber ich glaube, ich atmete noch nicht einmal.

Durch den Krach wurde auch unser ältester Bruder Ahmet wach. Damals wohnte er noch zu Hause. Er war gerade mal 16 Jahre alt. Er schlug gegen die Badezimmertür, packte Vater an der Schulter und versuchte ihn von Mutter loszureißen. Ahmet war gut durchtrainiert und muskulös. Vater war so überrascht, dass er Mutter losließ und anfing sich mit Ahmet zu schlagen. Er beschimpfte ihn auf erbärmliche und primitive Art, aber mein Bruder schlug zurück und bezeichnete ihn als Faschisten.

Keiner hätte es gewagt, Vater jemals zu widersprechen, geschweige denn, sich ihm zu widersetzen. Durch den Krach waren zwischenzeitlich auch meine übrigen Geschwister wach geworden. Wir alle stürmten auf Mutter zu, halfen ihr aus der Badewanne und klammerten uns erbärmlich weinend an sie.

Vater schlug immer noch auf unseren Bruder ein, als wir allesamt versuchten, die beiden auseinander zu bringen. Ich höre immer noch die Schreie meines Bruders, als er rief: „Zwinge mich nicht, dich zu schlagen. Ich bringe dich mit den bloßen Händen um!“

Immerzu waren wir darauf getrimmt worden, Vater Respekt zu erweisen. Er hatte das nie verdient. Mutter und wir fünf Kinder flohen ins Kinderzimmer, schlossen und verriegelten die Tür hinter uns.

Die restliche Nacht konnten wir natürlich kein Auge mehr schließen und warteten bis es hell wurde. Am nächsten Morgen hatte Vater schon sehr früh die Wohnung verlassen. Als ich wieder ins Badezimmer ging, um mir die Zähne zu putzen, sah ich das Schlachtfeld noch genauso vor mir, wie wir es in der Nacht verlassen hatten.

Die Fliesen und der Boden waren blutverschmiert. Das Wasser war noch in der Wanne. Der Spiegel war zerbrochen.

Der Beschützerinstinkt unseres ältesten Bruders wurde ihm letztlich zum Verhängnis. Vater schmiss ihn aus der Wohnung und aus unserem Leben.

In der Anfangszeit schlief unser Bruder Ahmet draußen, weil er keine Bleibe hatte.

Jeden Abend kam er an unser Schlafzimmerfenster und gab uns mit einer alten Taschenlampe Signale, worauf hin wir ihm etwas zu essen, warme Decken und frische Sachen zum Anziehen gaben.

Wenn es draußen sehr kalt wurde, trauten wir uns auch ihn mal durch das Fenster ins Haus zu lassen, wo er sich einige Stunden aufwärmen und satt essen konnte. Bis nach und nach sein Leben Formen annahm.

Seitdem sahen wir uns immerzu heimlich, weil Mutter jedes Mal Angst hatte, verprügelt zu werden. Das alles war für mich Grund genug, jetzt aufzuatmen und vor mich hinzugrinsen. Wir machten uns nur finanzielle Sorgen: Wie würden wir jetzt über die Runden kommen?

Mutter fand kurze Zeit später Arbeit in einer Textilfabrik. Weil Mutter keinen Ärger wollte, stellte sie Vater gegenüber keinerlei Ansprüche. Wir fingen an, unser eigenes Leben zu gestalten. Auch unser eigenes Verantwortungsbewusstsein stieg.

Doch Vater stand nach einigen Monaten wieder auf der Matte und uns wurde deutlich, wie viel Angst wir alle noch vor ihm hatten. Er war und ist ein Tyrann. In gewissen Zeitabständen zeigte er sich und fuhr dann wieder zu seiner Freundin.

Ich weiß gar nicht, wie oft er schon Geliebte hatte. Dieser Mann ekelt mich einfach nur an.

Von Weitem sehe ich, wie Dr. Watson auf das Haus zukommt und sich neben mich auf die Stufe auf seine Hinterpfoten setzt. Quasi auf gleicher Augenhöhe sitzen wir jetzt vor der Haustür und schauen uns an. Dr. Watson ist erst seit einigen Monaten bei uns und ich glaube, er fühlt sich auch ganz wohl hier. Als ich ihn so beobachte, denke ich, dass er denkt „Die Menschen bei denen ich jetzt lebe, gefallen mir gut, denn die sind genauso verrückt und durchgeknallt wie ich.“ Während ich mit diesem Gedankengang noch nicht einmal zu Ende bin, entdecke ich unter seinem langen weißen Schnurrbart so etwas Ähnliches wie ein schelmisches Lächeln. Wir verstehen uns auch ohne Worte.

Als ich jetzt den Kopf zur rechten Seite drehe, sehe ich zwei Kinder hinter einer Hauswand, die etwas vorhaben, was niemand sehen soll. Das regt mein Interesse an und ich beobachte weiter. Oh Gott, ja, die heimliche erste Zigarette wird gerade sehr cool angezündet und sie husten beim Inhalieren des Tabaks.

Ich erinnerte mich an meine erste Zigarette, wir waren damals auch noch Kinder – aus der heutigen Sicht – zumindest.

Es war gerade große Pause. Irgendwie wurde mir schwindelig, als ich das erste Mal an einer Zigarette zog so wie meine zwei Klassenkameradinnen, sitzend oder stehend auf der Toilette der Schule. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, denn keiner sollte sagen können, ich wäre nicht cool genug. Ich tat so, als gehörte das Rauchen mittlerweile zu meinem Alltag.

Die Ereignisse der vergangenen Tage beschäftigten mich zwar noch, aber ich wollte nicht mehr darüber nachdenken oder gar darüber sprechen, noch nicht einmal mit meinen Mitraucher-Freundinnen Barbara, Petra und Maria, auch wenn uns ein problembehaftetes Elternhaus verband. Die Mädels waren mit sich selbst und ihren eigenen Problemen beschäftigt.

Der einzige Mensch, mit dem ich alles teilen konnte, war mein Bruder Bülent.

Er und ich unterhielten uns eigentlich über alles. Wir fühlten uns gegenseitig verstanden. Wir redeten über Jungs und Mädels, über Himmel und Erde und experimentierten gerne heimlich mit Chemikalien. Wir versuchten mit Schießpulver Knaller und Böller zu basteln, brannten aus Reis Schnaps, setzen uns mit anderen Kulturen auseinander, insbesondere mit der asiatischen Kampfkunst, übten Selbstverteidigung mit selbst gebastelten Pappschachteln, Säcken und Chakos. Dass Bülent und ich gemeinsame Interessen verfolgten, konnte Mutter nicht verstehen. Wie es dazu kommen konnte, dass ich mich mit solchen Dingen beschäftigte, war für sie unbegreiflich. Stattdessen hätte sie es eher begrüßt, mich in stickender, strickender oder häkelnder Weise zu sehen.

Nun, ich dachte mir, dass es reichen müsste, wenn sich meine ältere Schwester Nurtel damit beschäftigte. Sie hatte die besten Voraussetzungen dafür, eine hervorragende Hausfrau zu werden. Sie erledigte alle diese Aufgaben mit einer solchen Intensität, dass ich sie manchmal darum beneidete.

Ich hatte diese Interessen absolut nicht. Meine allzu männliche Ausstrahlung brachte Mutter an den Rand der Verzweiflung. Wenn ich jetzt zurückblicke, denke ich, dass ich immer schon etwas anders war als meine Geschwister.

Am liebsten saß ich auf einer Parkbank und beobachtete Menschen, achtete auf ihre Gestik, ihre Mimik und überlegte, ob sie glücklich, unglücklich, erfolgreich oder erfolglos waren, ob sie Schleimer oder Menschen mit Courage und Rückgrat waren.

Mich interessierte, wie Menschen lebten, wie der Alltag dieser Menschen war, wo sie wohnten, wie sie wohnten und mit welchen anderen Menschen sie zusammen wohnten. Ich versuchte, jeden Augenblick so intensiv wie möglich zu erleben und wahrzunehmen.

Wie jetzt in diesem Augenblick auch. Es ist schön, hier auf der Stufe neben unserer Katze zu sitzen und bis ans Ende der Straße zu sehen, der Straße, die direkt zu unserem Haus führt. Ich atme tief durch und erinnere mich weiter.